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JAGEN, SAMMELN,
WIEDERFINDEN
Wer viel sammelt, muss viel ordnen. Das geht nicht nur
Bibliothekaren so, sondern auch privaten Sammlern. Ein Essay
von Max Dax über seine Suche nach der Musik Bob Dylans –
und den Problemen ihrer Archivierung.
ILLUSTRATION: NIKITA PIAUTSOU-REHFELDT
Der Schweizer Kurator und Kunsthistoriker Hans Ulrich Ob-
rist macht sich viele Gedanken darüber, wie wir die Bedeu-
tung zukünftiger Archive heute einzuschätzen haben – und
wie wir die Strukturen dieser Archive heute bestimmen und
prägen können. Sein eigenes Archiv umfasst Interviews und
Konversationen mit hunderten von Künstlern, Architekten
und Kuratoren; die meisten von ihnen haben eine Länge von
einer Stunde, mit einzelnen Gesprächspartnern wie etwa mit
den Architekten Rem Koolhaas oder Cedric Price sprach
er gar länger als zwanzig Stunden. Derzeit arbeitet Obrist
zusammen mit dem Institute of the 21st Century und der
Universität Karlsruhe an einem komplexen Tagging-System,
um alle Namen und behandelten Themen zu verschlagwor-
ten – auch zwischen Interviews unterschiedlicher Gesprächs-
partner. Obrist, der Jäger und Sammler von Gesprächen,
behauptet: Unser Leseverhalten wird sich angesichts des neuen,
auf der Intuition des Lesers basierenden Gesprächs-Samplings
radikal verändern.
Ich bin Jäger und Sammler der Musik Bob Dylans. Die Ge-
danken, die sich Obrist über die Rezipierbarkeit und über
das potenzielle Eintauchen in Textberge von kaum noch
überschaubaren Dimensionen macht, erlebe ich ganz real,
wenn ich mir erlaube einzutauchen in die Musik und den
Kontext der Musik Dylans. Der am 24. Mai 1941 geborene
Sänger, Gitarrist und Harmonikaspieler, Maler, Regisseur und
Verfasser einer vielbeachteten Autobiografe blickt heute,
mit 70 Jahren, auf einen Werkkörper zurück, der an Diver-
sität und Komplexität, vor allem aber auch rein quantitativ
betrachtet, ein singuläres Phänomen in der Popkultur darstellt.
Das gilt vor allem, wenn man Dylans Konzerthistorie mit in
die Gleichung einbezieht. Es heißt, dass es Tonaufnahmen
von so gut wie allen Konzerten gibt, die Bob Dylan in seinem
Leben gegeben hat. Einzig ein sonderbares Konzert, das er
am 25. Juli 1985 in Moskau gegeben haben soll, gilt als nicht
dokumentiert.
Insgesamt kommt Bob Dylan seit seinem Konzertdebüt 1961
in New York auf weit über 3.000 Liveauftritte; es gibt um-
triebige und leise Jahrgänge, künstlerische Triumphe und
katastrophale Missverständnisse. Vor allem aber gilt für Bob
Dylan, den Performer von Bühnenauftritten, dass er nie das
Risiko scheute. Der Sänger und Bandleader ist notorisch
davon besessen, seine Songs stets ein bisschen (oder gerne
auch: komplett) anders als am Abend zuvor zu spielen – und
das oft zum Leidwesen seiner Band, die diese Songs in einem
anderen Arrangement, einer anderen Tonart oder gar mit
neuer Instrumentierung stets neu einstudieren muss. Und
g

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