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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 11, 2000

Bibliotheken in einer offenen Gesellschaft

"5th International Slavic Librarians‘ Conference" in Tallinn

Jürgen Warmbrunn

 

Vom 26. bis 28. Juli 2000 fand in der Estnischen Nationalbibliothek in Tallinn die bereits fünfte internationale Konferenz für Bibliothekare mit Schwerpunkt Slavistik bzw. slavische Sprachen statt. Es handelte sich dabei um eine Vorkonferenz zum Weltkongress des "International Council for Central and East European Studies", der in unmittelbarem Anschluss an die Tallinner Konferenz vom 29. Juli bis 3. August 2000 auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens in Tampere (Finnland) stattfand.

An der Konferenz, die gemeinsam von der Estnischen Nationalbibliothek und dem Finnischen Institut für Russische und Osteuropäische Studien organisiert wurde, nahmen 89 Bibliothekare und Buchhändler aus insgesamt 17 Ländern teil, wobei die USA (23), die Russische Föderation (21) und das Vereinigte Königreich (15) die größten Kontingente an Teilnehmern stellten. Dies verdeutlicht die feste Verankerung dieser Konferenz im anglo-amerikanischen Raum, unterstreicht aber auch, welches große Interesse russische Kollegen an derartigen internationalen Begegnungen haben und wie offen für sie die Welt in der Tat geworden ist, wenn einmal die Frage der Finanzierung ihrer Teilnahme geklärt ist. Die geringe Zahl von nur zwei deutschen Teilnehmern dürfte zum einen genau aus dieser, auch in Deutschland nicht einfach zu lösenden Finanzierungsfrage resultieren, zum anderen aber auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass deutschsprachige Bibliothekare mit dieser fachlichen Ausrichtung traditionell einmal im Jahr bei den Fortbildungs- und Informationstagungen der ABDOS (Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung) zusammenkommen, die nun schon über viele Jahre federführend vom ehemaligen Leiter der Osteuropaabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Franz Görner, organisiert werden.1

Die Tallinner Konferenz fand in den großzügigen Tagungsräumen der Estnischen Nationalbibliothek statt. Die im Jahre 1918 gegründete Bibliothek, die in den Anfangsjahren der staatlichen Selbständigkeit Estlands nach dem Ersten Weltkrieg vor allem durch die Mitglieder des estnischen Parlaments (Riigikogu) genutzt wurde und auch heute noch als Parlamentsbibliothek fungiert, hat seit 1988 den Status einer Nationalbibliothek. Zwischen 1985 und 1993 wurde für sie in unmittelbarer Nähe der Innenstadt ein neues Gebäude errichtet, das von den estnischen Architekten Raine Karp und Sulev Vahtra entworfen worden war. Das neue Gebäude erstreckt sich insgesamt über acht Stockwerke und hat – etwas im Gegensatz zum Tagungsmotto – insbesondere von außen einen für das eher städtisch oder ländlich geprägte Estland recht ungewöhnlichen Festungscharakter. Es handelt sich bei der Nationalbibliothek um die größte Bibliothek in den baltischen Staaten mit insgesamt 1.070 Leseplätzen und einer Kapazität für 5 Millionen Bände. Wie in vielen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas befinden sich in der Nationalbibliothek auch ausländische Lesesäle (in diesem Fall jeweils ein schwedischer, französischer, deutscher, österreichischer, schweizerischer sowie ein gemeinsamer aller nordischen Länder), in denen Literatur aus und über diese Länder bereitgestellt wird und aus denen im Gegensatz zum eigentlichen Bestand der Nationalbibliothek auch ausgeliehen werden kann.2

Bereits vor Beginn der eigentlichen Konferenz hatten die Teilnehmer Gelegenheit, an Führungen durch die Nationalbibliothek, die Bibliothek der Estnischen Akademie der Wissenschaften oder die Stadtbibliothek Tallinn teilzunehmen. Eröffnet wurde die Konferenz nach einer kurzen Begrüßung durch Anneli Virtanen vom Finnischen Institut für Russische und Osteuropäische Studien als Mitglied des Organisationskomitees und den Abgeordneten Mart Meri mit einem Vortrag von Prof. Marianna Tax Choldin, in dem die Direktorin des C. Walter und Gerda B. Mortenson Center for International Library Programs und Vorsitzende des Bibliothekenprogramms der Soros-Stiftung unter dem Titel "How We Came Together" lebhaft und aus eigener Erfahrung schilderte, wie Bibliothekare aus Ost und West in den vergangenen Jahrzehnten zunächst noch unter äußerst schwierigen politischen Rahmenbedingungen nach und nach zum Gespräch miteinander fanden. Dabei wurde deutlich, in welch hohem Maße vor der politischen Wende in Ost- und Ostmitteleuropa dort auch der bibliothekarische Bereich vor westlichen Einflüssen "geschützt" werden sollte.

In dem anschließenden, in russischer Sprache gehaltenen Referat mit dem Titel "Die Bibliothek des Grafen Bobrinski im Schloss Põltsamaa (Oberpahlen): Aus der Geschichte der Gutsbibliotheken Estlands im 18. Jahrhundert" beschäftigte sich Larissa Petina (Estn. Nationalbibliothek) mit einem der zahlreichen Aspekte der Verbreitung des russischen Buchs in Estland. Der Vortrag bildete gleichzeitig eine Überleitung zur Eröffnung der Ausstellung "The Silver Age in Russian Culture", in der seltene Bestände und Erstausgaben russischer Literatur aus der zweiten Hälfte des 19. und den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts der Estnischen Nationalbibliothek ausgestellt wurden.

Der zweite Konferenztag begann mit einem Panel zu Fragen der Bestandsentwicklung unter Leitung von Patricia Thurston (Yale University Library). Als erste Rednerin stellte Isabella Warren (Scott Polar Research Institute, Cambridge) unter dem Titel "Developing a Region Collection Based on the Case of the Scott Polar Research Institute Library" die Anstrengungen ihrer Bibliothek dar, systematisch Literatur zu den zur Russischen Föderation gehörenden Polargebieten zu sammeln. Bemerkenswert, wenn auch für Spezialbibliothekare sicherlich nicht gänzlich neu war dabei ihre Feststellung, dass weder der russische noch der internationale Buchhandel in der Lage sind, eine ausreichende Versorgung mit dieser speziellen Literatur zu gewährleisten und ihre Bibliothek somit sehr stark auf persönliche Kontakte zu einschlägigen Forschungseinrichtungen und den Einsatz britischer Gastwissenschaftler als "Büchersammler" vor Ort angewiesen ist. Ihre Schilderung, wie die britischen Fachleute sich dabei hinsichtlich der Zahl der jeweils beschafften Titel zu übertreffen versuchen, wirkte auf viele Konferenzteilnehmer auf eine sehr amüsante Weise in der Tat sehr britisch. Im Anschluss beschrieb Eugenia Maresch (The Polish Library, London) die Entwicklung bei den von polnischen Emigranten insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg herausgegebenen Zeitschriften. Sie machte deutlich, dass rund zehn Jahre nach den politischen Veränderungen in Ost- und Ostmitteleuropa das Verlangen nach objektiven Informationen über Polen zunehmend aus Publikationen gedeckt wird, die in Polen selbst erscheinen. Als dritter Redner aus Großbritannien beschrieb Ron Hogg (The British Library, Boston Spa) schließlich in einem provokanten Beitrag den aus seiner Sicht zu beobachtenden "Death of Exchanges", also das Ende der Tauschbeziehungen mit den ost- und ostmitteleuropäischen Bibliotheken. Weder seine zutreffende Schilderung der mit Tauschbeziehungen einhergehenden Probleme noch die darauf aufbauende und sicherlich korrekte negative Kosten-Nutzen-Analyse vermochte viele Konferenzteilnehmer – einschließlich seiner eigenen Kolleginnen aus der Londoner Osteuropaabteilung der British Library – zu überzeugen, dass ein völliges Einstellen von Tauschkontakten zumindest in absehbarer Zeit im eigenen oder im Interesse der osteuropäischen Kollegen sei. Den Abschluss des Panels bildete ein Vortrag von Hana Opleštilová (Slavische Bibliothek/Nationalbibl., Prag), in dem sie nach einer kurzen Darstellung der Geschichte dieser slavistischen Spezialbibliothek die Haupttendenzen der dortigen Bestandsentwicklung vorstellte und dabei u. a. verdeutlichte, dass zumindest für ihre Bibliothek der Tausch mit ausländischen Partnern auf absehbare Zeit noch eine sehr wichtige Rolle spielen wird.

In der folgenden Podiumsdiskussion beschäftigten sich unter dem Vorsitz von Bradley L. Schaffner (Watson Library, Univ. of Kansas) neben Ron Hogg noch Jared Ingersoll (Columbia Univ. Libraries), James Beale (Russia Online Inc.), Kent Lee (East View Publications) und Nadia Zilper (Univ. of North Carolina, Chapel Hill) mit "Universal Databases of Russian Publications: New Developments for Librarians and Researchers". In der Diskussion wurde deutlich, dass es bei allen Schwierigkeiten der Informationsbeschaffung aus den Staaten der GUS doch bereits einige Unternehmen gibt, denen es mit Hilfe entsprechender Niederlassungen in Russland gelingt, umfangreiche und verlässliche Datenbanken zusammenzustellen. Für einen deutschen Beobachter überraschend war das große Interesse, das von Seiten nordamerikanischer Universitäten diesen Datenbanken entgegengebracht wird, ein Interesse zumal, das sich dann auch in der Bereitstellung von ausreichenden Mitteln zur entweder campusweiten oder im Rahmen einer Konsortiallösung sogar universitätsübergreifenden Bereitstellung dieser Datenbanken niederschlägt.

Auch der Nachmittag des zweiten Konferenztages war vor allem neuen und neuesten Entwicklungen im Bibliotheks- und Informationsbereich gewidmet. Unter dem Vorsitz von Janet I. Crayne (Univ. of Michigan Library) wurde zunächst über fachrelevante Volltextdatenbanken berichtet. Miranda Beaven Remnek (Univ. of Minnesota Library) stellte unter dem Titel "Some Benefits and Challenges of Maximizing Technology for Slavic Researchers at Various Levels: Minnesota’s Early 19th Century Russian Readership & Culture Project" eines der drei an ihrer Bibliothek betriebenen Digitalisierungsprojekte vor, in dessen Rahmen Quellen zum russischen Leseverhalten sowie zur russischen Kultur und Presse im frühen 19. Jahrhundert im WWW zur Verfügung gestellt werden. Es handelt sich bei den angebotenen Materialien gleichermaßen um Textexzerpte (Belletristik, Tagebücher, Memoiren und Reiseberichte) und um ergänzende Materialien (wie Primär- und Sekundärbibliographien, Bildmaterial u.ä.).3 Anschließend stellte Yakov Shrayberg (Russ. Nat. Öffentl. Bibl. für Wissenschaft und Technologie) das spezielle Bibliotheksprogramm und die angebotenen Dienstleistungen für Bibliotheken des russischen Internationalen Zentrums für Bibliothekswesen, Information und Analyse vor.

Ein zweites Panel behandelte unter dem Vorsitz von Ruth Wallach (Univ. of Southern California) die Bereitstellung elektronischer Informationsdienstleistungen. Aaron Trehub (Univ. of Illinois at Urbana-Champaign) stellte die Anstrengungen zur Schaffung einer internationalen web-basierten slavischen Bibliographie dar, die an bestehende Bibliographien wie die "ABSEES : Soviet and East European abstracts series" oder die "EBSEES (European bibliography of Slavic and East European studies)" anknüpfen soll. Ruth Wallach schilderte sehr praxisbezogen die Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten bei der Konsortialbeschaffung von elektronischen Informationsressourcen am Ende des 20. Jahrhunderts. Nadia Zilper beschrieb in einem ebenfalls sehr an der nordamerikanischen Praxis orientierten Beitrag die Vor- und Nachteile elektronischer Periodica und die spezifischen Auswirkungen dieser neuen Erscheinungsform sowohl auf Fachreferenten bzw. Erwerbungsverantwortliche und Nutzer. Den Abschluss des zweiten Konferenztages bildete ein Vortrag von Liga Krumina (Bibl. der Lettischen Akademie der Wissenschaften, Riga) über die an ihrer Bibliothek erstellte Datenbank lettischer Kalender aus der Zeit von 1750 bis 1910 als einem wichtigen Teil der lettischen Nationalbibliographie.

Mit der Frage der Erhaltung von Slavica-Sammlungen für zukünftige Generationen beschäftigte sich das erste Panel des folgenden Tages unter dem Vorsitz von Patricia Polansky (Hamilton Library, Univ. of Hawaii). Als erster Redner stellte Bradley L. Schaffner ein an den Bibliotheken der University of Kansas entwickeltes Projekt zur Bewertung der Gefährdung slavischer Bestände vor, das auch von nicht speziell ausgebildeten Mitarbeitern umgesetzt werden kann. Nach Augenscheinnahme jedes einzelnen Buch- oder Zeitschriftenbandes und unter Verwendung technischer Hilfsmittel wie eines pH-Lesestifts wurde an der dortigen Bibliothek jeweils ein Fragebogen ausgefüllt. Der resultierende Korpus an Fragebögen wurde nach Beendigung des Projektes in Form eines zusammenfassenden Berichts ausgewertet, der auch von interessierten Kollegen, die über Microsoft Access verfügen, angefordert werden kann.4 Als zweiter Sprecher berichtete Adolf Knoll (Nationalbibl. Prag) über den im Rahmen des UNESCO-Programms "Memoriae Mundi - Memory of the World" ermöglichten Zugang zu digitalisierten Handschriften aus der Prager Nationalbibliothek.5 Abschließend sprach Murlin Croucher (Indiana Univ. Library) über ein gemeinnütziges Projekt zur Digitalisierung des russischen Verzeichnisses von Zeitschriftenaufsätzen ("Letopis' Jurnal'nych statej"). In sehr anschaulicher Weise berichtete er, dass die Probleme bei der Erkennung und Umsetzung kyrillischer Buchstaben mittlerweile gelöst seien, die ausgesprochen schlechte Druckqualität der Vorlagen jedoch eine aufwendige manuelle Nachbearbeitung nötig mache, die eine Beendigung des Projekts im geplanten Zeitraum leider unmöglich gemacht habe.

Zwei zeitgleich verlaufende Veranstaltungsblocks behandelten im Anschluss zum einen Zeitschriften zum Bibliothekswesen mit Schwerpunkt Slavistik und Osteuropa, zum anderen aktuelle Fragen der Informationstechnologie sowie bibliothekstheoretische Ansätze in den Nachfolgestaaten der UdSSR. Im erstgenannten Panel unter dem Vorsitz von Christine Thomas (British Library, London) wurde zunächst von Ene Riet (Estn. Nationalbibl., Tallinn) die estnischsprachige Bibliothekszeitschrift "Raamatukogu" und ihre Entwicklung von einer unter sowjetischer Herrschaft herausgegebenen, stark zensierten Zeitschrift zur einzigen Zeitschrift auf dem Gebiet des Bibliotheks- und Informationswesens im heutigen Estland geschildert. Zur Überraschung vieler Zuhörer machte sie dabei deutlich, dass die im nur 1,2 Mill. Einwohner zählenden Estland sechsmal pro Jahr von der Nationalbibliothek herausgegebene Zeitschrift in noch höherer Frequenz erscheinen könnte, wenn finanzielle Überlegungen dies nicht verhinderten.6 Im Anschluss stellte Christine Thomas die einmal pro Jahr erscheinende Zeitschrift "Solanus: International Journal for Russian and East European Bibliographic, Library & Publishing Studies" vor und Karen Rondesvedt (Univ. of Pittsburgh) die erste Nummer der "Slavic & East European Information Resources".

Ausdrücklich auf das Baltikum als Austragungsort der Konferenz ging das letzte Panel ein, in dem unter Vorsitz von Liga Krumina unter dem Titel "Baltic Collections outside the Baltic Countries – Past, Present, Future?" über die maßgeblichsten Baltica-Sammlungen in Deutschland, Großbritannien und Nordamerika berichtet wurde. Alle drei Beiträge konnten allerdings nur einen ersten Überblick über die jeweiligen Bestände leisten. Jürgen Warmbrunn (Herder-Institut, Marburg) betonte die engen historischen, oft aber auch ganz persönlichen Beziehungen zwischen dem Baltikum und Deutschland, die für den Aufbau von Sammlungen zum Baltikum in Deutschland sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg mitentscheidend waren. Gleichzeitig wurde in seinem Beitrag auch die außerhalb Deutschlands weniger bekannte Rolle beschrieben, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Förderung der Sondersammelgebiete und der überregionalen Spezialbibliotheken bei der Erhaltung und beim Ausbau entsprechend spezialisierter regionaler Sammlungen spielt. Janet Zmroczek (British Library, London) gab in ihrem - auf einer Umfrage unter britischen Bibliotheken beruhenden - Vortrag einen konzisen Überblick über die dort vorhandenen Baltica, wobei sie sich ausdrücklich auf Literatur in den Sprachen des Baltikums beschränkte und in starkem Maße auf die von baltischen Emigranten gebildeten Sammlungen einging. In einem von Robert Davis (New York Public Library) verlesenen Vortrag von Edward Kasinec wurden die entsprechenden Bestände in nordamerikanischen Bibliotheken beschrieben. Es wurde dabei sowohl die große Bedeutung deutlich, die Auswanderer und Emigranten aus dem Baltikum bei dem Aufbau dieser Sammlungen spielten, als auch die Tatsache, dass das Ende des Ost-West-Gegensatzes und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu einem gewissen Abklingen des Interesses an diesen Sammlungen sowohl von Nutzer- als auch von staatlicher Seite geführt haben. Die durch das Fragezeichen im Titel des Panels angedeuteten Zweifel hinsichtlich des Fortbestehens Baltikum-relevanter Sammlungen in Deutschland, Großbritannien und Nordamerika wurden jedoch grundsätzlich von keinem der Vortragenden geteilt. Sie betonten vielmehr, dass die Nutzung von Literatur in den Sprachen des Baltikums außerhalb dieser Staaten naturgemäß immer eher quantitativ begrenzt bleiben werde, vor dem Hintergrund der erneuerten Unabhängigkeit der baltischen Staaten und ihrer Öffnung nach Europa ein qualifiziertes Interesse und eine daraus resultierende Förderung dieser Sammlungen aber auch weiterhin bestehen werde.

Die Konferenz fand ihren fachlichen Abschluss in einer Podiumsdiskussion unter Leitung von Gregory Walker (Bodleian Library, Oxford), der einleitend das von ihm geleitete "Collaborative Collection Management Project for Russian and East European Studies (COCOREES)"7 vorgestellt hatte. Ron Hogg, Tania Konn, Lesley Pitman (School of Slavonic and East European Studies, London), Karen Rondestvedt und Christine Thomas diskutierten über Fragen einer gemeinsamen Erschließung von sowohl traditionellen als auch elektronischen Informationsressourcen für den Bereich der Russland- und Osteuropastudien. Aus deutscher Sicht war dabei interessant, dass im Rahmen von COCOREES beispielsweise für die Zeitschriften aus dem Bereich Russland- und Osteuropastudien das erst versucht werden soll, was in Deutschland mit der "Zeitschriftendatenbank" als zentralem Nachweis der Zeitschriftenbestände längst fach- und regionenübergreifend Realität ist. Für die auch in Deutschland häufig diskutierte Frage der Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Bibliothekaren war die gleichzeitig formulierte Forderung bedenkenswert, das Projekt in enger Kooperation mit den in diesem Feld tätigen Wissenschaftlern zu führen, da nur so deren speziellen Bedürfnisse hinsichtlich der bereitzustellenden Informationen und des Zugangs zu diesen befriedigt werden könnten.

Bevor ein Teil der Konferenzteilnehmer am folgenden Tag nach Tampere weiterreiste, fand am Abend des letzten Konferenztages im Estnischen Freilichtmuseum noch ein Abschiedsdinner statt, in dessen Verlauf Prof. Marianna Tax Choldin, die vor ihrem Ausscheiden in den Ruhestand letztmalig an einer "International Slavic Librarians‘ Conference" teilnahm, durch zahlreiche Kollegen für ihre fachlichen wie persönlichen Leistungen gewürdigt wurde. Im Auftrag des Präsidenten der Russischen Föderation erhielt sie bei diesem Anlass für ihre Verdienste um die internationale bibliothekarische Zusammenarbeit mit Russland die Puschkin-Medaille.

Die Tallinner Konferenz bot einen hervorragenden Einblick in die Arbeit slavistischer Fachkollegen in zahlreichen europäischen Ländern sowie in den USA und Israel. Gleichzeitig ermöglichte sie aber auch einen Einblick in die Entwicklung des Bibliothekswesens in Estland, also in einem Land, das unter den neuen Beitrittskandidaten der Europäischen Union mit an erster Stelle steht. Dabei war festzustellen, dass die estnischen Kollegen nach langen Jahren weitgehender Isolation von Entwicklungen in Westeuropa und Amerika vieles sehr schnell aufgeholt haben und an so unterschiedliche Fragen wie die Bereitstellung eines nationalen elektronischen Verbundkatalogs oder die kommerzielle Nutzung von Bibliotheksräumlichkeiten mit Elan und gesundem Selbstvertrauen herangehen. In einem Land, in dem Plätze, an denen das Internet genutzt werden kann (wie in der Nationalbibliothek) mit regulären Verkehrsschildern ausgewiesen werden und die Zahl der Nutzer von Mobiltelefonen nur noch hinter der in Finnland zurückstehen dürfte, scheinen die Vorbehalte gegenüber moderner Informationstechnik auch im Bibliotheksbereich sehr gering zu sein. Ebenso gering übrigens wie die Vorbehalte gegenüber einer objektiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, betrifft diese nun die Zeit der sowjetischen Herrschaft in Estland oder die weiter zurückliegende deutsche Präsenz in Estland und deren kulturelles Erbe.

Abschließend sei erwähnt, dass laut Aussage der Veranstalter der 7. Weltkongress des "International Council for Central and East European Studies" im Jahre 2005 in Erfurt stattfinden wird. Somit dürfte auch die üblicherweise als Vorkonferenz stattfindende Konferenz für Bibliothekare mit Schwerpunkt Slavistik bzw. slavische Sprachen in Deutschland in fünf Jahren in Deutschland abgehalten werden. Ein deutscher Austragungsort wird dann hoffentlich mehr deutschen Fachkollegen die Gelegenheit bieten, an der Konferenz teilzunehmen und sich über die Entwicklungen in diesem Bereich auch außerhalb des deutschsprachigen Raums zu informieren.

 

1 Die nächste ABDOS-Tagung wird voraussichtlich vom 21. bis 24. Mai 2001 in Zusammenarbeit mit der dortigen Wojewodschafts- und Stadtbibliothek in der polnischen Universitätsstadt Torun (Thorn) stattfinden.

2 Nähere Informationen über die Estnische Nationalbibliothek finden sich unter www.nlib.ee.

3 Nähere Informationen unter etrc.lib.umn.edu/rusread.htm

4 Anfragen sind zu richten an Brian Baird bbaird@ukans.edu.

5 Nähere Informationen unter digit.nkp.cz.

6 Nähere Informationen sowie englischsprachige Zusammenfassungen einiger Beiträge finden sich unter www.nlib.ee/tekstid/i_index.html.

7 Nähere Informationen unter www.cocorees.ac.uk


Stand: 03.11.2000
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