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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Lettland

Bibliotheken in Riga: Fundgruben für die historische Forschung
Reinhard Feldmann

Zum erstenmal nach der Unabhängigkeit Lettlands konnten Bibliothekare und Wissenschaftler zu einem internationalen Kongreß zusammentreffen. Das Symposium "Fragen der Bibliotheksgeschichte im Baltikum" fand vom 29.4.92 bis 2.5.92 in Riga statt. Es wurde von der Bibliotheksvereinigung Lettlands und der Nationalbibliothek Lettlands1) unter den Auspicien des IFLA Round Table on Library History veranstaltet. Ca. 80 Teilnehmer aus 10 Ländern nahmen teil: Aus Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rußland und Schweden. Als Chairman fungierte Prof. Dr. Paul Kaegbein im Auftrage der IFLA. Die Vorträge wurden simultan deutsch/russisch bzw. russisch/-deutsch übertragen.

Die behandelten Themen deckten den gesamten Zeitraum vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert ab. Es wurden u.a. behandelt die Rolle der Volksbibliotheken im Baltikum, die baltisch-russischen Beziehungen, die Bibliotheken der Universitäten und Hochschulen sowie die deutsche Bibliothekspolitik während des Zweiten Weltkrieges. Zwei Vorträge beschäftigten sich mit baltischen Beständen in deutschen Bibliotheken, ein weiterer setzte sich kritisch mit der ehemaligen sowjetischen Bibliotheksideologie auseinander.2)

Da in den letzten Jahren so gut wie keine Berichte in westlichen Sprachen über das Bibliothekswesen in den baltischen Staaten publiziert worden sind, seien hier zunächst allgemeine Informationen mitgeteilt.

Wichtigste Bibliotheken in Riga sind die Lettische Nationalbibliothek (gegr. 1919) und die Fundamentalbibliothek der Lettischen Akademie der Wissenschaften (gegr. 1524 als "Bibliotheca Rigensis"). Dagegen nimmt die Universitätsbibliothek eine weniger bedeutsam Stellung ein, auch hinsichtlich ihrer Bestände. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß in der gesamten ehemaligen Sowjetunion und in ihren Satellitenstaaten die Forschung meist nicht an den Hochschulen durchgeführt wurde, sondern an den Akademien oder sonstigen eigenständigen Forschungseinrichtungen.

Alle Gesprächspartner äußerten großes Interesse an Meinungsaustausch und Kooperation mit deutschen Bibliothekaren und bibliothekarischen Einrichtungen. Die Kenntnisse über deutsche Geschichte und deutsche Kultur dürfen als enorm hoch bezeichnet werden. Die engen Beziehungen des Baltikums zu Zentraleuropa, besonders zu Deutschland, wurden immer wieder betont. Hingewiesen sei nur auf Johann Gottfried Herders mehrjährigen Aufenthalt in Riga und auf die Tatsache, daß Riga der Druckort der Erstausgaben "Kritik der reinen Vernunft" (1781) und "Kritik der praktischen Vernunft" (1788) von Immanuel Kant war. Deutsche Literatur und Literatur über Deutschland findet sich daher in den historischen Beständen der einzelnen Bibliotheken in großem Umfang. Auch in den Jahren der sowjetischen Okkupation wurde, soweit möglich, dieses Sammelgebiet gepflegt.

Die Lettische Nationalbibliothek ist eine öffentlich zugängliche wissenschaftliche Allgemeinbibliothek. Gleichzeitig hat sie seit der (Wieder-) Unabhängigkeit die Funktion einer Parlamentsbibliothek. Gegründet wurde sie im Jahre 1919, dem Jahr der (ersten) lettischen Unabhängigkeit. Die Bibliothek hat lange den Buchaustausch mit ausländischen Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen gepflegt und verfügt daher auch über größere Bestände ausländischer Literatur (auch früher verbotener Literatur). Zur Zeit ist der Bestand in 12 (!) verschiedenen Standorten untergebracht. Ein Neubau ist für die Jahrhundertwende (800-Jahrfeier Rigas im Jahre 1998 bzw. 2001) geplant und soll mit Hilfe einer lettisch-amerikanischen Stiftung von dem (gebürtigen Balten) Architekten Gunnar Birkerts errichtet werden.

Die Bibliothek sammelt umfangreich und auf Vollständigkeit bedacht alle Wissensgebiete, einschließlich der Humaniora, Jura, Philologie, Sozialwissenschaften, Kinderliteratur und Baltica. Die umfangreiche, in Schweden herausgegebene Bibliographie "Lettisches Schrifttum, welches außerhalb Lettlands erschienen ist"3), steht kurz vor dem Abschluß. Ein Gesamtkatalog ausländischer Drucke ist in der Nationalbibliothek vorhanden.

Auch sonst worden einige ehrgeizige Projekte verfolgt: Die Arbeiten für eine retrospektive Nationalbibliographie Lettlands wurden aufgenommen. Daneben werden zur Zeit bibliographische Daten über die deutsch-baltische Literatur erhoben.

Die Bibliothek verfügt seit dem Jahre 1963 über eine eigene Abteilung für Handschriften, alte und seltene Drucke sowie Lettonica. Als alte und seltene Drucke gelten folgende Zeitgrenzen: Die europäischen Drucke bis 1700, die russischen Drucke bis 1800 und die lettischen bis 1850. Vorhanden sind aus dieser Zeit 20.000 Drucke, darunter 61 Inkunabeln. Teile dieser Bestände werden in einer Dauerausstellung gezeigt.

Die frühesten Werke stammen in der Hauptsache aus Schenkungen, einige auch aus dem früheren Theologischen Seminar. Die 61 Inkunabeln werden durch einen gedruckten Katalog erschlossenen.4) Schedels Weltchronik in deutscher (Nürnberg: Anton Koberger 1493 = Hain 14510) und in lateinischer Sprache (Nürnberg: Anton Koberger 1493 = Hain-Copinger 14508), die Episteln Senecas (Paris 1475 = Hain-Copinger 14600), eine Danteausgabe mit Anmerkungen von Marsilio Ficino (Florenz 1481 = GW 7966) oder eine Venezianer Ausgabe des Livius (Venedig: Philippus Pincius für Lucantonio Giunta 1495 = Hain-Copinger 10141) sind einige der herausragendsten Stücke.

Vorhanden sind auch zahlreiche handschriftliche Bücher, darüber hinaus pietistische Werke und Literatur der Erweckungsbewegung. Aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Literatur zur Bauernbefreiung ebenso vorhanden wie Sammlungen lettischer Folklore und Volkslieder. Gerade die Volksliedersammlung wird noch einmal durch das umfangreiche Material (über 200.000 Lieder), welches der Schriftsteller Krisjanis Barons (1835 - 1923) gesammelt hatte, erweitert. Aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Kinderbücher und illustrierte Unterhaltungslektüre5) und Übersetzungen von Werken der Weltliteratur ins Lettische, wie z.B. Goethes Faust (in der Übersetzung des lettischen Dichters Janis Rainis), Ibsens Nora oder Shakespeares Julius Caesar, auch in volkstümlichen Broschüren.6)

Die Fundamentalbibliothek der Akademie der Wissenschaften geht in ihren Anfängen auf die Rigaer Stadtbibliothek zurück. Diese wurde 1524 begründet ("Bibliotheca Rigensis"). Schon vorher muß es eine Büchersammlung gegeben haben, da bereits 1470 für diese Bücherkäufe in Lübeck getätigt wurden. Auch konnte sie aufgehobene Klosterbibliotheken inkorporieren. Über 300 Jahre wurde sie im Kreuzgang der Domkirche aufbewahrt. Im Jahre 1891 wurde sie in das Rathaus überführt. Bibliothek und Rathaus brannten jedoch bei der Belagerung Rigas durch deutsche Truppen im Sommer 1941 ab. Nur ca. 50.000 von insgesamt über einer halben Million Bänden konnten gerettet werden, vor allem wertvolle Handschriften und Drucke.

Die Grundlage der Sammlung bildete die Schenkung eines Ratsherren. Ob das vielzitierte Sendschreiben Martin Luthers "An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" vom Jahre 1524 dafür ursächlich ist, wie immer behauptet wird, sei dahingestellt. Fest steht, daß Luther enge Beziehungen zu Riga hatte und auch mehrere gedruckte Sendschreiben, wie z.B. die Auslegung des 127. Psalms, direkt an die Rigenser gerichtet sind.7) Die Bibliothek wuchs rasch, da reiches Säkularisationsgut aus den aufgehobenen Klosterbibliotheken der Franziskaner und Dominikaner übernommen werden konnte.

Einige der wichtigsten Bestände: Bei den Handschriften ist vor allem das Missale Rigense aus dem 14. Jahrhundert (früher Eigentum der Domkirche) hervorzuheben. Zahlreich sind die deutschen Wiegendrucke vertreten: Der Erstdruck der Opera omnia des Lactanz (Rostock 1476), drei Drucke des Stephan Andress aus Lübeck, das Missale Wyburgense (ein Pergamentdruck, der ein Unikat darstellt), die Epistola Hieronymi (Mainz: Peter Schöffler 1470), das Decretum Gratiani, ein Fragment des Catholicon, die Summa universae Theologiae des Alexander von Hales (Nürnberg 1482), eine Ciceroausgabe (Venedig: Aldus 1565) und weitere. Vorhanden sind darüber hinaus Atlanten, die erste Zeitung Rigas aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert ("Rigische Novellen") sowie zahlreiche frühe Drucke in lettischer Sprache.

Wenngleich das erste lettische Buch, 1525 vermutlich in Lübeck gedruckt, verschollen ist, so sind doch die historisch interessanten Werke zahlreich. Hingewiesen sei nur auf: "Lettus. Das ist Wortbuch, sampt angehengtem täglichem Gebrauch der Lettischen Sprache" (1638 gedruckt), welches das erste Wörterbuch in lettischer Sprache darstellt sowie die erste Bibelübersetzung sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments ins Lettische, gedruckt 1685 - 1694 in der Königlichen Druckerei von J.G. Wilcken (die Übersetzung stammt von Pastor Ernst Glück). Ein Kuriosum stellt der Dedikationsdruck (auf Seide!) für den späteren russischen Zaren Paul dar. Wie viele andere historische Werke gelangte er über die Bibliothek der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde in die Stadtbibliothek.

Die enge Beziehung zur deutschen Aufklärung belegen die zahlreichen Editionen deutscher Philosophen durch Druckereien in Lettland. Die Erstausgaben von Immanuel Kant, die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft, erschienen beide in Riga bei Johann Friedrich Hartknoch (1781 bzw. 1788). Auch die frühen Werke Herders sind nahezu vollständig vorhanden. Eine große Sammlung von Musikdrucken des alten Theaterhauses und eine vollständige Sammlung der Theaterprogramme schließt sich an. Dabei sind neben Werken der Weltliteratur wie der lettischen Erstaufführung von Lessings Emilia Galotti oder einer Abschrift von Schillers Don Carlos (mit Randkorrekturen von Schillers Hand) auch zahlreiche Programme mit seltenen Aufführungen sowie zahlreiche Curiosa vorhanden.

Reich ausgestattet ist auch die Autographensammlung: Neben Lutherbriefen und Briefen Peters des Großen und Napoleons stehen Autographen von Franz Liszt, Anton und Nicolai Rubinstein, Johann Wolfgang von Goethe und anderen.

Besondere Aufmerksamkeit widmet man in den Bibliotheken Lettlands natürlich dem frühen Buchdruck in Riga.8) Er konnte zwar erst gut 100 Jahre nach seiner Erfindung in Lettland Fuß fassen, seine Bedeutung darf jedoch keinesfalls unterschätzt werden. Besonderes Sammelinteresse finden in den Bibliotheken Lettlands natürlich die frühen lettischen Bücher. Die ältesten Bücher in lettischer Sprache sind jedoch nicht in Lettland selbst gedruckt worden, sondern in Vilnius, wo im Jahre 1585 eine Übersetzung des kleinen Katechismus des Petrus Canisius erschien. Im Jahre 1588 kommt der erste Drucker nach Lettland: Nikolaus Mollyn aus Antwerpen eröffnet eine Officin in Riga.9) Aber es dauert noch bis zum Jahre 1615, ehe das erste in Lettland gedruckte Buch in lettischer Sprache (das sog. Kirchenhandbuch) erscheinen kann. Unter dem Nachfolger Mollyns, Gerhard Schröder, steigt die Buchproduktion in Riga noch einmal an, auch und gerade in lettischer Sprache.

Später kommen weitere Druckorte hinzu, wie z.B. Mitau im Jahre 1667. Auch im Ausland erscheinen nun vermehrt lettische Drucke, so in Dorpat (heute Estland), wo bereits im Jahre 1632 lettische Volkslieder gedruckt wurden.

Wenn somit auch nur wenige, wenngleich die wichtigsten Bibliotheken10) in Riga besucht werden konnten, so dürfte deutlich geworden sein, daß den Forscher herrliche Fonds an älteren, wertvollen Büchern erwarten, eine wahre Fundgrube für Historiker und Philologen, Rechtshistoriker wie Kunsthistoriker, Volkskundler und Bibliothekare. Leider steht dieser historisch gewachsenen, und über Krieg und zweimalige Besatzung glücklich geretteten Fülle älterer Literatur der Mangel in den heutigen Bibliotheken gegenüber. Während die Nationalbibliothek auch in den vergangenen 50 Jahren noch manches an westlicher Literatur erwerben konnte (wenngleich es dann nicht für jedermann zugänglich war), herrscht in den Regalen der Universitätsbibliothek und der zehn Fakultätsbibliotheken gähnende Leere. Der Bestand an westlicher Literatur ist trotz aller Bemühungen noch sehr gering.

1) Dank für die Gastfreundschaft gebührt besonders Herrn Aldis Abele, Direktor an der Nationalbibliothek, der unermüdlich alle Fragen geduldig beantwortete und die Hauptlast der Organisation trug. Für zahlreiche Auskünfte zu den historischen Beständen der Rigaer Bibliotheken sowie zur Kulturgeschichte des Baltikums bin ich Herrn Ojars Zanders (Fundamentalbibliothek der Akademie der Wissenschaften) sowie Herrn Viesturs Zanders (Rara-Abteilung der Nationalbibliothek) zu großem Dank verpflichtet.

2) Über die Tagung wird ein ausführlicher Bericht in "Bibliothek. Forschung und Praxis" erscheinen.

3) Bibliography of Latvian Publications published outside Latvia. Vol. 1-5. Ed. by Benjamin Jegers. Stockholm: Daugava 1968ff. Enthält die während der sowjetischen Okkupation in Lettland verbotenen Schriften, die im Ausland erschienen sind. Bislang erschienen: Die Literatur der Jahre 1940 - 1960 (erschienen 1968/1972); 1961 - 1970 (1977); 1971 - 1980 (1988) und (im Druck) 1981 - 1985. Alphabetisch aufgebaut mit Sachregister, Register der Hrsg. und der beteiligten Körperschaften, Personenregister und Titelregister.

4) Incunabula in Bibliotheka RSS Latviensis de V. Lacis nominata. Catalogus. Ediderunt A. Apinis et S. Sisko. Riga 1981.

5) Teilweise sind noch die Druckstöcke für die Illustrationen vorhanden.

6) Hier ist besonders die Reihe "Universalbibliothek" zu nennen, die an Reclams Universalbibliothek der Klassiker anschließt, und seit 1912 preisgünstige Heftchen auf den Markt bringt.

7) Vgl.: Der Hundert und XXvii Psalmen ausgelegt an die Christen zu Rigen in Liffland. Martinus Luther. Wittemberg. 1524.; Der Brief beginnt: Martinus Luther Allen lieben freunden ynn Christo zu Rigen und ynn Liffland.

8) Grundlegend: Buchholtz, Arend: Geschichte der Buchdruckerkunst in Riga 1588 - 1888. Festschrift der Buchdrucker Rigas zur Erinnerung an die vor 300 Jahren erfolgte Einführung der Buchdruckerkunst in Riga. Riga: Müller 1890 (ND 1965).

9) Zanders, Ojars: Tipografs Mollins un vina laiks: Pirmas Riga iestpiotestas gramatas 1588 - 1625 [Der Buchdrucker Mollyn und seine Zeit: Die ersten in Riga gedruckten Bücher 1588 - 1625). Riga: Zinatne 1988 [mit dt. abstracts].

10) Die Bibliothek des Rigaer Museums für Stadtgeschichte und Navigation, die Bibliothek des Staatsarchivs, die Bibliothek des Staatsmuseums für lettische Geschichte sowie die Bibliothek des Armeemuseums verfügen ebenfalls über nicht unbeträchtliche Altbestände. Demgegenüber sind die historischen Bestände der Universitätsbibliothek Riga eher bescheiden. Die wichtigsten Werke sind sekretiert und nach Sprachen aufgestellt, so daß ein Zugriff auf die Bestände in westlichen Sprachen (einschließlich des lateinischen) und in russischer Sprache schnell möglich ist. Es handelt sich um etwa 1.000 bis 1.500 Titel historischer, klassisch-philologischer, geographischer und theologischer Werke. Letztere stammen nicht aus Säkularisationsgut, sondern aus Schenkungen.