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Hans Peter Thun
Eine Einführung in das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland
DEUTSCHES BIBLIOTHEKSINSTITUT
1998


2.1 Öffentliche Bibliotheken

Die letzten statistischen Daten zu Öffentlichen Bibliotheken finden Sie jeweils auf dem Server des Deutschen Bibliotheksinstituts, wenn Sie hier anklicken. In der Folge werden abgerundete Werte verwendet.

Find an English summary of public libraries in Germany by the same author at the PubiCA server at Croydon, UK. Auf diesem Server finden Sie auch Kurzdarstellungen über das Öffentliche Bibliothekswesen anderer europäischer Länder.

Es gibt heute nominell rund 13.500 Öffentliche Bibliotheken in Deutschland. Das ist zunächst nichts weiter als eine Zahl und sagt nichts über die Qualität oder Bedeutung aus. Hier sind einfach einmal alle Häuser und Räume gezählt, von denen jemand behauptet, dieses sei eine Öffentliche Bibliothek.

Eine andere Zahl wird präziser: Die Bundesrepublik zählt 16.000 Gemeinden, aber in nur rund 2.000 Gemeinden gibt es Öffentliche Bibliotheken mit bibliothekarisch geschultem Personal - insgesamt etwa 4.000 Bibliotheken. Alle Großstädte über 100.000 Einwohner haben Öffentliche Bibliotheken, und bis zu einer Einwohnerzahl von 20.000 ist das Bibliotheksnetz noch relativ dicht, hier fehlt nur in 10% der Kommunen eine Öffentliche Bibliothek mit hauptamtlichem Personal. Zwischen 5.000 und 20.000 Einwohnern besitzt dagegen nicht einmal mehr die Hälfte der Gemeinden eine solche Einrichtung.

Es kann darauf hingewiesen werden, daß in der Deutschen Demokratischen Republik - entsprechend der zentralistischen Staatsform - auch ein quantitativ wesentlich dichteres, hierarchisch gegliedertes Bibliotheksnetz entwickelt war. Man darf dieses nominell vorhandene Netz jedoch nicht kritiklos als positiv hinnehmen, denn es entsprach hinsichtlich der Vielfalt der dargebotenen Literatur und der räumlichen und technischen Ausstattung überwiegend nicht dem, was westliche Standardwerte wirklich meinten, wenn sie von Öffentlichen Bibliotheken sprachen. Nach der Wiedervereinigung mußte auch das Bibliothekswesen dieser Region der föderalen Struktur angepaßt werden, was zu einer Verringerung der Einrichtungen, vor allem der öffentlichen Werksbibliotheken führte. Etwa 30% der in früheren Statistiken gezählten Bibliotheken stellten ihre Arbeit ein, in 98 Fällen bedeutete dieses das Ende der gesamten Bibliotheksversorgung für eine Gemeinde. Die Einrichtung von 30 neuen Fahrbibliotheken, deren Fahrzeuge nach der politischen Wende vom Bundes-Innenministerium als Strukturmaßnahme finanziert wurden, konnte in den sogenannten "neuen" Ländern aber teilweise die negative Reduzierung ortsfester Bibliotheken ausgleichen.

Getragen werden Öffentliche Bibliotheken überwiegend von den Gemeinden oder der Kirche. Besonders im ländlichen Bereich, wo die Finanzkraft der Gemeinden klein ist, treten auch regional übergeordnete Träger oder Mitträger auf, vor allem die sog. Kreise oder Landkreise, das sind Kommunalverbände mit Selbstverwaltungsrechten, insbesondere in den Bereichen Soziales, Wohlfahrt und Kultur.

Eine kurze Anmerkung zur Charakterisierung soll zum Typus der kirchlichen Öffentlichen Bibliotheken gesagt werden. Nominell ist ihre Zahl groß, es sind rund 5.500 Einrichtungen einschließlich Zweigstellen. Unter den bibliothekarisch hauptamtlich betreuten Öffentlichen Bibliotheken Deutschlands repräsentieren sie aber nur 240 von insgesamt 4.500 und dort nur 2,7 Millionen Medien von 107 Millionen. Das Gros der kirchlichen Bibliotheken wird nebenamtlich betreut, insgesamt rund 5.300 Bibliotheken mit 18 Millionen Medien. Es läßt sich leicht errechnen, daß der Durchschnittsbestand sehr klein ist, daß es sich dabei also um Bibliotheken handelt, die vor allem die Bibliotheksversorgung auf der untersten Stufe, also in den kleinen Gemeinden sicherstellen oder ergänzen. Kirchliche Öffentliche Bibliotheken finden sich vor allem in den Bundesländern mit vorwiegend katholischer Bevölkerung. Sie machen dort bis zu 33% der Bestände aus, während diese Prozentzahl in anderen Bundesländern um die 15% liegt oder gar bis auf 0,6% absinkt.

Das Prinzip der Kulturhoheit bewirkt, daß einheitliche Aussagen über die Qualität deutscher Öffentlicher Bibliotheken nicht gemacht werden können. In den erwähnten hauptamtlichen Bibliotheken stehen etwa 103 Millionen Medieneinheiten bei 278 Millionen Entleihungen und einem Personal von 14.000 Mitarbeitern.

Bibliothekarische Gremien haben mehrfach Standardwerte für den Betrieb einer deutschen Öffentlichen Bibliothek entwickelt, die aber nur selten erreicht werden.

Historisch gesehen hat sich die deutsche Öffentliche Bibliothek seit der Jahrhundertwende aus einer eher erzieherisch-bildenden Ausleihbibliothek für die einfacheren Bevölkerungsschichten entwickelt, erhielt nach dem 2. Weltkrieg einen Schub in Richtung auf ein anglo-amerikanisches Selbstverständnis, hin zu einer Informationseinrichtung für jedermann, ohne jedoch in der Lage zu sein, das Konzept "Informationszentrum" wirklich bis zum Ende zu vollziehen.

Etwa ab Mitte der 70er Jahre setzte eine Gegenbewegung zu anderen Themen ein, die mit deutscher Radikalität vergaß, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. So ist denn die durchschnittliche deutsche Öffentliche Bibliothek heute auch dort, wo sie sich modern präsentiert, weit entfernt von einer Reference-Library, die im Bewußtsein ihrer Benutzer als Informationszentrum verankert ist, und präsentiert sich dementsprechend in der Regel als Ausleihbibliothek mit einem verhältnismäßig kleinen Bestand an Präsenz- und Informationsbeständen. Die Öffentliche Bibliothek ist nur in Ausnahmefällen ein Element in der Informationsversorgung der jeweiligen Region. Es gibt Ausnahmen, aber sie sind wirklich Ausnahmen. Es kann gesagt werden, daß es die deutsche Öffentliche Bibliothek nach dem Weltkrieg nicht verstanden hat, sich als Informationseinrichtung unentbehrlich zu machen.

Aspekte wie "Kommunikationszentrum", "Stadtkulturarbeit", "Soziale Bibliotheksarbeit", "Leseförderung", "Bestandspräsentation" und andere, eher kulturell oder sozial geprägte Themen haben Eingang in das Denken deutscher Bibliothekare gefunden, und die Ergebnisse dieses Nachdenkens bestimmen auch heute das Bild einer durchschnittlichen Öffentlichen Bibliothek eher als die Informationsbeschaffung, wenn auch der Eindruck entsteht, daß sich mit der Entwicklung der EDV- und Datenbankindustrie sowie der rapide wachsenden Bedeutung der weltweiten Vernetzung und unter dem gleichzeitig immer spürbarer werdenden Erfolgsdruck der Sparjahre nunmehr bei den Öffentlichen Bibliotheken wiederum eine kleine Wende zu größerer Offenheit für die Informationsbeschaffung anbahnt.

So wenig bei einem derart unterschiedlichen Entwicklungsstand Durchschnittszahlen aussagen, seien diese Werte hier doch einmal genannt:

Auf etwa 17.000 Einwohner kommt in der Bundesrepublik eine Öffentliche Bibliothek mit einem Bestand von 1,7 ME pro Einwohner. Pro Einwohner werden jährlich 3,7 Medien entliehen, der Medienbestand wird dabei 2,5 mal umgesetzt. Die Gemeinden geben im Durchschnitt DM 17,80 je Einwohner für die Bibliothek aus, DM 2,40 je Einwohner für die Erwerbung. Für je 10.000 Einwohner gibt es knapp 2 Personalstellen. Erwähnt werden muß, um die tatsächliche Spannbreite dieser Zahlen deutlich zu machen, daß es bei allen Durchschnittszahlen zahlreiche Bibliotheken gibt, die diese Werte um mehr als das Doppelte übertreffen oder um die Hälfte unterschreiten.

Die durchschnittliche deutsche Öffentliche Bibliothek ist an 22 Stunden in der Woche geöffnet und man meint, daß etwa 15% der Bevölkerung eine Öffentliche Bibliothek benutzen. Je nachdem, was man unter Benutzung versteht, oder wie man diese Größe statistisch erhebt oder zählt, kann sie in einzelnen Fällen auch höher eingeschätzt werden. Die Benutzung ist vielfach noch kostenlos, doch steigt die Anzahl der Bibliotheken, die unterschiedlichste Gebühren erheben, besonders in den letzten drei Jahren kontinuierlich an. Die Entwicklung geht deutlich in Richtung einer Kostenbeteiligung des Bürgers. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt drückt sich das noch in einer mehr oder weniger undifferenzierten allgemeinen Benutzungs- oder Ausleihgebühr aus und wird sich, wenn die wirtschaftliche Entwicklung sich nicht positiv verändert, in mittlerer Zukunft sicher zu einer nach Dienstleistungsqualität gestaffelten Gebührenordnung entwickeln müssen, analog der Entwicklung in Großbritannien. Hiervon könnten vor allem Informationsdienstleistungen betroffen sein, die es aber gegenwärtig im Angebot der meisten Bibliotheken noch gar nicht in einer Form gibt, die eine entsprechende Gebührenordnung möglich machen würde.

Unterstützt wird diese Tendenz durch das in Sparzeiten notgedrungen steigende Interesse der Kommunen, in ihren Bibliotheken neue Formen der Betriebsorganisation einzuführen, ein erfolgsorientiertes Marketing, Controlling, größere Selbständigkeit der Bibliotheken bei der Verwaltung ihres Etats mit dem daraus folgenden Zwang, betriebswirtschaftlich zu denken, den Kosten-Nutzen-Faktor durch eigene Einnahmen zu verbessern. Betrüblich nur, daß sich viele dieser neuen Organisationselemente erst jetzt einführen lassen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Kommunen sich von ihnen wohl eher Geldersparnis als Qualitätssteigerung erwarten.

Die deutsche Öffentliche Bibliothek ist eine Freihandbibliothek und organisiert sich von einer bestimmten Ortsgröße an im allgemeinen als ein System, zu dem eine Haupt- oder Zentralbibliothek mit Zweigbibliotheken und ggf. Spezialeinrichtungen gehören. Die Hauptbibliothek bietet dann einen gewissen qualitativen Überbau zu den in den Zweigbüchereien geführten Beständen und übernimmt zentrale Leistungen für das System, z.B. bei der Katalogisierung, der Erwerbung und der Einarbeitung der Medien, beinhaltet auch in Großstadtbibliotheken einen bescheidenen Informationsdienst, der aber nur ganz selten spezielle Dienstleistungen, etwa für Handel und Industrie, einschließt. Dieses leisten in Deutschland eher die Industrie- und Handelskammern und firmeninterne Aktivitäten oder private Informationsbroker.

Erst wenige Bibliotheken unterhalten einen Datenbankservice zur Informationsbeschaffung für ihre Benutzer. Das in Frankreich so populäre Medium Bildschirmtext (BTX/Datex-J/PRESTEL) war in Deutschlands Bibliotheken nie sehr stark verbreitet, seine Inhalte könnten aber im Rahmen der Benutzung des Online-Dienstes T-Online künftig doch noch den Bibliotheksbenutzern zugute kommen. Der Einsatz von Telefaxgeräten hat auch in den Öffentlichen Bibliotheken in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung genommen.

Nach vorsichtigem Beginn vor etwa 25 Jahren hat auch die EDV mittlerweile Einzug in die besser ausgestatteten Öffentlichen Bibliotheken gefunden. Nachdem man zunächst nur die Ausleihe automatisierte, arbeitet man heute doch zunehmend mit ganzen Bibliotheksverwaltungssystemen, zumal auch für kleinere Bibliotheken mittlerweile finanziell erschwingliche Software entwickelt wurde. Verglichen mit Spitzenwerten des europäischen Auslands - siehe Studie der EC "Public Libraries and the Information Society" mit Erhebungen von 1995 - sind die geschätzten 20% automatisierter deutscher Bibliotheken allerdings recht gering. In Dänemark z.B. wurde 1997 die letzte Öffentliche Bibliothek automatisiert, Länder wie England, Finnland, Irland liegen oberhalb von 80%. Bei aller Vorsicht vor solchen Zahlen, die kaum Aussagen qualitativer Art erlauben, zeigen sie doch Trends. Die eingesetzte Software ist, wie in Deutschland üblich, von großer Vielfalt gekennzeichnet. Erhebungen, die in Heft 12,1996 der BIBLIOTHEKSDIENST veröffentlicht sind, belegen dies. Es werden mehr als 30 unterschiedliche Systeme in rund 500 Bibliotheken eingesetzt, derzeit am häufigsten BIAP, SISIS, BIBLIOTHECA III, ALLEGRO, URICA, BASIS, BIS-LOK. In die regionalen Katalogisierungsverbünde sind die Öffentlichen Bibliotheken nicht eingebunden.

Moderne Medien, wie Videokassetten, CDs, CD-ROM oder Computersoftware gehören in fortschrittlicheren Öffentlichen Bibliotheken zum Angebot, CD-ROM-Netze sind dagegen noch selten (zu Beginn 1997 waren 4 Bibliotheken bekannt). Deutsche Öffentliche Bibliotheken mit Internet-Angeboten nehmen ständig zu, im Juli 1998 waren etwa 220 Einrichtungen in irgend einer Weise über das Internet erreichbar. Diese Zahl darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch hier die Spannbreite  groß ist; von der kleinen Textseite, die man auf dem Server einer  anderen Einrichtung plaziert hat, reicht sie bis zum attraktiven Komplettangebot, wie wir es z.B. bei der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, den Stadtbibliotheken Bremen, Köln oder Stuttgart finden ,,können.  Rund 20 Bibliotheken boten einen WWW-Zugang zum OPAC an, 42 Bibliotheken 1997 ihren Benutzern auch Internet-Zugang in der Bibliothek. Die jeweils neuesten Zahlen sind über die Liste "Deutsche Bibliotheken Online" zu verfolgen.

Audiokassetten, Dias, Schallplatten, Mikro-Fiche, sind längst normaler Bestandteil des Angebots. Übliche Schwerpunkte entwickelter Bibliotheken sind die Bibliotheksarbeit für Kinder und Jugendliche, die sog. "soziale Bibliotheksarbeit", hier besonders die für ausländische Bürger; die Musikbibliothek und auch die Schulbibliotheksarbeit Sie gehören in größeren Städten heute eher zum normalen Angebot. Schulbibliotheken können sowohl Teil einer Öffentlichen Bibliothek sein als auch selbständige Einrichtungen der Schule. Es findet sich sowohl die nur für die Schüler angebotene Bibliothek als auch die allgemein zugängliche Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek im Schulgebäude. In einigen größeren Städten wurden zur Unterstützung der Schulbibliotheksarbeit sog. "Schulbibliothekarische Arbeitsstellen" eingerichtet, von denen es derzeit 32 gibt.

Es existieren etwa 140 Einrichtungen, die in unterschielicher Trägerschaft als Artotheken Kunstwerke verleihen und etwa 180 Fahrbibliotheken (Fahrzeuge), deren Zahl in den letzten beiden Jahren rückläufig ist.

Das deutsche Öffentliche Bibliothekswesen kann in seiner Gesamtheit wohl nicht zur Spitze des internationalen Standards gerechnet werden. Dazu ist die Spannbreite in Flächendeckung, Ausstattung, Dienstleistungsform und -qualität zu groß, die Verankerung im Bewußtsein der Politiker und der Öffentlichkeit insgesamt gesehen noch zu gering. Es lassen sich zwar in Deutschland sowohl bestechende Beispiele modernen Bibliotheksbaus und fortschrittlicher Bibliotheksarbeit finden, leider aber auch ärmlichste Rückständigkeit. Gäbe es so etwas wie eine Bibliotheks-Europaliga, dann würde Deutschland hier vermutlich hinter Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden im ständigen Kampf um Platz vier zu finden sein.

Bei anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten der öffentlichen Hand und der in deutschen Amtsstuben vorherrschenden Geringschätzung kultureller Belange wird der Spielraum für die Anpassung der Dienstleistungen Öffentlicher Bibliotheken an den Bedarf der modernen Gesellschaft und für den Ausbau des Bibliothekswesens immer geringer werden in dem Maße, wie Öffentliche Bibliotheken es nicht verstehen, sich in gesellschaftlich wichtigen Rollen zu etablieren und unentbehrlich zu machen .

Die Umsetzung moderner Marketingmethoden und die Einführung neuer erfolgsorientierter Betriebsfomen, und neue Finanzierungsquellen, mögen in einer negativen Entwicklung zwar für einen begrenzten Zeitraum Aufschub schaffen, lösen aber - vor allem vor dem Hintergrund des Sparzwangs - das Problem nicht einmal mittelfristig.

Die Öffentliche Bibliothek als Garant des freien Zugangs zu multimedialen Informationsquellen, als Vermittler von Medien- und Informationskompetenz und Partner im Netz lebenslangen und selbststrukturierten Lernens kann in der Informationsgesellschaft eine zentrale und wichtige gesellschaftliche Rolle spielen, wenn sie diese Rolle akzeptiert und entsprechende Angebote entwickelt. Ohne eine wirtschaftliche Erholung oder eine Veränderung der Werteskala bei den Bibliotheksträgern werden die deutschen Öffentlichen Bibliotheken aber viel Kreativität und Kooperationsbereitschaft brauchen, um sich über föderale und finanzielle Barrieren hinweg entscheidend weiterentwickeln zu können.


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