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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 99

Zeitschriftenerwerbung - das Ende der "Regelstudienzeit"

Heike Seidel

Vor einigen Monaten erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Cartoon von Thomas Plaßmann. Auf dem Bild ist ein Tisch zu sehen, an dem drei Studierende sich über ein einziges Buch beugen. Hinter dem Tisch hat sich eine lange Schlange ihrer Kommilitonen gebildet, von denen einer bittet: "Laßt mich auch mal ans Buch! Meine Regelstudienzeit läuft ab!!"

Ganz so katastrophal ist die Situation an den deutschen Hochschulbibliotheken noch nicht, doch der Trend geht in diese Richtung. Wie stark die Krise der Literaturversorgung auch in das Bewußtsein der Studierenden gedrungen ist, wurde durch die Aktionen während der bundesweiten Streiks des vergangenen Winters deutlich, als u.a. durch das Putzen von Autoscheiben Geld für die notleidenden Bibliotheken beschafft wurde.

Daß gerade in Zeiten sinkender Erwerbungsetats bei gleichzeitig zum Teil drastisch steigenden Preisen die Bibliotheken einen besonders kritischen Blick auf die Entwicklungen des Marktes werfen, ist verständlich. Besonders heikel stellt sich für viele Bibliotheken die Situation im Bereich der Zeitschriftenerwerbung dar, der sich mittlerweile zu einer Art "Faß ohne Boden" entwickelt hat.

Im folgenden soll dargestellt werden, welche Probleme der Zeitschriftenerwerbung sich für eine Institutsbibliothek - die Zweigbibliothek Chemie der Universitäts- und Landesbibliothek Münster - ergeben.

Der Bibliotheksetat wird zu über 95% für Zeitschriften und Fortsetzungswerke sowie die notwendigen Buchbinderarbeiten ausgegeben. Die von der Zweigbibliothek Chemie der ULB Münster zu tragenden Preissteigerungen (bezogen auf die Listenpreise der Verlage) betragen vom Bezugszeitraum 1998 auf den Bezugszeitraum 1999 teilweise mehr als 30%, wobei das Gros der Zeitschriften um etwa 15 bis 20% teurer wurde. Am unteren Ende der Skala findet sich jedoch auch ein Referateorgan, das mit einer Preissteigerung von rund 4,5% auskommt. Diese Preissteigerungen haben die Kündigung von Zeitschriftenabonnements bereits fast zu einem jährlichen Ritual werden lassen. Bibliotheksbenutzer fragen nicht mehr: "Müssen denn in diesem Jahr wieder Zeitschriften abbestellt werden?". Die Frage lautet mittlerweile: "Welche Abos haben Sie denn dieses Jahr gekündigt?".

Die Preissteigerungsraten liegen deutlich über der Inflationsrate und sind - da die Listenpreise der Verlage verglichen wurden - nicht von den schwankenden Devisen-Wechselkursen beeinflußt. Der - im Vergleich zum Vorjahr - günstige Wechselkurs von US-Dollar und Britischem Pfund hat in diesem Jahr dazu beigetragen, daß die Abonnementskündigungen bescheidener ausfallen konnten, als es sonst der Fall gewesen wäre. Dennoch: die Zweigbibliothek Chemie hat Zeitschriften im Wert von ca. 45.000,- DM abbestellen müssen.

Seitens der Verlage werden die Preissteigerungen i.d.R. mit einer erhöhten Seitenzahl sowie der hohen Qualität der Publikationen begründet, wobei die Qualität der Journale entweder durch den Impact Factor oder die hohe Zahl der eingesandten Manuskripte "belegt" wird. Der Impact Factor als Bewertungsmaßstab ist sehr umstritten1). Allerdings wird er in Ermangelung eines aussagekräftigeren Instruments weiterhin bei der Beurteilung von Zeitschriften mit herangezogen werden müssen. Die Tatsache, daß viele Manuskripte "auf dem Markt" sind, liegt sicher auch am "Publish or perish"-Prinzip in den Wissenschaften. Solange die "Qualität" von Wissenschaftler nach dem Umfang ihrer Publikationenliste beurteilt wird, sind hier keine gravierenden Änderungen zu erwarten. Doch sollte gerade die Filterfunktion der Verlage und Redaktionen regulierend wirken. Eine Zeitschrift, die eine ständig steigende Zahl von Beiträgen höchst unterschiedlicher inhaltlicher Qualität veröffentlicht, ist in absehbarer Zeit das Geld der Subskribenden nicht mehr wert.

Eine weitere Begründung für deutliche Preissteigerungen sind die sogenannten "added values". Dazu gehören dann etwa die Umstellung der Lieferung aus den USA auf dem Seeweg auf die deutlich teurere Beförderung per Luftpost, die "kostenlose" Lieferung zusätzlicher Schriften oder der "kostenlose" Zugriff auf Online-Versionen für Abonnenten der Print-Ausgabe. Dies alles, ohne daß die Bibliothek diese "Zusatznutzen" bestellt hätte oder sie abbestellen könnte, wenn sie sie nicht nutzen möchte oder sich die zusätzlichen Kosten schlicht nicht leisten kann.

Des weiteren sind die von Verlagen geschnürten Zeitschriften-Pakete anzusprechen. Gegen die Pakete ist nichts einzuwenden, sofern die Zeitschriften weiterhin einzeln bezogen werden können und die Verlage für den Bezug eines Zeitschriften-Paketes einen Preisnachlaß auf die Einzelpreise gewähren. Bedenklich werden die Pakete immer dann, wenn die Titel nicht mehr einzeln zu erwerben, sondern nur noch im Paket erhältlich sind. Im konkreten Fall heißt dies, das die Zweigbibliothek Chemie ein Paket von vier Zeitschriften erwerben soll, nur um die eine Zeitschrift zu bekommen, deren Bezug gewünscht wird. Es ist nicht einzusehen, daß Bibliotheken mit ihren knappen Etats in einem Paket - von den Verlagen ausgewählte! - Zeitschriften zwangsweise abonnieren müssen, die vor Ort nicht benötigt werden.

Die "Regelstudienzeit" der Bibliotheken ist abgelaufen

"Angesichts der Diskrepanz zwischen der nominalen Etatfortschreibung und der tatsächlichen primären Preissteigerung sowie dem Anstieg der Literaturproduktion muß die Frage aufgeworfen werden, inwieweit künftig die Literaturversorgung durch die wissenschaftlichen Bibliotheken gewährleistet ist...

Von daher gesehen stellt sich die Aufgabe, die Preispolitik der Wissenschaftsverlage, vor allem multinationaler und internationaler Verlagskonzerne, vorrangig im Bereich der Zeitschriften, eine Preispolitik, die zunehmend auch von Rabattkürzungen gegenüber dem Sortiment und der Agentur gekennzeichnet ist, stärker als bisher in den Blickpunkt zu rücken...

Hierbei ist eine enge internationale Zusammenarbeit unerläßlich, um angesichts der Konzentrationsbewegung und internationalen Verflechtung den weltweit operierenden Verlagskonzernen wirkungsvoll entgegentreten zu können."2)

Diese topaktuell klingenden Aussagen veröffentlichte Rolf Griebel schon im Jahr 1993. Seitdem scheint sich kaum etwas verändert zu haben. Die Bibliotheken sind jetzt in einer Situation, die es unabdingbar macht, möglichst kurzfristige Lösungen zu finden. Um auf das Eingangsbild zurückzukommen: Die Probleme sind seit einiger Zeit bekannt, und ihre Auswirkungen können im Bibliotheksalltag studiert werden. Die "Regelstudienzeit" ist für die Bibliotheken abgelaufen! Etatkürzungen und Kaufkraftverluste können durch "Nebenjobs" wie das Anbringen von Werbetafeln in den Bibliotheken nicht mehr aufgefangen werden. Die Schmerzgrenze ist erreicht oder bereits überschritten - weitere Einschränkungen im Zeitschriftenbezug könnten dazu führen, daß die Bibliotheken ihrem Auftrag zur Literaturversorgung nicht mehr gerecht werden.

Verlage

Agenturen Bibliotheken Wissenschaftler Zwischen Bibliotheken, Agenturen und Verlagen sollten Vorgehensweisen bei auftretenden Problemen im Zeitschriftenbezug vereinbart werden. Dabei kann auch die vollständige Vorauszahlung für Abonnements zur Disposition gestellt werden.

Wie in der Diskussionsliste "Erwerbungsfragen in Bibliotheken"4) zu erfahren war, ist auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse die Einrichtung einer "Serials Interest Group" beschlossen worden, die versuchen will, unter Beteiligung von Verlagen, Agenturen und Bibliotheken Lösungen für die ernsten Probleme der Zeitschriftenerwerbung zu entwicklen. Es bleibt zu hoffen, daß diese Gruppe rasch ihre Arbeit aufnehmen und durch die Kooperationsbereitschaft aller beteiligten Parteien zu kreativen und befriedigenden Lösungen kommen kann.

1) Vgl.u.a.: Brugbauer, Ralf: Bibliothekarische Erfahrungen mit dem Impact Factor. In: Bibliotheksdienst 32 (1998) 3, S. 506 - 512; Reedijk, Jan: Sense and nonsense of science citation analyses. In: New journal of chemistry 22 (1998) 8, S. 767 - 770

2) Griebel, Rolf: Literaturmarkt und Etatplanung. In: Libri 43 (1993) 1, S.53 - 55. Zitat: S. 62f.

3) URL http://arl.cni.org/sparc/index.html

4) Subskription: E-Mail an maiser@hbz-nrw.de ; Text: subscribe ERWERB-L


Stand: 10.02.99
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