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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 5, 98

Die Pommersche Landesbibliothek in Szczecin/Stettin

Eine Bibliothek, die für alle Ideen und Initiativen offen ist

Wladyslaw Michnal

Wandlungen des gesellschaftlichen Lebens in Polen und im polnischen Bibliothekswesen

Nach 1989 waren Politik, Wirtschaft, Kultur und die gesamte Gesellschaft in Polen radikalen Änderungen unterworfen. Dieser Prozeß dauert noch immer an und prägt das GesamtbiId des gesellschaftlichen Lebens. Die Verfassungsänderung hat eine große Offenheit der polnischen Gesellschaft gegenüber internationalen Kontakten und europäischen Integrationsbestrebungen bewirkt.

Die wirtschaftlichen Umgestaltungen führten zu einer Dominanz der freien Marktwirtschaft und zu einer intensiven Entwicklung der Dienstleistungs- und teilweise der Produktionsbereiche. Eine große Anzahl privater Wirtschaftsunternehmen entstand.

Die Veränderungen im gesellschaftlich-kulturellen Bereich lassen sich sowohl am Funktionieren der Bildungs- und Kultureinrichtungen ablesen als auch am individuellen Verhalten der einzelnen. Seit der Aufhebung der Zensur im Jahre 1990 und der Durchführung freier Wahlen konnte sich in Polen eine offene Kultur entwickeln.

In diesem Zusammenhang stehen auch die vielfältigen Änderungen des polnischen Bibliothekswesens. Sie betreffen Formen der Verwaltung, Bedingungen der Finanzierung, Festlegung der sachlichen und gesellschaftlichen Ziele und den Stellenwert des Buches und des Bibliothekswesens in der Kulturpolitik des Staates1).

Diese Änderungen wirken sich einerseits günstig aus für das Bibliothekswesen und die Verbreitung von Wissenschaft und Kultur, andererseits aber auch ungünstig, besonders im Hinblick auf die ökonomischen Bedingungen von Bibliotheken in ländlichen Gebieten. Die Übertragung der Selbstverwaltung an die rund 2.500 öffentlichen und Schulbibliotheken (außer Woiwodschafts-Bibliotheken) brachte sehr unterschiedliche materielle Bedingungen für diese Bibliotheken mit sich. Das landesweite Bibliotheksnetz wurde dünner, der Bestandsaufbau ist erschwert. Auch die Kontakte und Bindungen zwischen den Bibliotheken wurden geschwächt.

Dennoch darf die positive Seite dieser Veränderungen nicht zu gering geschätzt werden: die Aufhebung der Zensur, die Privatisierung des Verlagswesens, die Entstehung eines Buchmarktes, der Einzug elektronischer Information und Kommunikation und der neuen Medien förderten auch die Modernisierung der Bibliotheken und ihrer Einstellung zum gesellschaftlichen Umfeld. Die Bibliotheken öffneten sich mehr den Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaften, die bibliothekarischen Angebote wurden reichhaltiger und moderner, Computer zogen in die Bibliotheken ein, mit neuen Angeboten wurde auf Benutzerwünsche reagiert; die stärkere Kundenorientierung führte zu Änderungen im Bestandsprofil. Es ist eine steigende Nachfrage nach bibliothekarischen Leistungen seitens sozial schwacher Gesellschaftsgruppen zu beobachten, die sich den Kauf von Büchern nicht leisten können. Außerdem arbeiten die polnischen Bibliotheken immer breiter mit ausländischen Bibliotheken, vornehmlich aus Westeuropa zusammen, um Erfahrungen zu sammeln und Sammlungen und Informationen auszutauschen.

Die moderne polnische Öffentliche Bibliothek versteht sich als eine lokale Kulturinstitution, die Informations- und Bildungsarbeit für Schüler und Erwachsene zu leisten und Dienstleistungen für lokale Unternehmen und Behörden zu erbringen hat. Um diese Aufgabe richtig zu erfüllen, ist es notwendig, ein Netzwerk von organisatorischen und funktionellen Verbindungen zu schaffen.

Am 27. Juni 1997 faßte das Polnische Parlament (der Sejm) einen neuen Beschluß über Bibliotheken. Wir hoffen, daß der neue rechtliche Rahmen die Rolle der Bibliotheken für Kultur, Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft besser absichert.

Neues Leistungsprofil der Pommerschen Landesbibliothek in Stettin

Die Pommersche Landesbibliothek ist eine wissenschaftliche und Öffentliche Bibliothek. Sie besitzt reiche Sammlungen: rund 760.000 Bücher, 143.000 Zeitschriften und 380.000 Bände in Spezialsammlungen. Darunter befinden sich wertvolle Museumssammlungen wie rund 30.000 alte Drucke. Jährlich leihen rund 32.000 Leser Bücher nach Hause aus, in den Lesesälen werden 435.000 Bücher und Zeitschriften zugänglich gemacht sowie 90.000 Einheiten aus den Sondersammlungen. Sie ist die Hauptbibliothek der Stettiner Woiwodschaft und erfüllt die Funktion einer zentralen Pommerschen Bibliothek für sieben Woiwodschaften.

Unter dem Begriff einer "offenen Bibliothek", mit dem wir unsere Institution bezeichnen, verstehen wir eine Bibliothek, die ihre Tätigkeit an neue, sich schnell ändernde gesellschaftliche Bedürfnisse anpaßt. Mit Marketingaktivitäten versuchen wir diese zu erkennen und zu befriedigen, und gewinnen auf diese Weise geselIschaftliche Anerkennung2).

Dabei nutzen wir die Erfahrungen ausländischer Bibliotheken. Diesem Ziel diente das in Szczecin/Stettin im Jahre 1991 organisierte internationale Symposium zum Thema "Bibliothek in einer lokalen Gemeinschaft", an dem Bibliothekare aus elf Ländern teilnahmen. Das aus dieser Konferenz gewonnene Wissen erlaubte uns eine neue Strategie für unsere Arbeit, die weiter zu präzisieren ist. Ihr ging eine Ermittlung der wichtigsten gesellschaftlichen Bedürfnisse voran. Sie betreffen:

  1. die außerordentlich dynamische Entwicklung des (staatlichen und privaten) Hochschulwesens mit schnell steigender Studentenzahl, besonders im Fernstudium,
  2. die schnelle Entwicklung des privaten Wirtschaftssektors des sog. "small business",
  3. eine Belebung der kulturellen Aktivität und eine zunehmende Nachfrage nach Wissen über die Nachbarländer im Zusammenhang mit der Entwicklung der internationalen Kontakte, hauptsächlich mit Deutschland.
Diese Voraussetzungen berücksichtigend, konzentriert sich unsere Bibliothek auf folgende Aufgabenschwerpunkte:

1. Unterstützung des Bildungssystems

Die größte Benutzergruppe unserer Bibliothek bilden Studenten und wissenschaftliche Mitarbeiter (rund 16.000 Personen) sowie die Jugend der Mittelschulen (rund 4.000 Personen). Für diese Gruppen wurden spezielle Lesesäle eingerichtet und nötige in- und ausländische Literatur beschafft. Bei Auswahl und Kauf von ausländischen Büchern und Zeitschriften arbeiten wir mit der wissenschaftlichen Buchhandlung Lange und Springer in Berlin zusammen. Wir erwerben auch viele wertvolle Publikationen auf dem Tauschwege. Ferner ist zu erwähnen, daß die Pommersche Landesbibliothek seit 1969 aus dem ganzen Land Pflichtexemplare erhält, was den Lesern sehr zugutekommt.

Um die Informationen über unsere Sammlungen zu optimieren, geben wir eine Regionalbibliographie heraus und erteilen Auskünfte über wissenschaftliche Einrichtungen in Stettin, über soziale Angelegenheiten, über ausländische Zeitschriften in wissenschaftlichen Bibliotheken in Stettin, über Datenbanken in Bibliotheken auf CD-ROM u. ä. Die Kontakte mit dem Deutschen Bibliotheksinstitut (DBI) in Berlin ermöglichen unseren Mitarbeitern die Teilnahme an ausländischen Konferenzen, die dieses Institut organisiert. Dadurch können wir uns mit neuesten Arbeitsmethoden besonders innovativer Bibliotheken vertraut machen. Auch unsererseits sind wir bestrebt, unsere Errungenschaften zu präsentieren und sie mit ausländischen Kollegen zu diskutieren.

2. Business-Information

Dies ist eine neue Herausforderung für unsere Bibliothek, hier nutzen wir auch ausländische Erfahrungen. Die Vorschläge aus dem internationalen Symposium 1994 in Szczecin/Stettin zum Thema "Business-Information in der Bibliothek" waren eine große Hilfe. Dank der Unterstützung der Bibliothekare aus der Grafschaft Dorset in England organisierten wir ein modernes Zentrum für wirtschaftliche Information. Es verfügt über einen Satz der Polnischen Normen, Firmenliteratur, Fachzeitschriften und elektronische Datenbanken. Die baldige Aufnahme Polens in die Europäische Union verursachte eine stark zunehmende Nachfrage nach Informationen über die dort geltenden rechtlichen Regelungen. Das hat uns im Jahre 1996 zur Eröffnung eines Lesesaales für juristische Literatur veranlaßt, der immer mehr Benutzer gewinnt.

3. Förderung des kulturellen Lebens, Kunstförderung

Die Leseförderung in allen Gesellschaftskreisen ist eine universale Aufgabe jeder humanistischen Bibliothek. Wir nehmen an, daß das Lesen wertvoller Literatur weiterhin eine wichtige Form der TeiInahme an Kultur ist. Diese Grundform der Tätigkeit ergänzen wir mit neuen Angeboten. Diese sind:

Pinakothek: eine Bibliotheksausleihe originaler Kunstwerke (Gemälde, Graphik). Auf diese Weise entstehen in privaten Häusern befristet Hunderte von kleinen Galerien.

Pommersches Zentrum der Kunst: in einem restaurierten, altertümlichen Palais im Besitz unserer Bibliothek. In den letzten drei Jahren wurden in Zusammenarbeit mit Kunstvereinen sechs internationale und regionale Pleineirs organisiert, an denen Maler, Bildhauer und Volkskünstler teilnahmen. Die Nachlese dieser Pleineirs ist eine wertvolle Galerie der modernen Kunst.

Literaturförderung: Wir unterstützen regionale und nationale Schriftsteller durch den Druck ihrer Werke (hauptsächlich bibliophile Ausgaben von Lyrikbänden), Autorentreffen mit Lesern und Vorstellung neuer Werke. Das trägt Früchte durch das Gewinnen kostbarer literarischer Nachlässe.

4. Verbreitung von Wissen über Deutschland und Skandinavien als unsere nächsten Nachbarn

Die sich rasch entwickelnden internationalen Kontakte auf wirtschaftlichem, geschäftlichem, touristischem und kulturellem Gebiet sowie die lebhaften Beziehungen zwischen den Regionen im Grenzgebiet Polens und Deutschlands bewirkten, daß in den neunziger Jahren die Nachfrage nach Literatur und Informationen über Deutschland erheblich stieg. Die Bildung der Euroregion "Pomeraniat", zu der neben dem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bald der Süden Schwedens hinzukommen wird, faßt die regionale, an der Grenze liegende Zusammenarbeit in einen bestimmten Organisationsrahmen. Mit der Realisierung dieser Funktion wurde bereits begonnen:

Zusammenfassend sei unterstrichen, daß die hier erwähnten wichtigsten und durch unsere Bibliothek geschaffenen Unternehmungen von den Behörden, der gesellschaftlichen Umgebung und den Medien unterstützt werden und das Image unserer Institution aufgewertet haben. Der Ausbau des Bibliotheksgebäudes, der bis zum Jahre 2000 vorgesehen ist, ermöglicht die Realisierung noch vieler Initiativen, die wie bisher für die Befriedigung der sich permanent ändernden gesellschaftlichen Bedürfnisse unternommen werden. Wie wir uns nachzuweisen bemühten, sind wir eine für die internationale Zusammenarbeit sowie für konkrete Bedürfnisse unserer Benutzer offene Bibliothek. Die Pommersche Landesbibliothek als eine große wissenschaftliche Bibliothek mit verbreitertem Tätigkeitsprofil ist eine der wichtigsten Bibliotheken im polnisch-deutschen Grenzgebiet.

1) Stanislaw Czajka: Czy potrzebne jest SBP?, Bibliotekarz 1997 nr5 s.4

2) Magdalena Sliwka: Marketing w Ksiaznicy PomorsKiej w Szczecinie jako sposób myslenia i system dzialania. Bibliotekarz 1996 nr 6 s. 8-10.


Stand: 13.05.98
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