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Bibliotheksdienst Heft 4, 1996

Ausleihanalysen als Instrument der Bestandsevaluierung

1. Erfolgssicherung beim Bestandsaufbau

Rolf Griebel

Die Expertengruppe Bestandsentwicklung in wissenschaftlichen Bibliotheken (I) hat im Herbst 1994 auf der Grundlage einer umfassenden Erhebung eine Untersuchung zum Bestandsaufbau in universitären Bibliothekssystemen vorgelegt.1) Die Analyse zeigt, daß eine Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen der Erwerbungspolitik und der Methodik des Bestandsaufbaus allenfalls ansatzweise geleistet worden ist. Dies erweist sich in den neunziger Jahren angesichts der strukturellen Etatkrise in den universitären Bibliothekssystemen der westlichen Bundesländer und des Neubeginns im Bestandsaufbau in den Universitätsbibliotheken der östlichen Bundesländer als gravierendes Desiderat. Eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Bestandsaufbau erzwingen aber nicht zuletzt die tiefgreifenden Änderungen im Publikationswesen. Sie erfordern eine grundlegende Neuorientierung der Erwerbungsaufgaben und -funktionen, die Entwicklung eines Konzepts, das klassischen Bestandsaufbau auf der Grundlage lokal vorgehaltener Bestände und elektronische Informationsversorgung, die Bereitstellung eines differenzierten Nutzungsangebots im Bereich der elektronischen Publikationen vereint.

Die von der Expertengruppe vorgelegte Untersuchung weist Defizite in der inhaltlichen Konkretisierung der erwerbungspolitischen Zielsetzung wie in der Evaluierung des Bestandsaufbaus auf. Wenn Erwerbungsprofile, die das erwerbungspolitische Konzept in den einzelnen Fächern entsprechend den spezifischen universitären Anforderungen definieren, im allgemeinen nicht formuliert sind, wenn Zielvorstellungen teilweise nur vage umrissen sind, ist zweifellos die Gefahr gegeben, daß nach dem Gesetz der normativen Kraft des Faktischen das konkrete Ergebnis der Erwerbungspolitik zum erwerbungspolitischen Konzept erklärt wird.

Erwerbungspolitisch-inhaltliche Fragestellungen, die auf die Definition eines Erwerbungsprofils, dessen Realisierung und Fortschreibung gerichtet sind, werden in bibliotheksinternen Beratungs- und Entscheidungsgremien allenfalls am Rande thematisiert. Zentrale Fragen der Erwerbungspolitik und der Methodik des Bestandsaufbaus werden über die Fachreferatsgrenzen hinweg nicht zur Diskussion gestellt, sieht man von der informellen Kommunikation zwischen den Fachreferaten ab. Kritisch ist vor allem nach dem Stellenwert zu fragen, den man bislang der Erfolgskontrolle beim Bestandsaufbau beigemessen hat.

Es stellt sich die Aufgabe, die erwerbungspolitischen Zielvorstellungen in den universitären Bibliothekssystemen zu hinterfragen und gestützt auf fundierte Analysen der Bedarfsstruktur zu konkretisieren. Gerade angesichts der Globalisierung der Haushalte ist es bibliothekspolitisch notwendig, im Hinblick auf Leistungsmessung, Qualitätsmanagement und Transparenz einerseits das erwerbungspolitische Konzept zu präzisieren, andererseits Methoden zur Erfolgssicherung beim Bestandsaufbau zu entwickeln.

Der bislang vernachlässigten Erfolgskontrolle muß ein angemessener Stellenwert zuerkannt werden. Es gilt im Rahmen einer systematischen Bestandsevaluierung Maßnahmen durchzuführen, mit denen überprüft wird, inwieweit der Bestandsaufbau - und künftig das Zugriffs- und Vermittlungsangebot im Bereich der elektronischen Publikationen - dem definierten Erwerbungsprofil gerecht werden. Die Evaluierung umfaßt einen laufenden Bewertungsprozeß, wobei die erwerbungspolitische Zielsetzung in den universitären Bibliothekssystemen entsprechend dem Wandel, dem das universitäre Anforderungsprofil infolge der Verlagerung von Forschungsschwerpunkten mit Auswirkungen gerade auch im interdisziplinären Kontext unterliegt, einer kontinuierlichen Fortschreibung bedarf. So stellt sich in den universitären Bibliothekssystemen die Aufgabe, - unabhängig von den Zwängen sinkender finanzieller Ressourcen - sowohl in der Spitzen- als auch in der Grundversorgung flexibel auf Veränderungen in der Nachfrage zu reagieren. Eine intensivierte und methodisch verfeinerte Bestandsevaluierung wird nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Bedeutung elektronischer Publikationen zu einer stärkeren Dynamisierung der Erwerbungspolitik - auch im Hinblick auf Bestandsaussonderung und -verlagerung - führen.

Die Evaluierung der Erwerbungspolitik ist grundsätzlich darauf gerichtet, inwieweit einerseits die Nachfrage durch die lokal vorgehaltenen Bestände gedeckt werden kann, andererseits inwieweit die aufgebauten Bestände tatsächlich nachgefragt werden. Sie bezieht darüber hinaus die differenzierte Beobachtung und Analyse des akademischen Literaturmarktes als Korrektiv ein.

Die Evaluierung des Bestandsaufbaus stellt einen der Themenbereiche dar, mit denen sich die im Sommer 1995 eingesetzte Expertengruppe Bestandsentwicklung in wissenschaftlichen Bibliotheken (II) auseinandersetzt. Ausgehend von der Frage, inwieweit die Nachfrage durch die lokal vorgehaltenen Bestände gedeckt werden kann, befaßte sich ein erster Beitrag mit der Methodik zur Ermittlung des Fehlbedarfs und mit den erwerbungspolitischen Konsequenzen.2) Thema eines weiteren Beitrags war die Evaluierung von Zeitschriftenbeständen.3) Gegenstand im folgenden ist die Ausleihanalyse als Instrument der Bestandsevaluierung, wobei sich die Überlegungen auf den klassischen Bestandsaufbau beschränken.

Bei elektronischen Publikationen, sei es daß sie - wie die CD-ROM-Datenbanken - vor Ort mit Trägermedium verfügbar sind, sei es daß sie im Direktzugriff online auf bibliothekseigenen oder externen Servern angeboten werden, sind die Voraussetzungen für eine differenzierte Messung der Benutzung gegeben. Dagegen sind bei den Printmedien die Möglichkeiten, die Bestandsnutzung zu messen, begrenzt. Voraussetzung sind die Ausleihbarkeit der Bestände und Ausleihsysteme, die eine Bestandsevaluierung ermöglichen. Die Ausleihbarkeit der Bestände ist im Gegensatz zu den Zentralbibliotheken zweischichtiger Bibliothekssysteme in den einschichtigen Bibliothekssystemen, die durch umfassende Freihandbestände und einen hohen Anteil von Präsenzbeständen gekennzeichnet sind, nur in begrenztem Maße gegeben. Bei den Ausleihsystemen müssen durchaus noch Anstrengungen unternommen werden, um das Instrumentarium für eine differenzierte Evaluierung der Bestände bzw. Bestandsgruppen zu verfeinern, wobei deren Erfolg freilich wiederum auch von den jeweiligen Aufstellungsmodalitäten abhängt.

Schließlich darf bei der Bewertung des Bestandsaufbaus wissenschaftlicher Bibliotheken das Kriterium Grad der Nutzungsintensität keinesfalls verabsolutiert werden. Der Ausleihquotient ist stets im Kontext zu sehen. So sind insbesondere die Geisteswissenschaften auf einen "Zusammenhangsbestand" angewiesen, der wiederum voraussetzt, daß im Bestandsaufbau nicht ausschließlich die nachfrageorientierte Auffassung zum Tragen kommt, sondern daß die Erwerbungspolitik in abgestufter Form daneben durchaus dem systematischen Ansatz verpflichtet ist und - über den aktuellen Bedarf von Forschung und Lehre hinaus - auch dem potentiellen Bedarf Rechnung trägt.

Ungeachtet dieser Einschränkungen muß im Rahmen der Bestandsevaluierung der Blick auch kritisch auf die Nutzung der vorgehaltenen Bestände gerichtet sein.

Im folgenden werden Verfahrensweisen der Bestandsevaluierung anhand von Ausleihanalysen in den Universitätsbibliotheken Freiburg, Wuppertal und in der Universitätsbibliothek der FU Berlin beschrieben. Wenngleich dabei die Anwendung in der Lehrbuchsammlung im Vordergrund steht, so zeigt die Praxis an der UB Freiburg, daß die Ausleihanalyse als Evaluierungsmethode darüber hinaus dem Bestandsaufbau im Hinblick auf einen möglichst effizienten Mitteleinsatz eine wertvolle Unterstützung bietet.

1) Griebel, Rolf: Bestandsaufbau und Erwerbungspolitik in universitären Bibliothekssystemen. Rolf Griebel, Andreas Werner, Sigrid Hornei. Berlin: DBI, 1994, (dbi-materialien; 134)

2) Kowark, Hannsjörg: Methoden der Bestandsevaluierung: Auswertung der passiven Fernleihe. In: Bibliotheksdienst 29 (1995) 12, S. 1955-1959.

3) ders.: Bestandsevaluierung bei Zeitschriften. In: Bibliotheksdienst 30 (1996) 3, S. 461-465


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