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I. Aufgabe und Stellung der Bibliothek in der Gesellschaft

I.1. Aufgabe und Stellung der Öffentlichen Bibliothek

Kontinuitätsbedürftigkeit / Vielfalt / Kommunikationsort / Medienmischung / Selbstlernangebot / Informationsvermittlung / Ratgeber-Funktion / Adressatenorientierung / Demokratischer Auftrag

Öffentliche Bibliotheken sind so nötig wie Schulen, aber lediglich durch die Selbstverpflichtung der Kommunen in ihrer Kontinuitätsbedürftigkeit gesichert. Jüngste Marketing-Untersuchungen ergaben, daß zwei Drittel der Bevölkerung Öffentliche Bibliotheken für unverzichtbar halten. Ihre Nutzung steigt trotz schrumpfender Etat-Mittel, und zwar in der Zahl der Nutzungen wie in der Zahl der Nutzer. Bibliotheken gehören zur Infrastruktur unseres Bildungssystems und unseres kulturellen Lebens. Sie sind dem Versorgungssystem der Wasserleitung vergleichbar, das flächendeckend funktionieren muß, durch Wasserspiele in seiner Lebensnotwendigkeit werberisch illustriert, aber nicht ersetzt werden kann.

Öffentliche Bibliotheken sind international, vielsprachig und multikulturell. Das proklamieren sie nicht, sondern praktizieren es durch ihr Bestandsangebot, durch ihre Veranstaltungsprogramme und ihre Nutzungsfriedfertigkeit in vielgestaltiger Internationalität. Bibliotheken als Heimat aller Fremden müssen stärker zur Geltung gebracht werden.
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Die kommunikative Kraft der Bibliotheken und das dramatisch zunehmende Kommunikationsbedürfnis heutiger Menschen müssen Geist, Ambiente und Raumausstattung des Kommunikationsortes Bibliothek bestimmen. Das Versammeln sinnvoll aufgebauter und arrangierter Bestände und das Versammeln von Menschen in der Bibliothek darf weder konzeptionell noch räumlich getrennt sein. Die Öffentliche Bibliothek ist das aufklärerische und versöhnungsbereite Angebot an die immer kleiner werdenden Meinungsgruppen unserer Gesellschaft, sich Gehör zu verschaffen und sich kontrollieren zu lassen. Bibliothek ist die Nötigung zu argumentativer Kommunikation und die Sicherung gegen plapperhafte Pluralität. Bibliothekspersonal ist ausgerichtet auf mediengestützte Denk-, Informations- und Gesprächsvermittlung.

Das Leitmedium der Bibliotheken wird wohl auf Dauer das Buch und gedrucktes Material sein. Allerdings nicht in der Obhut hagestolzer Kulturschützer zur Abwehr anderer Medien, vielmehr leitend zur erweiterungsbedürftigkeit der Informationsspanne, zur Ergänzungsbedürftigkeit der Informationsqualität, zur Ablösung unter Gesichtspunkten der Informationsaktualität. Es gibt viele weitere Gesichtspunkte für eine zeitgenössisch lebendige und kostengünstige Medienmischung im Angebot der Öffentlichen Bibliothek. Leben hat eine Bibliothek und haben auch Bücher in einer Bibliothek nur dann, wenn es gelingt, plausible Medienmischung attraktiv zu demonstrieren und ihren Gebrauch vernünftig öffentlich einzuüben.

Bibliotheken haben - selbstverständlich im Zusammenspiel mit den anderen Bildungseinrichtungen - die beste medienpädagogische Chance, weil der Nutzer aus einem liberalen Selbstlernangebot die je als adäquat erfahrene Medienkombination wählen kann. Das fängt am einfachsten bei den Kindern an und bezieht wie selbstverständlich die Eltern mit in die Medienerfahrung ein. Bibliotheken sind die liberalsten, individuell verfügbarsten Selbstlerneinrichtungen für zeitsouveräne, emanizipierte Bürger.
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Die rasanteste Entwicklung, der Öffentliche Bibliotheken in ihrer derzeitigen Finanzausstattung kaum gewachsen sind, findet seit einiger Zeit und in den nächsten Jahren im Bereich der Informationsvermittlung statt. Der Informationsbedarf jedes Einzelnen, jeder Firma, jeder Dienststelle wächst explosionsartig. Der Informationsmarkt expandiert ähnlich dramatisch, aber nur sektoral bedarfsgerecht. Kommerzieller Bedarf wird - wo er zahlungskräftig genug ist - bedient. Der nicht kommerzielle oder nicht zahlungskräftige Informationsbedarf braucht vermittelnde Hilfe durch die Öffentliche Bibliothek, die zur allgemeinen Informationsvermittlungsstelle aufzubauen ist, mit Datenbank-Zugriff und Dokumentationsbefähigung.

Weniger aufwendig, aber ähnlich dringlich nachgefragt ist die Ratgeber-Funktion der Öffentlichen Bibliothek. Die Spannweite reicht von der Reparaturanleitung über intelligente Freizeitanregung bis zur Orientierungshilfe im Sinngewirr der Postmoderne. Der emanzipierte Bruch mit Autoritäten und Zwängen führt zu riesigem Bedarf an Hilfen zur individuellen Lebensgestaltung. Die Öffentliche Bibliothek, gekennzeichnet als Wettstreit von Position und jeweiligen Alternativen, wird so zur Zusammenkunft der Ratsuchenden; das ist fast schon die Alternative zur Mutlosigkeit.

Die Art, wie die Öffentliche Bibliothek ihren Auftrag realisiert, ist grundsätzlich adressatenorientiert, auf Zielgruppen ausgerichtet, nicht primär vom Absender der Dienstleistung geprägt. Die einzelne Bibliothek kann nicht alles leisten, was Öffentliche Bibliotheken grundsätzlich zuwege bringen können. Am Ort muß fachlich und politisch entschieden werden, welches Angebotsspektrum für die jeweilige Bevölkerung Sinn macht. Bibliotheken müssen in ihrer Architektur, ihrem Raumschnitt, ihrem Ambiente, ihrer Angebotspräsentation konzipiert sein als freundliche Orte für die öffentliche Zusammenkunft vieler einzelner Menschen, mit genügend Platz für die notwendigen Medienbestände und Erschließungsgeräte.
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Der Auftrag selbst, der den Öffentlichen Bibliotheken in einer anspruchsvoll konzipierten Demokratie und einem postindustriellen Staat gegeben ist, hat zwei nicht disponible Kernbereiche: Öffentliche Bibliotheken sollen Bürgerinnen und Bürger befähigen zu einem selbstbestimmten, auf Lebensdauer berufskompetenten und demokratiefähigen Leben.

Hans Sonn


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