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kammern, wie ihn die Stiche des Museums von Francesco
Calceolari oder des Museums von Fernando Cospiano frei-
geben. Diese traten deshalb so überzeugend in unsere Auf-
merksamkeit, weil sie immer als ein zentraler Raum, zwar bis
obenhin angefüllt mit Dingen und Aufbewahrungsbehältern,
aber übersichtlich und mit einer klaren Perspektive und ei-
nem Fluchtpunkt versehen waren. Sie trugen die Verheißung
in sich, das Wissen der Welt gesammelt, verknüpft und an
einem Ort handhabbar gemacht zu haben. Diese Verheißung
der frühneuzeitlichen Abbildungen – und damit verbunden
die eines Aufbruchs in neue Wissensgebiete – besteht bis
heute, lebt trotz aller Verschiedenheiten in den Bildern Hö-
fers fort und wird von uns in der Bibliothek und allen ande-
ren Räumen des Wissen selbst
erfahren: Bücherwände wie Le-
seplätze künden von Ordnung
und der Blick auf diese durch
Regale und einheitliche Flä-
chen strukturierten Ordnun-
gen kann als das ikonografsche
Leitmotiv, als die unhinterfrag-
te Leitvorstellung von Samm-
lung schlechthin gelten. Die
Verheißung der Bibliothek des
21. Jahrhunderts lautet deshalb
Übersicht trotz Fülle.
Eine Sammlung ist eine Zu-
sammenstellung von Objekten,
die, aus dem ökonomischen
Kreislauf genommen, stillgestellt
worden sind. Als der Histo-
riker Krzysztof Pomian diese
nunmehr klassisch gewordene
Defnition formulierte, hatte
er eine grundlegende Erklärung
im Sinn, die nicht zuletzt die
Abgrenzung zu der uns umge-
benden mobilen und zugleich
zeitlich begrenzten Warenwelt
einschloss. Und in der Tat
funktionieren Sammlungen an-
ders, als wir es mit vielen Dingen des Alltags gewohnt sind:
Sammlungen werden nicht verbraucht und nicht wie Waren
so häufg und schnell wie möglich verschoben und umge-
setzt, sondern deponiert, zurate gezogen, beforscht und
immer wieder neu beschrieben. Führt man sich das Tätig-
keitswort „sammeln“ vor Augen, so mag man zunächst an
ein bloßes Anhäufen denken. Sammeln heißt: zulassen, dass
die Dinge sich vermehren. Wie viele Beschreibungen gibt es,
in der die Sammler als obsessive Persönlichkeiten gezeich-
net werden, die von einer Sucht befallen die Dinge an sich
ziehen und ihnen ausgeliefert sind. Es hat den Anschein,
als suchten sich die Objekte ihren zukünftigen Besitzer aus
und nicht umgekehrt. Sammeln ist aber mehr. Jenseits al-
ler Obsession bedeutet Sammeln ein ständiges Balancieren
zwischen dem kontingenten Einströmen von Objekten und
einer gezielten auswählenden Tätigkeit: Häufg kommen sie
in eine Bibliothek, ohne dass sie jemand zuvor nach inhaltli-
chen Gesichtspunkten ausgesucht hätte.
Im Falle der Deutschen Nationalbibliothek werden sie nach
einem weiten und allgemein defnierten Sammlungsraster
zusammengetragen, einfach deshalb, weil sie als deutsche
und deutschsprachige Publikation und solche mit Bezug zu
Deutschland (so der Sammlungsauftrag) in dieses fallen. Oder
Bücher werden Teil einer Sammlung, weil sie planmäßig zu-
sammengestellt einem bestimmten Fachgebiet angehören und
dieses Fachgebiet in den entspre-
chenden Publikationen reprä-
sentiert werden soll. Im Verlaufe
dieses Balancierens splittert sich
das Sammeln in zahlreiche Tä-
tigkeiten auf: annehmen und
aussondern, kaufen und sortie-
ren, bezeichnen und markieren,
ordnen und einstellen, pfegen
und restaurieren, revidieren und
neu systematisieren. Mit dem
Anwachsen der Zahl der Objek-
te müssen auch die Techniken
der Handhabung verfeinert wer-
den. Mag man in einem einzel-
nen Schrank oder Regal noch
eine Übersicht gewinnen, reicht
das Erinnerungsvermögen eines
Menschen aus, um die Titel der
Bücher zu vergegenwärtigen, so
wird ab einer bestimmten Men-
ge alles komplizierter. Jetzt wird
eine Zweiteilung zwischen dem
eigentlichen Sammlungsraum,
dem Depot oder Magazin, und
dem Raum der Zugänglichma-
chung – im Falle der Bibliothek
dem Leseraum – vorgenommen.
Die Kunst einer jeden großen Sammlungsinstitution – egal,
ob Bibliothek, Museum oder Archiv – besteht darin, zwi-
schen der vorhandenen Sammlung und dem Leser oder
Betrachter zu vermitteln. Neben den oben genannten Tä-
tigkeiten des Sammelns kommen also noch Ausheben und
Zugänglichmachen hinzu. Eine der Leistungen des Sam-
melns besteht deshalb darin, die Sammlung selbst sichtbar
zu machen, obwohl sie physisch im Magazin ruht und nicht
zugänglich ist. In der Geschichte des Sammelns und seiner
Institutionen wurden zu diesem Zweck ganze Apparaturen
aufgewendet, um die physische, aber für den Benutzer un-
sichtbare Sammlung gegenwärtig und handhabbar werden
zu lassen: Kataloge und Indizes, Ausstellungen und Präsen-
tationen, kurz: Verweisungsstrukturen erscheinen uns heute
mindestens genauso wichtig wie die gesammelten Objekte
selbst. Wir sind es gewohnt, hinter der Schrift der Einträge Ob-
jekte zu vermuten und uns diese ans Licht bringen zu lassen.
Die Verweisungsstrukturen bestehen seit Langem und beglei-
ten die Geschichte des Sammelns spätestens seit dem 16.
Jahrhundert. Sie wurden mehr und mehr ausdiferenziert,
aber wir sehen in ihnen heute auch die Unübersichtlichkeit
lauern und sie versprechen nicht mehr ohne Weiteres eine
Orientierungshilfe für die Reiche des Verborgenen zu sein.
Wie viele verschiedene Kataloge und Unterkataloge gibt es
und trotz aller Zentralisierungsbemühungen und erleichtern-
den
access codes
fördert man
nur dann echte Fundstücke
oder Überraschungen zutage,
wenn man sich tief in das Ge-
fecht der Verweisungen einer
Sammlungsordnung und ihrer
Geschichte eingearbeitet hat.
Die Orientierung ist heute wo-
anders zu fnden. Orientierung
bietet vielmehr die Bibliothek
selbst, der Ort, die Architektur
und das Bild seiner Räume. Mit
den Digitalisierungsschüben
der Sammlungen, sei es ihrer
Kataloge oder ihrer Bestände
selbst, ja mit dem Aufkommen
ganzer von vornherein als digi-
tal angelegter Sammlungen, ist
zugleich – wie ein unbewusstes
Antidot – das Bild dieser materi-
ellen Manifestation in unseren
Köpfen verankert: eine Bücher-
wand mit tausenden von Pub-
likationen und beruhigenden
Nachschlagewerken, ein Licht,
ein Stuhl, ein Bildschirm, ein
aufgeschlagenes Buch. Das Bild
zeigt nicht den
chip
, sondern
einen geordneten räumlichen
Komplex, den wir in Ausschnitten – wie auf den Fotogra-
fen Höfers – wahrnehmen und deshalb fassen können. Die
dargestellten Leseräume sind nicht nur Leseräume, sondern
zeigen auch das Abbild des Bestandes als unendliche, aber
abgrenzbare Menge.
In den meisten Fällen ist es uns immer noch nicht erlaubt,
im Magazin unseren Arbeitsplatz aufschlagen, aber wir be-
kommen heute mehr denn je das Bild einer idealen, über-
sichtlichen Bibliothek vorgeführt. Die Ikonografe der Bib-
liothek wird von der Institution selbst aufgenommen und
refektiert. Ordnung der Sammlung und Ikonografe der
Sammlung gehen Hand in Hand, indem die Menge der Bü-
cher weiterhin geordnet und zugleich in ein zu überschau-
endes Bild überführt wird – hier liegt das neue alte Moment
der Sichtbarmachung von Sammlung. Die Bibliothek kann
heute mehr denn je als eine Utopie gelten, ist im besten
Sinne ein Denkraum, in dem wir uns des dort liegenden
Potenzials bewusst werden und es vor Augen geführt be-
kommen. Der Moment der Refexion zwischen Mensch und
Objekt, den der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg
als „Denkraum“ bezeichnete, besteht heute nicht nur in der
Betrachtung des Objekts, sondern auch in der Vergegenwär-
tigung seiner Menge und damit der Akzeptanz, als Einzelner
niemals den Bestand überblicken und erfassen zu können,
zu begreifen, dass die eigentliche Ordnungsleistung darin
besteht, nicht in die Starre
desjenigen zu verfallen, der an-
gesichts der Fülle nicht mehr
zu agieren vermag. So gesehen
ist die Bibliothek heute ein
Denkraum zweiter Ordnung,
in dem hier das Verhältnis des
Menschen zum Buch und eine
Refexion darüber, wie sich
dieses Verhältnis in den letz-
ten Jahrzehnten verändert hat,
thematisiert wird. Wird Lesen
durch
chatten
abgelöst, die
Sammlung durch
clouds
und
der konzentrierte Arbeitsplatz
mit ausgehobenen Büchersta-
peln durch
multitouch displays
?
Die gegenwärtige Sammlung
ist immer eine, die über ihre
Bedingungen refektiert. Die
Sammlung des 21. Jahrhun-
derts bleibt deshalb – trotz
aller Digitalisate – ohne den
Raum nicht denkbar. Ihre Ver-
heißung lautet, leicht verän-
dert, der nunmehr unvorstell-
baren und ins Unermessliche
angewachsenen Fülle in immer
wieder neuer Anstrengung ein
Raumbild zu verleihen und so zwischen Sammlung und
dem Leser zu vermitteln.
PROF. DR. ANKE TE HEESEN
Die Wissenschaftshistorikerin und Kuratorin, geb. 1965,
hat seit 2011 einen Lehrstuhl für Wissenschaftsge-
schichte mit dem Schwerpunkt der Bildung und Organi-
sation des Wissens im 19. und 20. Jahrhundert an der
Humboldt-Universität Berlin.