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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Frankreich

Zensur in Orange
Gernot U. Gabel

In der Stadtbücherei von Orange (Südfrankreich), einer der drei französischen Städte, die seit Mitte vergangenen Jahres von der Front National regiert werden, wird Zensur praktiziert. Ein von der nationalen Bibliotheksinspektion im Auftrag des französischen Kultusministers erstellter Bericht deckt die verschiedenen Zensurmaßnahmen in Orange auf. Bürgermeister Jacques Bompard, ein Mann der ersten Stunde in seiner Partei und seit Juni 1995 im Amt, will die Kultur neu gewichten. Er beklagt, daß bislang ein Pluralismus, der rechte Autoren berücksichtigt, nicht existiert habe, und diesem wolle er jetzt in Orange zur Geltung verhelfen. Von Kennern der Bibliothek wurde diese Behauptung mit einiger Überraschung aufgenommen, denn neben den Schriften linker Theoretiker wie Karl Marx stößt man auf die Gesamtausgabe der Werke von Charles de Gaulle sowie die Schriften rechter Autoren wie Barrès, Gobineau und Maurras. Bücher der Schriftsteller, die während der Besetzung Frankreichs im 2. Weltkrieg mit den Deutschen kollaboriert hatten (Drieu la Rochelle, Brasillach), fehlen gleichfalls nicht auf den Regalen. Dennoch wurde der Buchbestand gesichtet und anschließend vieles, was nicht "die nationalen und regionalen Ursprünge betont", ausgesondert. Neben kritischen Werken über Rassismus und sonstige als mißliebig eingestufte politische Schriften fielen, wie die Bibliotheksinspektion in ihrem Bericht auflistete, auch Märchen aus dem arabischen Raum sowie Bücher über den Rap unter den Bann von Bürgermeister Bompard. Gleichfalls wurden die Abonnements der liberalen Tageszeitungen "Le Monde" und "Libération" storniert, angeblich aus Sparzwang. Andererseits hatte Monsieur Bompard die Bibliothekare angewiesen, Bücher über die Waffen-SS, den italienischen Faschismus und andere Werke rechtsextremer Verfasser, darunter antijüdische Schriften, anzuschaffen.

Frankreichs Kultusminister Philippe Douste-Blazy hat den Kurs des Bürgermeisters scharf kritisiert und ihn davor gewarnt, von Orange aus Propaganda für die Nationale Front zu machen. Aber die Partei hat genau dies bereits getan. Sie forderte ihrerseits die Jugendorganisation der Front National auf, in Büchereien den Bestand zu überprüfen und von den Bibliothekaren gezielt die Anschaffung von Büchern mit nationalem und nationalistischem Gedankengut zu verlangen.

Rechtlich betrachtet hat die Pariser Regierung kaum Einfluß auf die Kulturpolitik der Gemeinden. Seit 1986 ist ein Gesetz über die Dezentralisierung in Kraft, das dem Kultusministerium nur noch bei Neu- und Ausbauten sowie bei technischen Kontrollen ein Eingreifen erlaubt. Im Fall Orange zeigt sich jetzt, wie sehr dem Ministerium die Hände gebunden sind. Kultusminister Douste-Blazy vermochte in seinem Mahnschreiben nur damit zu drohen, die Subventionen für die geplante Mediathek in Orange zurückzuhalten, solange in der Bibliothek die politische Neutralität beim Bestandsaufbau nicht gewährleistet ist. Jedoch waren dem Kultusminister die Vorgänge in Orange Anlaß genug, für nächstes Jahr ein Bibliotheksgesetz anzukündigen, das den Pluralismus in den öffentlichen Büchereien des Landes sicherstellen soll.