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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Großbritannien

"Building for the digital library"
Eindrücke einer Studienreise in England
Klaus Kempf

Vom 22. bis 27. Juni 1997 konnten zwölf Bibliothekare aus sechs Mitgliedsländern der Europäischen Union auf Einladung des British Council an einem Studienseminar zum Thema "Building for the digital library" in Sheffield teilnehmen. Das Seminar wurde von Graham Bulpitt, dem Leiter der Universitätsbibliothek der Hallam University Sheffield und seinen Mitarbeitern im neu eröffneten Gebäude der Zentralbibliothek, dem Adsetts-Centre, organisiert. In Vorträgen und Diskussionen mit Architekten und in Baufragen besonders bewanderten britischen Kollegen wurden die sich aus den neuen digitalen Diensten ergebenden Anforderungen an Bau und Einrichtung einer Bibliothek eingehend erörtert. Der Veranstaltungsort selbst war, wenn man so will, das Stein bzw. Beton gewordene Seminarthema. Das vom renommierten Architekturbüro Faulkner-Brown entworfene und Ende 1996 fertiggestellte Gebäude ist Ausdruck eines neuen bibliothekarischen Leitgedankens. Die Bibliothek versteht sich danach künftig primär als "Learning Centre", als das universitäre Zentrum für Lehre und Studium.

Der Bereich der Lehre genießt an anglo-amerikanischen Hochschulen traditionell einen hohen Stellenwert. Die sich weiter zuspitzende Finanzsituation der Hochschulen und die Möglichkeiten der modernen Informationstechnologie erzwingen ein Überdenken bzw. eine Reform der bisherigen Organisation von Lehre und Studium. Durch eine Bündelung bzw. bessere Koordination aller bisher in Lehre und Informationsbeschaffung fließenden Ressourcen gleichsam "unter einem Dach" sollen für Lehrende und Lernende optimale Arbeits- bzw. Studienbedingungen bei sparsamster Haushaltsführung geschaffen werden. An der Hallam University wurden diese Überlegungen zum Anlaß genommen, im Zusammenhang mit dem Neubauvorhaben der Bibliothek eine tiefgreifende Reorganisation der bestehenden, mit Lehre und Studium befaßten zentralen Einrichtungen durchzuführen. Die Universitätsbibliothek, Teile des Rechenzentrums und das didaktische Zentrum der Hochschule, das "Learning and Teaching Institute", wurden zu einheitlicher Leitung durch die Universitätsbibliothek vereinigt.

Der sich über sieben Geschosse erstreckende und ca. 11.000 qm Hauptnutzfläche aufweisende Neubau ist insoweit ein multifunktionales, strikt nach den vorstehend benannten Reorganisationszielen konzipiertes Gebäude. Der Entwurf, so Architekt und Bauherr übereinstimmend, orientiert sich mehr an der modernen Warenhaus- und Freizeitcenterarchitektur als an herkömmlichen Hochschul- bzw. Bibliotheksbauten. Er zeichnet sich durch eine radikale Umsetzung des Open-Plan-Gedankens aus. Die Freihandbereiche bzw. Lesesäle gruppieren sich um eine offene, über vier Geschosse reichende Treppenanlage und einen zusätzlichen "Lichthof". So gut wie alle Bereiche des Gebäudes sind für den Benutzer uneingeschränkt zugänglich. Die Mehrzahl der Mitarbeiterarbeitsplätze ist wie in einem überdimensionalen Großraumbüro auf den einzelnen Geschoßebenen zwischen Buchstellflächen und Benutzerarbeitsplätze "eingestreut".

Besondere Aufmerksamkeit bei der Planung von Bau und Einrichtung galt dem Aspekt der Flexibilität in der Raumnutzung im Hinblick auf die nicht absehbare künftige Entwicklung im Bereich der elektronischen Information und Kommunikation bzw. des damit zusammenhängenden digitalen Dienstleistungsangebots des Learning Centre. Das gesamte Gebäude ist durchgehend mit Hohlraumböden versehen, die einerseits eine problemlose Nachverkabelung ermöglichen und andererseits stabil genug sind, um bei Bedarf auch Kompaktregalanlagen tragen zu können.

Bei der Anordnung bzw. Gestaltung der Benutzerarbeitsplätze geht man auch künftig grundsätzlich von einer Mischmediennutzung aus, d. h. der (vernetzte) Bildschirmarbeitsplatz befindet sich wo immer möglich in unmittelbarer Nachbarschaft zur fachlich relevanten gedruckten Information. Bildschirmarbeitsplätze und Buchstellflächen befinden sich im Learning Centre folglich auf einer Geschoßebene, wenn auch im Sinne einer Zonenbildung mehr oder minder deutlich voneinander abgesetzt; die Regale stehen im hinteren (fensterlosen) Teil des Gebäudes, während die Bildschirmarbeitsplätze in unterschiedlicher Anordnung überwiegend in der Nähe der Fenster plaziert sind. Störende Blendeffekte durch einströmendes Tageslicht treten gleichwohl kaum auf. Weit überkragende Dachkonstruktionen, die jeweils zwei Geschosse "zusammenfassen", lassen das Tageslicht nur wohl dosiert eintreten. Die künstliche Beleuchtung ist so ausgelegt, daß sie sowohl dem zwischen den Regalen suchenden als auch dem am Bildschirm arbeitenden Benutzer gerecht wird.

Neben rund 500.000 Bänden gedruckter Information und ca. 10.000 Ton- und Video-/Bilddokumenten kann der Benutzer an 1.600 (!) vernetzten mit PC ausgestatteten Bildschirmarbeitsplätzen nicht nur auf die lokalen digitalen Dienste, wie OPAC und CD-ROM-gestützte Datenbanken zugreifen, sondern via Internet ist auch eine Recherche in Online-Datenbanken und die Nutzung von elektronischen Dokumentbestell- und -lieferdiensten möglich. Weiterhin kann er dort elektronische Post versenden und mit Text-, Grafik- sowie Tabellenkalkulationsprogrammen arbeiten. Sowohl Dozenten als auch studentischen Benutzern stehen darüber hinaus für Lehr- bzw. Lernzwecke auch ausgefallenere technische Einrichtungen, wie Ton-, TV- und/oder sog. Multimediadesign-Studios zur Verfügung. Ganz im Sinne der von Faulkner-Brown immer schon geforderten komfortablen bzw. stimulierenden Arbeitsatmosphäre findet der kurzzeitig Entspannung suchende Benutzer in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz gemütliche Sitzgelegenheiten, von denen aus er auf Wunsch z. B. weltweit Fernsehprogramme verfolgen kann.

Ein Problem des Gebäudes ist die Akustik. Obwohl die Deckengestaltung der einzelnen Geschoßebenen lärmmindernd wirken soll, kommt es durch die offene, geschoßübergreifende Treppenanlage bzw. den Lichthof, aber vor allem durch die zur Kommunikation bzw. zur Gruppenarbeit einladende Atmosphäre mancher Bildschirmarbeitsplätze zu einer nicht unerheblichen Lärmentwicklung. Gut abgeschottet ist das in unmittelbarer Nachbarschaft zum zentralen Busbahnhof gelegene Gebäude dagegen gegen Außenlärm. Der Preis dafür ist allerdings hoch. Eine umfassende Klimatisierung des gesamten Gebäudes ist so unvermeidbar geworden. Der Betrieb der Klimaanlage bereitet auch ein knappes Jahr nach Bezug des Gebäudes noch immer Probleme. Das ursprüngliche Ziel, ein Gebäude mit sehr niedrigen Betriebs- und Bauunterhaltungskosten zu errichten, dürfte dadurch in Frage gestellt sein.

Daß das Gebäude nicht nur Lernort, sondern auch ein Ort der Lehre ist, verdeutlichen neben mehreren über die Geschosse verteilten Seminar- bzw. Gruppenarbeitsräumen zwei im sechsten Stock befindliche, mit modernster Technik ausgestattete Hörsäle. Unmittelbar benachbart zu ihnen schließen sich im letzten Obergeschoß dann die Arbeitsplätze der Mitarbeiter des didaktischen Zentrums an, das sich vor allem mit der Entwicklung neuer, multimediabasierter Lehr- und Lernmethoden beschäftigt.

Exkursionen zu neueren Hochschulbibliotheksbauten in Sheffield (St. George's Library und die Zentralbibliothek der University of Sheffield) und in Manchester (Joule Library der University of Manchester, Institute of Science and Technology, Aytoun Library, All Saints Library und Hollings Library der Manchester Metropolitan University) ermöglichten den kritischen Vergleich der im Learning Centre verwirklichten Ideen mit eher traditionellen Bau-, Einrichtungs- bzw. Organisationsmustern.

Ein Besuch des in Manchester stattfindenden britischen Bibliothekskongresses 1997 "Under One Umbrella 4" rundete schließlich diese für alle Teilnehmer äußerst informative und gewinnbringende Studienreise ab.

Grundrißabbildungen der sieben Geschosse des Adsetts Centre der Sheffield Hallam University sind unter folgender Internet-Adresse zu finden: http://www.shu.ac.uk/services/lc/lc_guide/