Seite 22-23 - DNB_Sprachraum.indd

SEO-Version

All dies ist bei einer Nationalbibliothek nicht vorgesehen, ja
geradezu verboten. Mögen Volks- und Stadtbibliotheken bei
politischen Umbrüchen ihre Präsenzbestände verändern und
sich bei ihren Anschafungen am jeweiligen Geschmack des
Publikums orientieren – für eine Nationalbibliothek kommt
derlei nicht infrage. Sie sammelt und bewahrt, unabhängig
von Opportunitäten und Jeweiligkeiten. Sie muss sich keinen
Konjunkturen und keinen Moden anpassen. Sie registriert,
bibliografert und katalogisiert. Sie ist wohl nicht der Zeit,
aber dem Wechsel der Zeiten überhoben. Das hat Nachteile,
aber auch Vorteile: Man kann nicht auf das reagieren, was
gerade en vogue ist. Man kann sich auch nicht beteiligen
an der Beeinfussung dessen, was wahrgenommen und erin­
nert werden soll. Aber man ist,
weil man das nicht kann, auch
gegen mancherlei Irrtümer und
Irrwege gefeit.
Die Art und Weise, wie Natio­
naltheater und Nationaloper,
sodann Nationalmuseum und
Nationalgalerie sowie schließ­
lich, drittens, die Nationalbib­
liothek die geistige Mitte eines
Landes prägen und pfegen,
unterscheiden sich also deutlich
voneinander. Dem Theater und
der Oper ist dabei die Rolle
des Prägers zugefallen, während
der Bibliothek die Aufgabe des
Pfegers zugedacht worden ist.
Museum und Galerie haben sich
seit jeher dazwischen bewegt
und die Freiheit gehabt, sich im
einen Fall stärker dem Prägen
und dann wieder mehr dem Pfe­
gen zuzuwenden. Sie alle haben
mit den ihnen zu Gebote stehen­
den Mitteln und Methoden an
der Herstellung einer geistigen
Mitte gearbeitet und dabei die
kulturelle Identität eines Landes abgebildet und umgebildet.
Hier muss man freilich festhalten, dass diese Aussagen mehr
für die Vergangenheit als für Gegenwart und Zukunft zutref­
fen. Theater und Oper mögen zwar nach wie vor eine zentrale
Rolle im Kulturbetrieb innehaben, aber ihre Bedeutung für
die Ausprägung der nationalen Identität ist im Zeichen der
Internationalisierung nur noch gering, und dementsprechend
wirken sie bei der Festlegung der geistigen Mitte eines Landes
nur noch am Rande mit. Das trift auf Nationalmuseen und
Nationalgalerien weniger zu, und am wenigsten sind die Nati­
onalbibliotheken von der Internationalisierung des Kulturbe­
triebs berührt. Die geistige Mitte, an der sie arbeiten, ist nach
wie vor die kulturelle Identität der Nation, so schwierig das so
Bezeichnete inzwischen zu fassen sein mag. Man könnte auch
sagen, dass sich die Gewichte verschoben haben: Die kultu­
relle Identität der Menschen ist internationaler geworden, und
sie lässt sich im Hinblick auf ihre jeweilige Mitte nicht mehr
allein oder bloß überwiegend national bestimmen. Aber die
Suche nach der geistigen Mitte des Landes bzw. der Nation
hält an, und vor allem in Krisensituationen wird vermehrt
nach der nationalen Identität gefragt. Worin besteht sie, und
wo ist sie zu fnden? Bietet sie Halt, wenn vieles, worauf man
sich glaubte verlassen zu können, unsicher und ungewiss
geworden ist? Oder sind die Gewissheiten der Nationalkultur
inzwischen ebenfalls brüchig geworden? Wer sich hier auf die
Suche macht, wird in Theater und Oper wenig fnden; schon eher
wird er dagegen fündig, wenn er
die Nationalmuseen oder Natio­
nalbibliotheken durchstreift.
Aber braucht man heute eigent­
lich noch so etwas wie die
geistige Mitte eines Landes oder
die kulturelle Vergewisserung
nationaler Identität? Und wer
braucht das? Gerade die Vor­
stellung der Mitte ist auf die
Begrenzbarkeit der Räume ange­
wiesen. Wo die Räume grenzen­
los sind oder sich ins Unend­
liche erstrecken, kann es keine
Mitte geben und jede Suche
nach ihr ist sinn- und zwecklos.
Die Mitte bestimmt sich von
den Grenzen her. Aber im Un­
terschied zur Geometrie, bei der
die Ränder oder Begrenzungen
das systematisch Erste und die
Mitte das Zweite ist, verläuft die
Genese von Raum und Mitte in
Politik und Kultur umgekehrt.
Hier legt die Mitte, die zunächst
nichts anderes ist als der pure
Anspruch, die Mitte zu sein, die
Grenzen und damit die Ausdehnung der Räume fest, und
die Veränderung dieser Räume geht nicht selten von der Mit­
te aus: ob man sich ausdehnt und die bisherige Peripherie
„eingemeindet“ oder ob man sich aus einigen Randberei­
chen zurückzieht, wird hier entschieden. Das ist bei der Fest­
legung von Identität nicht anders: Wo die Grenzlinie bzw.
der Grenzstreifen zwischen Identität und Alterität, Selbigkeit
und Andersheit verläuft, wird aus der Mitte des Identitäts­
raums entschieden. Aber wer entscheidet? Wer verfügt über
die Mitte? Wie so oft sind es auch hier Eliten, die entschei­
den, aber sie können diese Entscheidungen unter demokra­
tischen Verhältnissen nicht ohne eine gewisse Responsivität
der Bevölkerung durchsetzen. Bekommen sie keine Unterstüt­
zung, so müssen Entscheidungen auch wieder rückgängig
g
23
22

Entwickelt mit FlippingBook Publisher