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Der gleiche Name, immer und immer wieder. Über einige Re-
galmeter stapeln sich in den Magazinsälen mehr als 100 Archiv-
boxen, die allesamt mit „Ernst Loewy“ gekennzeichnet sind.
In ihnen fnden sich Spuren eines Lebens, das 1920 in Krefeld
begann. Zeugnisse von 1935, die dem jungen Schüler in „Leibes-
übungen“ ein ‚mangelhaft‘ und in „Hebräisch lesen“ ein ‚sehr
gut‘ attestieren, die Broschüre einer Dampferlinie nach Palästi-
na, Fotos, die den 16-Jährigen auf der Überfahrt von Triest nach
Haifa zeigen, ein Einwanderungszertifkat, Briefe an die Eltern
in Deutschland, ein Dienstausweis der israelischen Armee, ein
Exemplar einer 1945 in Tel Aviv erschienenen Exil-Zeitschrift
mit einem Beitrag Loewys über den „Sowjetflm“, eine Heirats-
urkunde aus dem gleichen Jahr, ein Studienbuch aus Frankfurt
am Main von 1960 bis 1963, die Urkunde einer Ehrendoktor-
würde der Universität Osnabrück. Alles in allem mehrere Tau-
send Seiten Papier, die ein deutsches Schicksal bezeugen.
Der Nachlass Ernst Loewys gehört zu dem Bestand des Deut-
schen Exilarchivs 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek.
Hier kümmert man sich um die Erinnerung an Menschen, die
in jenen Jahren Deutschland in alle Himmelsrichtungen verlas-
sen haben – um ihr Leben zu retten, wieder unbehelligt arbeiten
zu können, anderswo Sicherheit, Freiheit, Glück zu fnden. Viele
waren Juden, viele auch nicht. Es waren Künstler und Intellek-
tuelle, Wissenschaftler und Beamte, Angestellte und Arbeiter,
Männer, Frauen und kleine Kinder, die die Welt nicht mehr
verstanden. Schätzungen zufolge sind seinerzeit rund 500.000
Menschen aufgebrochen, manche frühzeitig und gut geplant,
andere auf den letzten Drücker und in größter Not. Ihre Schick-
sale zu rekonstruieren, zu bewahren und einsichtig zu machen
– das ist die Aufgabe des Archivs.
Begonnen wurde die Sammlung von Dokumenten aus dem
Exil bereits kurz nach der Nazi-Zeit. 1948 beschlossen exilier-
te Schriftsteller und Publizisten, unterstützt von dem Direktor
der damaligen noch jungen Deutschen Bibliothek in Frankfurt
am Main, Hanns W. Eppelsheimer, an dessen Einrichtung eine
„Bibliothek der Emigrationsliteratur“ aufzubauen. Die heutige
Leiterin des Archivs, Dr. Sylvia Asmus, betont: „Es war prägend
für die Entwicklung der Sammlung, dass der Impuls maßgeblich
von Emigranten selbst stammte.“ Beschränkte sich die Samm-
lung anfangs auf literarische Werke, erweiterte sich der Fokus
im Laufe der Jahrzehnte: Mehr und mehr wurden sämtliche Pu-
blikationen der Emigranten archiviert, etwa auch wissenschaft-
liche Arbeiten. Seit den 1970er-Jahren gelten auch ungedruckte
Zeugnisse von Exilorganisationen wie Manuskripte und Doku-
mente als archivierungswürdig. In den 1980er-Jahren kam ein
weiterer Bereich hinzu: Seitdem interessiert sich das Archiv auch
für persönliche Nachlässe mit Lebensdokumenten wie Briefen,
Adress- und Tagebüchern oder Fotografen. Selbst einige Kofer
gehören zum Bestand.
Parallel wurde die Frankfurter Sammlung auf stabile insti-
tutionelle Füße gestellt. Bahnbrechend war die Ausstellung
„Exil-Literatur 1933-1945“ im Jahr 1965, mit der sie erstmals
GESTRANDETE
ERINNERUNGEN
Von 1933 bis 1945 sind hunderttausende Menschen aus Deutsch-
land gefohen. Das Deutsche Exilarchiv trägt Spuren dieser Lebens-
wege zusammen, bewahrt sie und macht sie zugänglich – bald
auch in einer Ausstellung und in einem Netzwerk „Künste im Exil“.
TEXT: CHRISTIAN SÄLZER FOTO: STEPHAN JOCKEL
im größeren Rahmen an die Öfentlichkeit trat – eine Art
Startschuss für eine intensive Exilforschung. 1969 schuf das
Gesetz über die Deutsche Bibliothek die Voraussetzungen für
den Ausbau der Sondersammlung zum heutigen Exilarchiv.
Bestätigt und aktualisiert wurde dieser Status 2006 durch das
Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek. Diesem zufolge
ist die Sammlung und Erschließung der gedruckten und un-
gedruckten Zeugnisse der deutschsprachigen Emigration und
des Exils der Jahre 1933 bis 1945 feste Aufgabe des Hauses.
Diese erfüllt sie in zwei Sammlungen: der Sammlung Exil-Lite-
ratur in Leipzig und eben dem Deutschen Exilarchiv in Frank-
furt am Main. Während die Geschichte die Menschen einst
von Deutschland fortgetrieben hat und irgendwo auf der Welt
stranden ließ, kümmert sich das Archiv darum, die verstreuten
Erinnerungen einzusammeln und ihnen einen Ort zu geben.
Bücher, Briefe, Personalakten:
Zeugnisse der Vergangenheit
Der Weg zu dem Archiv führt von der zentralen Ausleihe über
eine Freitreppe hinab ins Sockelgeschoss. Der Eingang liegt
etwas versteckt hinter dem Multimedialesesaal. Hier sind die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit beschäftigt, die Samm-
lung zu erweitern und Dokumente bibliografsch zu erschlie-
ßen. In einem zu dem Archiv gehörigen Lesesaal können die
Nutzerinnen und Nutzer, die aus aller Welt kommen, Einblicke
in die Zeugnisse der Vergangenheit nehmen. Auf der anderen
Seite des Flures verbergen sich hinter mächtigen Stahltüren
zwei Magazinräume. Die Regale sind bis zur Decke prall ge-
füllt. „Laut der ursprünglichen Gebäudeplanung sollten diese
beiden Räume ausreichend sein“, erzählt Asmus. Das sind sie
schon lange nicht mehr, weswegen große Teile des Bestandes in
den Magazinsälen in den Untergeschossen aufbewahrt werden.
Ingesamt hat das Deutsche Exilarchiv inzwischen mehr als
350.000 Einheiten erschlossen, archiviert ist eine ungleich
höhere Anzahl: Auf der einen Seite Exilpublikationen, also
Bücher und Broschüren, die von Emigranten verfasst wurden
oder an denen sie mitgearbeitet haben, Produktionen von
Exilverlagen, Tarnschriften, Flugblätter, Exilzeitungen und
-zeitschriften sowie jüdische Periodika. Da letztere für die
Forschung besonders interessant sind, wurden Teile innerhalb
der Projekte „Exilpresse digital“ und „Jüdische Periodika“
digitalisiert. Auf der anderen Seite umfasst der Bestand so-
genannte Archivalien. Hierzu zählen Archive – etwa von der
Deutschen Akademie im Exil und dem Deutschen PEN-Club
im Exil –, unveröfentlichte Niederschriften wie Manuskrip-
te, Dokumente, Briefe, Fahrkarten, Rechnungen und Fotos.
Insgesamt sind mehr als 270 Bestände zusammengetragen.
Letztlich interessiert sich das Archiv für alle schriftlichen Hin-
terlassenschaften der damaligen Emigranten, die Einblicke in
die Erfahrung des Exils vermitteln. „In diesem Zuschnitt ist
unsere Sammlung sicherlich einzigartig“, betont Asmus. Da
sind wissenschaftliche Arbeiten, die Sigmund Freud und
g

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