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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Armenien

Ein Besuch bei Freunden
Zusammenarbeit zwischen der UB Rostock und der UB Jerewan in Armenien
Maria Schumacher

1. Der Anfang

Ich schlage den inzwischen dick gewordenen Ordner mit der Aufschrift "Jerewan" auf. Briefe, handschriftliche Notizen, Kaufverträge, Rechnungen, alles chronologisch abgeheftet. Ganz vorne der Vertrag über die Zusammenarbeit zwischen der Universität Rostock und der Universität Jerewan, unterzeichnet am 18.8.1995 von Prof. Maeß und Prof. Martirossian. Inzwischen habe ich Prof. Martirossian bei unserem Besuch in Jerewan im September 1997 kennengelernt. Eine Schicht aus Erinnerungen und Gedanken legt sich über den Ordner und läßt Dokumenten und Akten lebendig erscheinen. Ein Jahr voller Arbeit und Ereignisse.

Im Sommer 1996 fragte das DBI den Direktor der Universitätsbibliothek Rostock, Dr. Hoffmann, ob die UB Rostock bereit wäre, an dem Projekt "Kooperation zwischen deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken und wissenschaftlichen Bibliotheken in den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion" als Partnerbibliothek für die UB Jerewan mitzuwirken. Dr. Hoffmann antwortete, daß das Umfeld für eine solche Zusammenarbeit günstig wäre, da es zwischen den beiden Universitäten Partnerschaftsverträge der Fachbereiche Physik, Chemie und Informatik gäbe und daß zwischen den beiden Bibliotheken langjährige Tauschbeziehungen existieren.

Das Projekt, initiiert und finanziert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), läuft drei Jahre und umfaßt 21 Teilprojekte. An jedem Teilprojekt ist eine deutsche Bibliothek und eine Bibliothek aus Mittel- und Osteuropa beteiligt, in einigen Fällen besteht die Partnerschaft zwischen einer deutschen Bibliothek und mehreren Bibliotheken aus Mittel- und Osteuropa. Das DBI ist für alle 21 Projekte verantwortlich. Die Ziele des Projektes werden gemeinsam mit den Partnerbibliotheken verwirklicht, ein großer Teil der Aufgaben wird vom DBI zentral für alle realisiert.

Für Dr. Hoffmann hieß es zuerst ein Konzept für das Projekt "Jerewan" zu erarbeiten, die finanziellen Mittel für drei Jahre zu planen und zu beantragen. Im Vorfeld mußten viele Fragen geklärt werden. Dr. Hoffmann bat mich, Kontakt mit der Partnerbibliothek aufzunehmen.

Nachdem die Verbindung im November 1996 hergestellt worden war, mußten wir schnell handeln, denn bis Ende 1996 sollten Zeitschriften bestellt werden und technische Ausrüstung gekauft werden. Es verblieben nur wenige Wochen. Für das Abonnement der Zeitschriften, das drei Jahre laufen sollte, steht eine bestimmte Summe zur Verfügung. Zuerst galt es aber, die Wünsche der Partnerbibliothek zu ermitteln, und diese Wünsche sollten nicht die Summe übersteigen. Mit Unterstützung der Abteilung Erwerbung der UB Rostock und den Projektbearbeiterinnen am DBI wurden entsprechend den fachlichen Schwerpunkten der Universität Jerewan 16 Fachzeitschriften bei sechs deutschen Verlagen bestellt.

Im nächsten Schritt sollte technische Ausrüstung für die UB Jerewan gekauft werden. Sie hatte ihre ganz konkreten Wünsche wie PCs, Kopiergeräte und Buchbindemaschinen. Beim Kauf vieler Geräte mußte man auch solche Aspekte berücksichtigen wie spätere Wartung und Beschaffung von Ersatzteilen. Der Transport der Sendung nach Jerewan war sehr abenteurlich und mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Der Weg führte von Rostock über Frankfurt und Paris bis nach Jerewan.

Außerdem sieht das Projekt einmalige Besuche der beiden Direktoren vor. Prof. Aslanian besuchte zusammen mit einem Mitarbeiter der UB Jerewan im Sommer 1997 für eine Woche die UB Rostock. Der Gegenbesuch von Dr. Hoffmann erfolgte im September 1997. Ich fuhr als Projektbearbeiterin und Dolmetscherin mit. Den Zeitpunkt für diesen Besuch schlugen uns unsere Jerewaner Kollegen vor, denn der September ist der schönste Monat in Jerewan.

2. Tagebuch einer Reise

Wir fliegen mit Armenian Airline von Frankfurt a.M. direkt nach Jerewan. Vier Stunden dauert der Flug. Als wir ankommen, ist es schon dunkel, vom Flugzeug aus sieht man nur ein paar Lichter. Eigentlich sollten es viel mehr sein, denn Jerewan ist eine Millionenstadt. Später erfahren wir, daß hier an Licht gespart wird, es hat wirklich Zeiten gegeben, da war die ganze Stadt nachts hell erleuchtet. Es dauert lange bis man sein Gepäck erhält und durch den Zoll geht. Prof. Aslanian wartet schon auf uns. Wir treffen uns wie gute alte Bekannte. Ich bekomme einen Riesenstrauß weiße Nelken von Anna, seiner Stellvertreterin. Wir fahren durch das nächtliche Jerewan. An beiden Straßenseiten sitzen Verkäufer und bieten ihre Waren an: Obst, Gemüse, Teppiche, Möbel, einiges direkt auf der Erde gestapelt, einiges auf Ständen. Eine ganze Verkaufsstraße. "Sehen Sie, wir haben auch unsere Supermärkte", kommentiert Prof. Aslanian. In der Nacht gibt es Gewitter und Regen. Wasser bedeutet hier Leben. Ein kostbares Gut. Im Hotel gibt es nur morgens und abends jeweils zwei Stunden Wasser.

Hier ist alles anders. Die Aprikosenmarmelade und die aromatischen Riesentomaten zum Frühstück. Um 9.00 Uhr werden wir abgeholt und fahren zur Bibliothek. Nach dem Regen präsentiert sich Jerewan mit klarer Luft und hellblauem Himmel, 2000 Meter über dem Meeresspiegel, ein buntes Straßenbild mit chaotischem Autoverkehr. Derjenige, der es eilig hat, hat Vorfahrt. Im Norden der Stadt erhebt sich majestätisch der Gipfel Ararat mit seinen 5.165 Metern, seine Spitze ist auch im Sommer verschneit. Ararat als Wahrzeichen und Symbol der Stadt. Wir fahren durch Jerewan, auf den Straßen herrscht ein geschäftliches Treiben, die vielen Autos hinterlassen schreckliche Abgase. Prof. Aslanian zeigt stolz auf ein paar Gebäude, die er gebaut hat. Er hat auch das Gebäude der Universität und der Bibliothek gebaut. Er war 25 Jahre Prorektor der Universität, war für verschiedene Ressorts zuständig, hat lange Jahre an der Universität Geschichte unterrichtet, seit zehn Jahren ist er Direktor der Bibliothek. Um den Neubau der Bibliothek mußte er lange kämpfen, denn viele Professoren sahen nicht ein, daß man einen Neubau braucht, sie wollten mehr Auditorien haben. Jetzt sind alle froh über den Neubau, der 1994 fertig wurde. Die Bibliothek wurde an das Hauptgebäude der Universität angebaut, nur eine Glaswand trennt die Bibliothek von der Universität. Die Bibliothek hat eine Fläche von 12.000 Quadratmeter und ist auf acht Ebenen verteilt, eine unter der Erde, eine nur halb unter der Erde. Auf der untersten Ebene befindet sich das Magazin, darüber der Arbeitsraum von Prof Aslanian. Wenn er gefragt wird, warum er so weit unten sitzt, antwortet er mit seinem liebenswerten Humor, daß er so die ganze Bibliothek auf seinen Schultern trägt. Im Sommer ist es hier unten auf jeden Fall kühler. Das ganze Gebäude ist aus Stein gebaut. Es wurden 2.500 Quadratmeter Marmor verbaut, weiter Travertin und andere Steinarten. Um 10.00 Uhr ist die offizielle Begrüßung im Arbeitszimmer von Prof. Aslanian. Alle Abteilungsleiter sind pünktlich da, das Armenische Fernsehen ist auch da, auch zwei Journalistikstudentinnen. Eine charmante Germanistikstudentin übersetzt die Reden von Prof. Aslanian und Dr. Hoffmann. Ich bin in diesem Augenblick froh, daß ich nicht zu übersetzen brauche, denn bei der Rede von Prof. Aslanian kann ich meine Tränen nicht aufhalten. Er spricht mit Liebe und Stolz von seinem Volk. Es ist das älteste christliche Volk der Welt, das schon im Jahr 301 das Christentum als staatliche Religion einführte. Ein Volk, das sehr viel unter fremder Herrschaft gelitten hat. Man muß die Geschichte kennen, um die Trauer und die Verbitterung in seiner Stimme verstehen zu können. Es ist die Tragödie eines ganzen Volkes. Darüber erzählte er uns bei seinem Besuch in Rostock im Sommer 1997 und auch während unseres Besuches in Jerewan. Armenien war durch seine geographische Lage als zentrales Duchgangsland zwischen Kleinasien, dem Iranischen Hochland und Mesopotamien ständig umkämpft, angegriffen, erobert und ausgeplündert durch Meder, Perser, Araber, Mongolen, Russen. Im 16. Jahrhundert eroberte das Osmanische Reich einen großen Teil Armeniens. Christen wurden im Osmanischen Reich als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt, man versuchte sie zu assimilieren, und wenn das nicht klappte, sie physisch zu vernichten. Ein Pogrom nach dem anderen folgten, viele Armenier mußten fliehen. 1915 wurde der schlimmste Völkermord an dem armenischen Volk verübt. Eine großangelegte, grausam geplante Aktion seitens der Jungtürken sollte zu der Vernichtung einer ganzen Nation führen. Diesem Völkermord fielen 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Die Erfahrung, der Vernichtung schutzlos ausgeliefert zu sein, hat sich tief in das Gedächtnis der Armenier eingegraben. Sie haben sich jahrhundertelang allen Assimilierungsversuchen widersetzt, dabei ihre Kultur aufbewahrt und als Nation überlebt. Ein Volk, das Hochachtung verdient.

Die Armenier sind ein dankbares Volk, das niemals denjenigen vergißt, der ihm geholfen hat. Das Armenische Fernsehen berichtet über das Projekt und die Hilfe aus Deutschland. Dreimal hintereinander wird die Sendung gezeigt. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) wird als Mittelgeber genannt, der Dank gilt dem ganzen deutschen Volk.

Der erste Tag in Jerewan bringt so viele neue Eindrücke mit sich, daß ich am liebsten alles in Bildern festhalten möchte. Wir gehen durch die Bibliothek. Zuerst besuchen wir den Lesesaal für Zeitungen und Zeitschriften. Die Fachzeitschriften sind in den Fachlesesälen. In diesem Lesesaal kann man die Tagespresse lesen und ein paar allgemeine Zeitschriften, in Armenisch, Russisch, Englisch und Französisch. Man kann hier auch IRAN Daily lesen und auch alle UNO-Materialien, die seit 1996 erschienen sind. Der Lesesaal verfügt über 30 Leseplätze, die an diesem Tag fast alle belegt sind. Früher kamen ca. 100 Zeitungen täglich, heute sind es nur 40 - 50. Außer diesem Lesesaal gibt es noch vier große Lesesäle: für Humanitäre Wissenschaften, für Naturwissenschaften, für Pädagogik und für Sprachwissenschaften. Weiterhin sind viele kleine Leseräume für 3 - 6 Leseplätze eingerichtet. Insgesamt verfügt die Bibliothek über 1100 Leseplätze. Der Bestand in jedem Lesesaal ist in einem Katalog verzeichnet. Man kann im Lesesaal den Bestand der ganzen Bibliothek nutzen. Man bestellt das Buch, der Bibliothekar ruft im Magazin an, und nach ein paar Minuten wird das Buch in den Lesesaal gebracht. Von diesem schnellen Service könnte jede Bibliothek träumen! Wir erkundigen uns nach den Zeitschriften, die im Rahmen des Projekts an die UB Jerewan geschickt werden. Es sind 16 Fachzeitschriften, vorwiegend in englischer Sprache: Applied Physics, Astronomy and Astrophysics, Journal of Chemical Research, Mathematische Nachrichten usw. Die Nachfrage nach diesen Titeln ist sehr groß, Lehrkräfte und Studenten nutzen sie sehr gern. Die Zeitschriften werden oft vorgestellt, eine Ausstellung über die letzten Nummern informiert ständig über das willkommene Angebot. Seitdem die Unterstützung aus Moskau wegfiel, hat die Bibliothek es sehr schwer, neue Bücher und Zeitschriften für ihre 14000 Leser zu erwerben. Die Bibliothek hat heute nur 300 Zeitschriftentitel. So kann man sich vorstellen, daß die 16 Fachzeitschriften für die Bibliothek wie ein Segen sind. Leider läuft das Abonnement Ende 1999 aus. Wird es den Kollegen gelingen, neue Sponsoren zu finden? Sie hoffen, daß sie einige Titel später aus eigener Kraft beziehen können.

Bis 1991 gehörte Armenien der Sowjetunion als Sowjetrepublik an. Die UB Jerewan, wie auch jede andere Bibliothek im Land, wurde zu SU-Zeiten direkt aus Moskau mit Literatur versorgt. Moskau erarbeitete die sogenannten thematischen Pläne aus, nach denen die Literatur zu erwerben war. Man bekam alles, was man brauchte, hatte aber wenig Platz für eigene Wünsche. Heute kann man selber bestimmen, was man erwirbt, es fehlt aber an Geld. Und dies macht sich bemerkbar bei den Neuzugängen, denn früher waren es 50.000 - 60.000 Bände pro Jahr, heute sind es nur noch 10.000 Bände, davon 60 - 70 % Geschenke von Personen und Organisationen. Das Geld für den Erwerb neuer Bücher und Zeitschriften bekommt man heute vom zuständigen Ministerium, über ein bestimmtes Budget verfügt der Rektor, er kann über den Erwerb wissenschaftlicher Literatur entscheiden. Und wie erfährt man, welche Neuerscheinungen es auf dem Markt gibt? Die Neuerscheinungen sind in der Buchhandlung. Die Bibliothekare gehen in die Buchhandlung und informieren sich darüber, dann wählen sie die Bücher aus und kaufen sie, wenn das Geld dafür reicht. Noch gibt es keine bibliographischen Dienste, die über die Neuerscheinungen informieren und keine Verlagsinformationen. Das Verlagswesen entwickelt sich nur langsam. Die Kollegen beklagen sich nicht. Im Gegenteil. Alle sprechen davon, wie sehr sich ihre Lage gebessert hat nach dem Umzug in das neue Gebäude.

Am zweiten Tag unseres Besuches werden uns die Stapelschneidemaschine und die Klebebindemaschine vorgeführt. Damit werden später die Zeitschriften gebunden, die im Rahmen des Projektes geschickt werden. Damit wird aber auch das für Studenten so notwendige Lehrmaterial gebunden. Wir besuchen danach die EDV-Abteilung, eine ziemlich junge Abteilung, denn die Bibliothek hat erst seit Mai 1997 Computer und Internet-Anschluß. Die Abteilung leitet Tigran, Prof. Aslanian ist stolz auf ihn: "Einer der besten Computerspezialisten in Jerewan", sagt er. Der Abteilung unterstehen auch die zehn Mitarbeiter, die die rechnergestützte Katalogisierung vornehmen. Die Schweizer Izmirlian Foundation schenkte der Bibliothek 34 Computer, 2 Servers, ein paar Drucker und Computerzubehör. Die Software für das lokale System der Bibliothek wurde in Großbritannien von "Electronic Online Systems International - EOSi" entwickelt und heißt TinLib. Das lokale System soll alle Module enthalten: für Erwerbung, Zeitschriften, Katalogisierung, OPAC und Ausleihe. Mit der Katalogisierung wurde bereits angefangen. Ein Vorteil dieser Software ist, daß sie die Katalogisierung in Armenisch, Russisch und Latein erlaubt. Prof. Aslanian erzählt, daß Chris Kirk, ein Spezialist von EOSi, der das System betreut, im November 1997 Schulungen für das Personal durchführen wird. Die UB Jerewan ist die erste Bibliothek in Jerewan, die mit der Automatisierung angefangen hat. Sie leistet somit Pionierarbeit. Tigran erzählt von den vielen Vorhaben. Ein Armenian University Libraries Network soll aufgebaut werden. In Armenien gibt es 10 staatliche und über 20 private Universitäten. Viele von ihnen haben Computer und Internet-Anschluß, aber kein Geld für Bibliotheksautomatisierung. Die UB Jerewan könnte das zukünftige Zentrum eines Verbundkataloges sein, die anderen Bibliotheken könnten angeschlossen werden, im gemeinsamen Verbundkatalog online recherchieren, ihre eigenen Bestände katalogisieren und hinzufügen. Weiterhin könnte die UB Jerewan mit Hilfe von TinLib eine Armenische Nationalbibliographie in Form einer Datenbank erstellen, diese Datenbank könnte vielleicht über Internet zugänglich gemacht oder als CD-ROM herausgegeben werden. Die UB Jerewan könnte ihre Erfahrungen weitergeben und Schulungen für Bibliothekare durchführen, vielleicht könnte an der Universität eine Fakultät für Bibliothekswissenschaft und Informatik eröffnet werden. Tigran hat viele Ideen. Im November 1997 findet ein Treffen zwischen dem Rektor der Universität Jerewan und allen Bibliotheksdirektoren aus Jerewan statt. Dies ist der Anfang einer neuen Zusammenarbeit. Ein Ziel unseres Projektes ist die elektronische Dokumentenlieferung. Leider gestattet das vorhandene Leitungsnetz in Jerewan derzeit nur eine sehr geringe Datenübertragungsrate. Dies soll sich aber 1998 ändern, denn das Leitungsnetz soll verbessert werden. Dann können wir wieder über die Nutzung von DBI-LINK und SUBITO reden.

Wir besuchen die Abteilung Sondersammlung und müssen uns danach beeilen, denn in Matenadaran erwartet uns eine deutschsprachige Führung. Matenadaran ist die Aufbewahrungsstätte für alte Handschriften. Das Gebäude befindet sich auf einem Berg, die meisten Räume sind in dem Felsen gebaut worden. Tausende armenische Handschriften wurden infolge unzähliger Kriege vernichtet. Ungefähr 25.000 handschriftliche Bände sind erhalten geblieben, davon werden 10.000 Folianten und 2.500 Fragmente in der Sammlung von Matenadaran aufbewahrt. Die übrigen werden in verschiedenen Bibliotheken und Museen der Welt aufbewahrt, so zum Beispiel in Venedig, Jerusalem, Wien, Beirut, Paris und London. Mit der Erfindung des armenischen Alphabets durch Mesrop Maschtoz im Jahr 405 nahm auch die Geschichte des armenischen Buches ihren Anfang. Die älteste Handschrift auf Pergament, die hier aufbewahrt wird, stammt aus dem Jahr 887, es ist das Lasarew-Evangeliar. Die älteste Handschrift auf Papier datiert aus dem Jahr 981. Im ersten Stock kann man in einer Ausstellung Werke zu Geschichte, Philosophie, Mathematik, Medizin, Astronomie und Geographie, auch handschriftliche Noten in Form von roten Punkten, bewundern. Werke einiger antiker Denker sind nur in armenischer Übersetzung erhalten geblieben, wie beispielsweise die "Chronik" des Eusebios von Caesarea, das Traktat des altgriechischen Philosophen Zenon "Über die Natur" und andere, deren Originale verlorengingen. Ein Sonderstand zeigt die größte Handschrift der Welt, sie wurde in Armenisch geschrieben und wiegt 34 kg. Neben diesem Riesenbuch liegt ein winziges Büchlein mit dem Format 3 x 4 cm, es wiegt ganze 19 Gramm. Man kann hier auch das erste in Armenisch gedruckte Buch sehen, es ist "Parsatumar", das 1512 in Venedig herausgegeben wurde. Bewundernswert auch die Farbenpracht der Illustrationen, die Farben sehen ganz frisch aus. Malerschulen gab es in Armenien schon im 5. Jahrhundert.

Die Handschriftensammlung des Matenadaran hat große Bedeutung für die Erforschung der Kultur und Geschichte nicht nur Armeniens, sondern des gesamten Transkaukasiens, Kleinasiens und vieler Länder des Nahen Ostens. Am letzten Tag bekommen wir viele Bücher für die UB Rostock geschenkt, darunter ist ein schöner Bildband über Matenadaran.

Am Abend sortiere ich meine Notizen, dabei lese ich: "Besuch in der Sondersammlung. 20.000 Bände, das älteste Buch - eine deutsche Bibel v. 1600. Honigtorte, Kaffee und Obst, zweites Stück: Sie sind im Osten!" Ich muß schmunzeln, trotz Protest bekam Dr. Hoffmann ein zweites Stück von der Honigtorte mit der Bemerkung: "Sie sind im Osten!"

Der Sonnabend ist für die Bibliothek auch ein Arbeitstag, nur etwas kürzer als die anderen. Ein interessantes Treffen mit Prof. Martirossian, dem Rektor der Universität Jerewan, findet an diesem Tag statt. Trotz des vollen Terminkalenders findet er Zeit für dieses Treffen.

Die letzten beiden Tage in Jerewan vergehen im Nu. Freie Zeit bleibt nur am späten Abend. Die Straßen sind noch belebt, trotz dieser späten Stunde. Wir fragen nach dem Weg zum Platz der Republik, und man freut sich, daß man uns helfen kann. Wir stellen fest, daß man auch nachts in Jerewan spazierengehen kann, ohne daß man Angst haben muß .

In der Bibliothek möchten uns die Kollegen alles zeigen, überall empfangen sie uns ganz herzlich und bewirten uns mit selbstgebackenem Kuchen und Kaffee, Obst gehört immer auf den Tisch. Beim Kaffeetrinken besprechen wir in der Abteilung Benutzung Fragen der Fernleihe. Auch hier hat sich einiges geändert, die finanziellen Schwierigkeiten machen sich bemerkbar. Fernleihe ist zur Zeit nur innerhalb der Stadt möglich, es sind auch nicht alle Bibliotheken daran beteiligt. Man bearbeitet 200 - 300 Bestellungen pro Jahr, früher hatte man sogar Bestellungen aus dem Ausland. Man hofft, daß sich bald einiges ändert. Wir fragen nach der Ausbildung der Bibliothekare. Alle Bibliothekare haben Hochschulausbildung, dabei ist die Beherrschung einer Fremdsprache Pflicht. Bei Bewerbungen kann Prof. Aslanian entscheiden, wer eingestellt wird. Er erzählt, daß er sich zuerst die Zeugnisse ansieht. Wer in die nähere Auswahl kommt, muß bei ihm einen Aufsatz schreiben, das Thema bestimmt er. Ist es wieder ein Scherz von ihm? Nein, meint er, dies ist wahr. Wie kann jemand, der seine Muttersprache nicht richtig beherrscht, seine Heimat lieben? Und wie kann jemand, der seine Heimat nicht liebt, für sie arbeiten? Wer die "Prüfung" besteht, wird zuerst auf Probe eingestellt. Prof. Aslanian wird gleichzeitig geliebt und gefürchtet, er hat immer ein Ohr für die persönlichen Sorgen und Probleme seiner Mitarbeiter, duldet aber keine Schlamperei. Er ist so etwas wie eine Vaterfigur für alle. Wieso, darf denn Dr. Hoffmann nicht allein über die Bewerbungen entscheiden? Dr. Hoffmann erklärt die Prozedur in Deutschland.

Wir besuchen auch die Gedenkstätte für die Opfer des Genozid von 1915. Am 24. April, dem Jahrestag des grausigen Blutbades, versammeln sich hier in trauerndem Schweigen Hunderttausende von Armeniern. Die Gedenkstätte besteht aus zwei Teilen - zwölf Basaltstelen, geneigt über dem ewigen Feuer als Symbol der Trauer, und einem hohen spitz zulaufenden Steinmast, der gespalten ist, Symbol der Wiedererstehung des armenischen Volkes.

Nach diesem Besuch fällt es schwer, sich an dem sonnigen Tag zu erfreuen. Zu schwer lastet die Vergangenheit über diesem friedlichen Volk. Prof. Aslanian möchte uns den Sport- und Konzertkomplex zeigen, den man von hier aus zu Fuß erreicht. Es ist ein riesiges Gebäude, architektonisch interessant gestaltet, mit ins Relief eingefügten Treppen, Fontänen und Wasserbecken. Die beiden Säle, der eine mit 5.000 Plätzen und der andere mit 1.500 Plätzen, sind durch eine drehbare Tribüne verbunden. Hier finden nicht nur Sportwettbewerbe, sondern auch Konzerte und andere Auftritte statt.

Am letzten Tag werden im Arbeitszimmer von Prof. Aslanian noch einige wichtige Fragen besprochen. 1998 sind Schulungen geplant, zwei Fachleute aus der UB Jerewan sollen nach Rostock kommen. Es gibt noch sehr viel zu tun. "Wir bleiben ja im Kontakt". Und keiner möchte an Abschied denken. "Wir sind ja noch am Abend zusammen". Wir gehen am Abend ins Konzert und hören den Akademischen Chor Armeniens mit dem berühmten Dirigenten Ohannes Tchekdjian. Der Saal des Operntheaters ist voll, auch Familien mit Kindern sind hier. Es ist immer voll, man muß Glück haben, um Karten zu bekommen, und diese sind für die armenischen Verhältnisse teuer, eine Monatsmiete zahlt man für ein Konzert.

Die Zeit des Abschieds rückt näher. In meinem Gepäck sind vier volle Filme, ein Aquarell, auf dem der Berg Ararat gemalt ist, ein Ölgemälde mit dem Sewan-See, ein paar Bücher, unter anderem zwei Bände mit armenischen Gedichten und kleine Souvenirs aus Stein. Dr. Hoffmann muß sich von den schönen Steinen trennen, die er bei dem Ausflug zum Sewan-See gesammelt hat, da er noch die Bücher für die UB Rostock im Gepäck hat.

Der Abschied fällt uns schwer. Wir haben in dieser Woche liebe Menschen kennengelernt und Armenien liebgewonnen. Es war ein Besuch bei Freunden.


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