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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Frankreich

Bilanz der Hochschulbibliotheken
Universitätsbibliotheken in der Provinz holen auf

Gernot Gabel

Die Dominanz der Pariser Universitätsbibliotheken, von vielen seit Jahrzehnten beklagt, ist im Schwinden, denn inzwischen trägt die von der Regierung seit den frühen achtziger Jahren verfolgte Politik der Dezentralisation erste Früchte. Diese positive Tendenz läßt sich anhand einer Auswertung der jüngst vom Pariser Wissenschaftsministerium herausgegebenen Statistik (Annuaire des Bibliothèques Universitaires 1992) für die 78 Hochschulbibliotheken des Landes belegen.

Dank der seit einigen Jahren verbesserten Finanzausstattung der Hochschulbibliotheken, die in den späten achtziger Jahren gezielt einsetzte, macht sich bei den Universitätsbibliotheken der Provinz im Selbstverständnis wie im Service ein langsamer Wandel bemerkbar. Galt es für Forscher noch vor einem Jahrzehnt als unverzichtbar, zu Recherchen nach Paris zu reisen und dort die einschlägigen Bibliotheken aufzusuchen, so läßt sich inzwischen an den Ausleihzahlen ablesen, daß auch in Lyon, Bordeaux und Lille gewichtige Sammlungen entstanden sind, die sich einer zunehmenden Frequentierung erfreuen.

Der direkte Vergleich zwischen den Universitätsbibliotheken in Paris und der Provinz wird aber dadurch etwas verzerrt, daß im Jahrfünft 1988/92 mehrere Hochschulneugründungen erfolgten. Im Großraum Paris entstanden vier neue Universitäten (Cergy Pointoise, Evry Val d'Essonne, Marne-la-Vallée, St. Quentin en Yvelines), in der Provinz drei (Artois, Littoral, Sevenans). Zudem wurden an vier Orten (Aix-Marseille, Grenoble, Lyon, Rennes) die zentrale Hochschulbibliothek aufgelöst und deren Teilbereiche den drei autonomen Universitäten zugeschlagen.

Für die zentralen Hochschulbibliotheken der Neugründungen ist typisch, daß sie keine erhöhten Sondermittel zugewiesen erhalten, die sie in die Lage versetzen würden, schnell hinreichend große Literaturbestände zu akkumulieren, die für Forschung und Lehre vor Ort die Grundlagen bilden. Vielmehr läßt sich aus den Statistiken ablesen, in welch geringem Umfang die Sammlungen in den Bibliotheken der Neugründungen anwachsen. Viele verzeichnen über Jahre hinweg Monographienbestände im Umfang von unter 100.000 Bänden, die Zahl der Zeitschriften liegt dort meist unter 2.000 Titel.

Erwerbung

In den vergangenen fünf Jahren sind die Erwerbungsetats der Universitätsbibliotheken deutlich erhöht worden. Lagen die Ausgaben für den Literaturerwerb 1988 bei rund 116 Millionen Francs, so waren sie 1992 auf 215 Millionen Francs angestiegen, nominell ein Zuwachs von 85 Prozent. Ein Blick auf die Verteilung des Gesamtetats zwischen den Bibliotheken in Paris und denen in der Provinz macht allerdings deutlich, daß von einer grundsätzlichen Wende in der Förderpolitik des zuständigen Wissenschaftsministeriums nicht die Rede sein kann. Für den Fünfjahreszeitraum 1988/92 liegen die Zuwachsraten für die Pariser Universitätsbibliotheken mit 99 Prozent deutlich über denen der Provinz mit lediglich 79 Prozent. Lenkt man den Blick hingegen auf die Erwerbungsetats einzelner Bibliotheken, so lagen 1992 die außerhalb der Landeshauptstadt angesiedelten Universitätsbibliotheken deutlich vorn: die Rangfolge wird angeführt von der UB Lille (9,1 Mio FF), auf den folgenden Rängen liegen Paris Jussieu (7,6 Mio FF), Bordeaux (7,4 Mio FF), Toulouse (6,3 Mio FF) und Montpellier (6,0 Mio FF).

Tafel 1: Erwerbungsetats (in Mio FF)
19881989199019911992
UBs Provinz82,794,0104,0134,9148,5
UBs Paris33,842,454,562,166,9
Summe116,5136,4158,5197,0215,4

Eine genauere Analyse der Erwerbungsausgaben nach einzelnen Literaturgruppen bringt allerdings ein differenziertes Bild zutage. Für den Monographienerwerb ergibt sich für denselben Zeitraum beispielsweise eine reziproke Relation. Während die Pariser UBs nur mit einer Zuwachsrate von 75 Prozent aufwarten können, verzeichnen die UBs in der Provinz eine Steigerungsrate von 90 Prozent.

Tafel 2: Erwerbung Monographien (in Mio FF)
19881989199019911992
UBs Provinz36,443,047,658,468,3
UBs Paris19,122,527,029,133,5
Summe55,565,574,687,5101,8

Diese Tendenz läßt sich mit Zahlen über die Bandzahl der erworbenen Monographien belegen. Für das Jahrfünft 1988/92 stieg die Zahl der Monographienbände in den Pariser Universitätsbibliotheken um 56 Prozent, in den Universitätsbibliotheken der Provinz nahm der Monographienbestand sogar um 72 Prozent zu.

Tafel 3: Erwerbung Monographien (in Bänden)
19881989199019911992
UBs Provinz225.200246.900276.100321.600387.400
UBs Paris110.600124.400129.200150.800172.300
Summe335.800371.300405.300472.400559.700

Bei den Zeitschriftenabonnements liegen die Zuwächse insgesamt deutlich niedriger, ein Ausweis für die Schwierigkeiten auch der französischen Hochschulbibliotheken, ihre Zeitschriftenbudgets angesichts ständiger Preiserhöhungen und einer gleichzeitigen Verschlechterung der Wechselkurse des Francs zu halten. Für die Pariser Universitätsbibliotheken ergab sich, trotz des hohen Ausgangsniveaus, im genannten Zeitabschnitt eine Steigerung um 38 Prozent, bei den Universitätsbibliotheken der Provinz lag der Zuwachs mit 37,4 Prozent immerhin fast gleichhoch.

Tafel 4: Zeitschriftenabonnements (Titel)
19881989199019911992
UBs Provinz40.40045.10049.80051.00055.600
UBs Paris21.30025.80026.60028.40029.400
Summe61.70070.90076.40079.40085.000

Zur Abrundung seien hier auch die Angaben über die Gesamtkosten der Abonnements aufgeführt:

Tafel 5: Zeitschriftenabonnements (in Mio FF)
19881989199019911992
UBs Provinz41,351,258,566,673,5
UBs Paris15,321,424,627,831,3
Summe56,672,683,194,4104,8

Literaturbestand

Während die aktuelle Etatverteilung zwischen den Pariser Universitätsbibliotheken und denen der Provinz die politische Intention in groben Umrissen erkennen läßt, wird anhand der Bestandsangaben deutlich, welch langen Weg letztere bis zur vollen Gleichwertigkeit noch zurückzulegen haben. Von den rund 21 Millionen Bänden an Monographien, die Benutzer im Netz der französischen Universitätsbibliotheken vorfinden, sind 10 Millionen im Großraum Paris verfügbar, etwas über 11 Millionen in der Provinz.

Tafel 6: Literaturbestand Monographien (in Mio Bänden)
1988198919901991 1992
UBs Provinz9,49,810,310,811,2
UBs Paris9,910,911,19,7*9,9*
Summe19,320,721,420,5*21,1*

(* Angaben unvollständig)

Erwartungsgemäß weisen die Bestandszahlen einzelner Universitätsbibliotheken eine große Bandbreite auf, wobei für den deutschen Betrachter überrascht, daß nur einige Bibliotheken über mehr als eine Million Monographienbände in ihren Sammlungen verfügen, die Mehrzahl hingegen deutlich geringere Bestände nachweist. Die Rangfolge wird angeführt von der Pariser Ste. Geneviève (3,1 Mio), die nächsten drei Plätze belegen die Sorbonne (1,2 Mio), die Pariser Medizinbibliothek (1,2 Mio) und die National- und Universitätsbibliothek Straßburg. Vier Universitätsbibliotheken in der Provinz (Bordeaux, Grenoble, Montpellier, Toulouse) und zwei im Großraum Paris verfügen über einen Monographienbestand von mehr als einer halben Million Bände, die anderen 68 Universitätsbibliotheken liegen deutlich unterhalb dieser Größenordnung. 20 Universitätsbibliotheken sind sogar mit weniger als 100.000 Monographienbänden ausgestattet.

Ähnlich sieht es bei den Zeitschriftenbeständen aus. Von den rund 360.000 Zeitschriften, die das Netzwerk der französischen Hochschulbibliotheken für Benutzer bereithält, lassen sich 205.000 in der Provinz und fast 155.000 im Großraum Paris einsehen.

Tafel 7: Literaturbestand Zeitschriften (Titel)
19881989199019911992
UBs Provinz184.100184.700214.000195.000205.300
UBs Paris147.600151.300152.600151.900154.400
Summe331.700336.000366.600347.000359.700

Diese Zahlen lassen zunächst eine gewisse Bestandsbreite auch an einzelnen Universitätsbibliotheken vermuten, doch offenbart ein Blick in die Statistik einzelner Institutionen, daß die Mehrzahl nur über relativ kleine Periodikasammlungen verfügt. Gerade vier Universitätsbibliotheken der Provinz (Bordeaux, Lille, Straßburg, Toulouse) und vier im Großraum Paris melden einen Gesamtbestand (abgeschlossene und laufende Zeitschriften) von mehr als 10.000 Titeln, weitere 15 weisen immerhin mehr als 5.000 Titel nach. Aber 39 Universitätsbibliotheken können nicht einmal 3.000 Zeitschriftentitel in ihren Sammlungen auflisten.

Ausleihen

Wie angesichts der stetig zunehmenden Studentenzahlen nicht anders zu erwarten, zeigt die Benutzung der französischen Universitätsbibliotheken eine steigende Tendenz, nicht zuletzt dank der verbesserten Öffnungszeiten, die jetzt im Durchschnitt bei 50 Wochenstunden liegen. Auch beim lokalen Leihverkehr können die Universitätsbibliotheken der Provinz höhere Steigerungsraten als ihre Pariser Schwesterinstitutionen aufweisen. Im Jahrfünft 1988/92 nahmen die Ausleihen im Großraum Paris um 33,3 Prozent zu, in der Provinz wurden hingegen 42,4 Prozent mehr Ausleihvorgänge registriert.

Tafel 8: Ausleihen (in Mio Bänden)
19881989199019911992
UBs Provinz5,96,26,67,08,4
UBs Paris3,33,53,74,24,4
Summe9,29,710,311,212,8

Ein Maßstab für die Güte einer Literatursammlung ist sicherlich deren Nutzung im Wege der Fernleihe. Hier hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, denn die im Großraum Paris angesiedelten Universitätsbibliotheken sind nicht mehr die Spitzenreiter im aktiven Leihverkehr. Mehr als zwei Drittel aller Fernleihbestellungen werden an den Universitätsbibliotheken der Provinz bearbeitet. Auch die vier ersten Ränge nehmen, abgesehen von der Sonderrolle der Medizinischen Fachbibliothek in Paris (64.000), die Universitätsbibliotheken der Provinz ein: Lyon I (75.000), Nancy (33.000), Aix-Marseille (32.000) und Bordeaux (32.000). Erst auf dem sechsten Rang findet sich die Bibliothek der Universität Paris 11.

Tafel 9: Aktive Fernleihe (Bestellungen)

19881989199019911992

UBs Provinz334.000368.000419.000430.000465.000

UBs Paris157.000189.000200.000203.000206.000

Summe491.000557.000619.000633.000671.000

Mit dem ehrgeizigen Plan "Université 2000" will die französische Regierung die Hochschulen und damit auch die zentralen Hochschulbibliotheken nachhaltig fördern, um die Forschung zu stärken und die Informationstechnologie zu verbessern. Einbezogen in das Projekt ist ein umfangreiches Bauprogramm, das die Leseplatzkapazität (1992: 68.000) um 35.000 anheben soll, aber seit seiner Ankündigung deutlich hinter den Planzielen zurückbleibt. Längere Öffnungszeiten und größere Literatursammlungen sollen alle Hochschulbibliotheken attraktiver machen und die Lesebereitschaft der Studierenden verbessern. AlsVorbild werden übrigens wiederholt die deutschen Universitätsbibliotheken zitiert, die ihrerseits bekanntlich nur mit Mühe das international gepriesene Niveau zu halten vermögen.