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Bibliotheksdienst Heft 4, 1996

Ausleihanalysen als Instrument der Bestandsevaluierung

4. Nachfrageorientierte Bestandslenkung: Zentrale Lehrbuchsammlung der FU Berlin

Juri Kende

Allgemeine Angaben

Die Lehrbuchsammlung (LBS) der Universitätsbibliothek ist die Zentrale Lehrbuchsammlung des zweischichtigen Bibliothekssystems der FU Berlin für 58.160 Studierende (SS 1994). Der Bestand in der UB (ohne die Sonderstandorte für klinische Literatur in den Klinika) betrug am Jahresende 1994 bei knapp 3.900 Titeln rd. 44.000 Bände. An Erwerbungsmitteln wurden im Durchschnitt der letzten zehn Jahre (1985-1994) mit Sondermitteln insgesamt rd. DM 450.000,- jährlich für die LBS ausgegeben; hiervon rd. 10 % für die klinische Literatur der Sonderstandorte. 1994 betrug der Anteil der LBS-Ausgaben am Gesamtetat der UB rd. 15 %. Damit gab die UB in der LBS 1994 rd. DM 9,- pro Studierenden aus.

Die Bestandslenkung

Seit 1974 wird die Ausleihe in der LBS mit Hilfe eines EDV-gestützten Ausleihsystems abgewickelt. Fast ebenso alt ist die EDV-gestützte Bestandslenkung, die immer weiter perfektioniert wurde und die, wie wir meinen, zu einem recht brauchbaren Steuerungsinstrument geworden ist. Mit Hilfe dieses Steuerungsinstruments hat die LBS eine der Spitzenpositionen unter den deutschen Lehrbuchsammlungen erreicht. Die durchschnittliche Ausleihfrequenz liegt bei dem Bestand der LBS am Standort UB seit Jahren bei über 7 Ausleihen pro Jahr; d. h. jedes Exemplar ist im Durchschnitt mehr als 7 Monate im Jahr im Gebrauch - oder anders betrachtet: in der Vorlesungszeit sind oft mehr als 85 % des Gesamtbestandes der LBS ausgeliehen.

Die EDV-gestützte Bestandslenkung wird nur für den Bestand der LBS in der UB durchgeführt. Die Sonderstandorte führen ihre Bestandslenkung im von der UB vorgegebenen Finanzrahmen autonom durch.

1. Neue Titel

Neue Titel werden für die LBS fast ausschließlich1) auf Wunsch von Dozenten oder Studierenden in einer geringen Anzahl, nämlich 3 - 5 Exemplare, angeschafft und müssen sich im laufenden Betrieb für den Verbleib in der LBS erst "qualifizieren".

2. Bestandspflege

Die Bestandsergänzung wird zum kleineren Teil "spontan" das ganze Jahr hindurch durchgeführt. Eine gezielte Bestandslenkung auf empirischer Grundlage wird einmal jährlich durchgeführt. Die Basis hierfür bildet die Ausleihfrequenzliste. Diese wird immer zu Beginn der Sommersemesterferien ausgedruckt, so daß die Ausleihfrequenzen über zwei volle Semester, d. h. ein ganzes Jahr aussagen. Die Frequenzliste hat folgenden Aufbau2) :

KurztitelSignaturBandAuflageEx.anzahlAnzahl d.
Ausleihen
Total-
ausleihe
90 % -
Ausleihe
Ausleihe/
Exemplar
Ansch.
Datum
Wessels,6/71102/31116156535454,31992
J.: 6/71102/311171515410817410,31993
Straf-6/71102/31118252825513411,31994
recht6/71102/31216151441071779,61993
usw.

Bei jedem Titel wird per Autopsie und anhand der Frequenzliste des laufenden und der vorangegangenen zwei Jahre geprüft, ob weitere Exemplare gekauft werden sollen und ob ggf. einige Exemplare oder ganze Auflagen auszusondern sind. Die früheren Frequenzlisten sind deshalb erforderlich, um Veranstaltungen zu berücksichtigen, die z. B. nur alle zwei Jahre angeboten werden.

Der erste Blick fällt natürlich auf die Ausleihfrequenz (Spalte 9). Dabei ist die Ausleihfrequenz differenziert zu betrachten. Zum einen ist sie fächerspezifisch: Frequenzen von 10 und höher sind typisch für die Fachgruppen Jura, Medizin, aber auch Natur- und Wirtschaftswissenschaften; bei Geistes- und Sozialwissenschaften werden Frequenzen von 6 Ausleihen pro Jahr als ein relativ hoher Wert angesehen. Dies liegt u. a. daran, daß in den erstgenannten Fächern der Kanon der Pflichtlektüre ausgeprägter ist, und daß es sich um Massenfächer handelt, bei denen die Nachfrage a priori größer ist. Aber auch andere Faktoren können hier eine Rolle spielen (z. B. Entfernung und Ausstattung der Fachbibliotheken). Will man also nicht, daß die LBS nur aus juristischer Literatur besteht, muß man auch geringere Ausleihfrequenzen in Kauf nehmen.

Die Ausleihfrequenz zeigt meistens deutlich, welche Auflagen nur in Zeiten höchster Not, d. h. wenn alle neueren Auflagen ausgeliehen sind, von den Studierenden benutzt werden. Dabei lohnt sich trotzdem ein Blick in das Vorwort - manchmal werden auch Nachdrucke, die vielleicht ein verändertes Aussehen haben, doppelt so stark ausgeliehen wie die Vorauflagen. Hier ist dann die Gesamtausleihfrequenz zu betrachten und auf eine Exemplaraufstockung ggf. zu verzichten. (Der Blick ins Vorwort und in das Inhaltsverzeichnis ist auch deshalb wichtig, weil viele Fachgebiete eine rasante Entwicklung erleben oder juristische Texte durch Gesetzesänderungen obsolet werden, so daß trotz hoher Ausleihfrequenzen eine oder gar mehrere Auflagen eines Titels aus wissenschaftlicher Sicht auszusondern sind.)

Wichtig für eine korrekte Deutung der Ausleihfrequenz sind insbesondere bei der Entscheidung über Aussonderung von Exemplaren oder Titeln auch die Spalten 7 und 8. Die Totalausleihe gibt an, an wieviel Tagen im betrachteten Zeitraum kein einziges Exemplar im Regal stand, 90%-Ausleihe dann die Anzahl der Tage, an denen mehr als 90% des Bestandes ausgeliehen waren (bei sehr großen Exemplarzahlen kommt es nicht so oft vor, daß nicht mindestens 1 Buch im Regal steht).

Eine mittlere Ausleihfrequenz mit einer hohen Anzahl von Totalausleihen ist beispielsweise typisch für Veranstaltungen, die nur im Winter- bzw. nur im Sommersemester stattfinden. Es wäre falsch, solche Titel auszusondern; im Gegenteil, ist die Anzahl der Totalausleihen sehr hoch, müssen sogar Exemplare aufgestockt werden. Hohe Ausleihfrequenz bei geringer Totalausleihe bedeutet wiederum, daß der Titel zwar sehr stark nachgefragt wird, die Anzahl der Exemplare aber ausreichend ist. Eindeutige Kriterien für eine Exemplaraufstockung sind eine hohe Ausleihfrequenz und eine große Anzahl von Totalausleihen.3)

Bei der Bestandslenkung werden auf der Frequenzliste die Exemplaraufstockungen und -aussonderungen notiert (bei vielgefragten Titeln mit einem älteren Anschaffungsjahr - Hinweis durch Spalte 10 - wird die Erwerbungsabteilung gebeten, beim Verlag nach einer Neuauflage zu fragen, von der die LBS vielleicht nicht erfahren hat). Anschließend werden während der etwas ruhigeren Zeit der Sommerferien die benötigten Exemplare bestellt und entsprechende Exemplare ausgesondert, d.h. aus dem Bestand herausgenommen und aus dem Ausleihsystem gelöscht. Zu Beginn des Wintersemesters ist der Bestand der LBS in der Regel dann bereits bereinigt und um neue Exemplare ergänzt.

1) Eine Ausnahme bilden einige Titel, die aufgrund der Auswertung von dauerhaft mehrfach vorgemerkten Büchern im Magazinbestand der UB in die LBS eingestellt worden sind.

2) Der band- und auflagenbezogene Aufbau der Frequenzliste wird dadurch erleichtert, daß die Signatur der LBS-Exemplare die Band- und die Auflagenbezeichnung enthält. Die vollständige Grundsignatur (ohne Exemplarzählung) des obigen Beispiels (1. Zeile) lautet: 781/06/71102/31-1"16.

3) Bei Titeln mit einer überschaubaren Auflagenhäufigkeit ist bei der Erwerbungsentscheidung allerdings auch der voraussichtliche Zeitpunkt der Neuauflage zu beachten.


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