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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 10, 2000

Länderporträt: Mexiko

Bibliothekswesen zwischen zwei Welten

Brigitte Döllgast (Goethe-Institut Mexiko)

 

"Mexiko - zu nah an den Vereinigten Staaten und zu weit entfernt von Gott" - so charakterisiert ein Sprichwort dieses Land, das in vieler Hinsicht eine Mittelstellung zwischen der Ersten und der Dritten Welt einnimmt. Geographisch zu Nordamerika gehörend und auch wirtschaftlich durch die NAFTA-Verträge an den großen Bruder gebunden, hat es jedoch auch mit den vielfältigen Problemen des lateinamerikanischen Kontinents zu kämpfen. Über 90 Millionen Einwohner hat das Land Mexiko, mehr als 22 Millionen davon leben in der Hauptstadt Mexiko-Stadt, einer der größten Städte der Welt, geplagt von Umweltverschmutzung, Kriminalität und Überbevölkerung, aber gleichzeitig eine quirlige, lebensfrohe Stadt mit einem Kulturleben, das so manche europäische Metropole erblassen ließe, mit Parks, Märkten, Museen und - Bibliotheken. In ganz Mexiko gibt es ca. 9.000 Bibliotheken, davon über 1.000 in Mexiko-Stadt.

Besonders beachtenswert in der Landschaft des mexikanischen Bibliothekswesens erscheint (gerade in Zeiten eines geschlossenen ‘Deutschen Bibliotheksinstituts’) das Centro Universitaria de Investigaciones Bibliotecológicas (CUIB) http://cuib.unam.mx, das bibliothekswissenschaftliche Forschungszentrum der staatlichen Universität Mexikos, der Universidad Autónoma de México (UNAM) - mit über 200.000 Studenten die größte Universität Lateinamerikas. Dieses 1981 (auf Veranlassung eines bibliotheksbegeisterten mexikanischen Präsidenten) gegründete Institut hat fünf Forschungsgebiete: Grundlagenforschung des Bibliothekswissenschaft; Information und Gesellschaft; Informationssysteme; Analyse und Erschließung von Informationsmaterial; Informationstechnologie. Es beschäftigt über 80 Mitarbeiter, darunter 26 Akademiker und verfügt über einen jährlichen Etat von umgerechnet ca. 4,5 Millionen DM. Unter seinem Dach befindet sich eine der wichtigsten Spezialbibliotheken zum Thema Bibliothekswissenschaft in Südamerika (13.000 Bände, 400 laufende Zeitschriften). Jährlich gibt es acht Bücher und zwei Nummern der hauseigenen Bibliothekszeitschrift heraus. Darüberhinaus organisiert CUIB jährlich eine internationale Fachkonferenz, die auf einem hohen akademischen Niveau abläuft.

Das praxisorientierte Pendant zur CUIB-Konferenz ist die ebenfalls jährlich stattfindende Konferenz des mexikanischen Bibliotheksverbandes, der Associación Mexicana de Bibliotecarios (AMBAC) http://www.ambac.org.mx. Der Bibliotheksverband wurde 1924 gegründet und hat ca. 600 Mitglieder, von denen ca. 25% in Mexiko-Stadt arbeiten. Die Mitgliedschaft ist nicht auf Bibliothekare beschränkt. Der Verband gibt viermal im Jahr seine Verbandszeitschrift heraus und organisiert in Mexiko-Stadt Seminare für seine Mitglieder.

AMBAC muss Hilfestellung leisten sowohl für kleine Bibliotheken, die den Analphabetismus bekämpfen als auch für große Bibliotheken, die Unterstützung bei der Computerisierung benötigen. Entsprechend breit ist das Angebot der Themen auf der AMBAC-Konferenz, die die wichtigste formelle und informelle Informationsbörse für die mexikanischen Bibliothekare darstellt und folglich viele Teilnehmer - im Jahre 1999 waren es 700 - anlockt.

Einen besonders großen Prozentsatz der Teilnehmer bilden die Studenten des Bibliothekswesens, die während der AMBAC-Konferenz jeden Tag ab 16 Uhr, nach Abschluss des offiziellen Programms, ihr eigenes Forum bekommen und neue Forschungsarbeiten und -projekte vorstellen. In Mexiko gibt es fünf Ausbildungsstätten für Bibliothekare, davon zwei in Mexiko-Stadt. Die Arbeitsmarktlage für die Absolventen wird von den Leitern der Ausbildungsstätten als sehr gut beschrieben. Die Absolventen finden Anstellungen an wissenschaftlichen Bibliotheken, in der Industrie oder an Privatschulen. Die älteste Ausbildungsstätte für Bibliothekare in Mexiko ist das zur UNAM gehörende Colegio de Bibliotecología http://www.filos.unam.mx, das 1924 gegründet wurde und als einzige, und auch erst seit letztem Jahr, ein Doktorat in Bibliothekswissenschaft anbietet. Eine Vielzahl der Dozenten arbeiten auch im CUIB. Am Colegio studieren zur Zeit ca. 400 Studenten.

Die zweite Bibliotheksausbildungsstätte für Bibliothekare in Mexiko-Stadt ist die Escuela Nacional de Bibliotecología y Archivomonía (ENBA) http://www.enba.sep.gob.mx, die 1945 gegründet wurde, mit einer Fachhochschule vergleichbar ist und direkt dem Erziehungsministerium untersteht. Dies hat zur Folge, dass der Zufluss an öffentlichen Geldern einem geringeren Reibungsverlust ausgesetzt ist und die ENBA daher erstaunlich gut ausgestattet ist. Den mehr als 700 dort eingeschriebenen Studenten stehen ca. 150 PCs und ein gut ausgestattetes Sprachlabor (vor allem natürlich für die englische Sprache) zur Verfügung. Die Ausbildung gilt als weniger akademisch und eher praxisorientiert als die an der UNAM. Die Ausbildung endet mit der Licenciatura.1 Die ENBA bietet als einzige Ausbildungsstätte ein Fernstudium an, in das zur Zeit fast 400 Studenten eingeschrieben sind.

Aus der Vielzahl der Bibliotheken in Mexiko zunächst kurz ein Blick auf die Nationalbibliothek http://biblional.bibliog.unam.mx/bib01.html und die Biblioteca de México http://www.cnart.mx/cnca/buena/biblioteca/index.html. Letztere wurde 1946 als Nationalbibliothek gegründet, eine Aufgabe, die sie jedoch später abgeben musste. Untergebracht in einer alten Zitadelle, an einem zentralen Platz der Stadt gelegen, ist sie heute mit täglich bis zu 6.000 Besuchern die am stärksten besuchte Bibliothek Mexikos. Es handelt sich um eine Präsenzbibliothek mit einem Bestand von ca. 250.000 Bänden, über 1.000 Zeitschriften und Zeitungen, einer Videothek und einer Blindenbibliothek. Außerdem beherbergt die Bibliothek Kinosäle, Ausstellungsflächen, eine Cafeteria und eine Buchhandlung. Durch Lage, Ausstattung und Selbstverständnis ist sie ein lebendiges, volksnahes Kulturzentrum.

Die heute auf dem Gelände der UNAM untergebrachte, aber von ihr unabhängige Nationalbibliothek - ein Bau, der sich die Nationalbibliothek Kanadas zum Vorbild genommen hat - atmet dagegen eher den Geist akademischer Gediegenheit. Auch sie ist eine Präsenzbibliothek mit über 3,5 Millionen Bänden, die Schrift-, Film- und Tonmaterial über Mexiko sammelt. Über 80% der Neuzugänge sind Pflichtexemplare. Gedacht ist sie als Stätte der Forschung, doch von den täglich ca. 350 Besuchern sind die Mehrzahl Studenten der nahegelegenen UNAM.

Die UNAM selbst beherbergt ebenfalls eine der wichtigsten Bibliotheken Mexikos - deren Hauptgebäude in nahezu jedem Reiseführer über Mexiko abgebildet ist, da es ein berühmtes Mosaik des mexikanischen Künstlers Juan O’Gorman trägt. Die Zentraldirektion der Bibliotheken der UNAM http://www.dgbiblio.unam.mx betreut die 140 zugehörigen Teilbibliotheken, darunter auch den einzigen größeren Bestand deutscher Bücher außerhalb der Bibliothek des Goethe-Instituts. Der Fachbereich Gemanistik der UNAM - der einzige in Mexiko, mit ca. 150 Studenten - hat eine Bibliothek mit ca. 3.000 deutschsprachigen Bänden.

Die Generaldirektion der UNAM-Bibliotheken veranstaltet außerdem viele Fortbildungsveranstaltungen für Bibliothekare und ist in ihrer normgebenden Funktion augenscheinlich wichtiger als die Nationalbibliothek.

Während man sich bei dem Besuch einer Universitätsbibliothek - vor allem, wenn es sich um eine Privatuniversität handelt - in eine Welt versetzt sieht, die dem Wunschtraum von Bibliothekaren und Bibliotheksbenutzern entspricht, bietet der Besuch einer Öffentlichen Bibliothek einen Blick in den rauhen Alltag der mexikanischen Realität. Es gibt ca. 5.600 Öffentliche Bibliotheken in Mexiko, die in der Mehrzahl allerdings sehr bescheiden ausgestattet sind. In der Regel werden sie nicht von Fachpersonal betreut, die Einweisung der Mitarbeiter erfolgt mit Hilfe einer Serie von Videos, in denen die wichtigsten Tätigkeiten (von der Einarbeitung bis zur Beratung) erklärt werden. Einkauf, Katalogisierung und Einarbeitung der Bücher erfolgt zentral durch die Dirección General de Bibliotecas (Generaldirektion der öffentlichen Bibliotheken) http://www.cnart.mx/cnca/buena/dgb/index.html in Mexiko-Stadt. Jede Bibliothek erhält im Jahr ca. 100 neue Titel. Die Bestandsgröße der Öffentlichen Bibliotheken liegt zwischen 3.000 und 40.000 Bänden. Die Zielvorgaben der Öffentlichen Bibliotheken sind: Informationen für Primar- und Sekundarschüler (es gibt an den staatlichen Schulen keine Schulbibliotheken), Selbststudium und Stärkung des nationalen Bewusstseins - dem entsprechen dann auch die Schwerpunkte des Bestandsaufbaus.

Neben den bisher beschriebenen Bibliotheken gibt es natürlich noch zahlreiche Spezialbibliotheken, von denen nur kurz zwei Bibliotheken ausländischer Kulturinstitute erwähnt werden sollen: die Bibliothek des französischen und diejenige des amerikanischen Kulturzentrums (das British Council hat in Mexiko übrigens weder eine Bibliothek noch ist es auf dem Gebiet der BV aktiv).

Die Alliance Française betreibt in Mexiko-Stadt keine Bibliothek, diese Aufgabe erfüllt das Instituto Francés de America Latina (IFAL) http://www.ifal.casadefrancia.org.mx, das seit 1998 in einem schönen alten, frisch renovierten Gebäude untergebracht ist. Der Leiter des IFAL ist Bibliothekar des höheren Dienstes und war früher an der Pariser Nationalbibliothek beschäftigt. Das IFAL besteht im Wesentlichen aus einer Bibliothek (mit PC-Arbeitsplätzen für Benutzer), um die die Büros der Mitarbeiter der sonstigen Bereiche (Studienberatung etwa) angeordnet sind. Der Leiter des IFAL ist natürlich auch für die Bibliothek zuständig, organisiert aber hauptsächlich die zahlreichen Kulturveranstaltungen.

Das amerikanische Kulturinstitut besteht einzig aus der Biblioteca Benjamin Franklin http://www.usembassy-mexico.gov/biblioteca.htm, die 1942 gegründet wurde und an die Botschaft der USA angegliedert ist. Neben der Betreuung des Ausleihbestandes von 24.000 Bänden ist die Bibliothek, die zu dem Netz des US Information Service gehört, vor allem ein wichtiger Lieferant von Informationen aus Politik und Wirtschaft für mexikanische Behörden und die Presse. Außerdem ist die Bibliothek sehr aktiv im Rahmen der bibliothekarischen Verbindungsarbeit. Sie organisiert die Versorgung der wichtigsten Universitätsbibliotheken Mexikos mit Fernleihen aus den USA, betreut den Verband der Bibliothekare USA-Kanada-Mexiko, vermittelt amerikanische Gastprofessoren und Konferenzteilnehmer und unterstützt die zahlreichen Partnerschaften und Austauschprogramme, die es im Bibliotheksbereich zwischen den USA und Mexiko gibt.

Zu erwähnen wäre noch viel, an Bibliotheken, Verbänden, Organisationen, Konferenzen, Seminaren, internationalen Partnerschaften und Arbeitsgruppen und sonstigen Aktivitäten, aber dieser kurze Überblick vermittelt hoffentlich schon, wie aktiv und interessant die Bibliothekslandschaft in Mexiko ist.

Wer nach all dem ein lebhafteres Interesse für das Bibliothekswesen in Mexiko hat, kann sich ja bei dem Listserv Bibliomex http://www.qro.itesm.mx/~ssouto/listas/bibliomex.html einschreiben, in dem die Bibliothekare Mexikos unter Beteiligung vieler in- und ausländischer Kollegen die spezielle Situation des Bibliothekswesens in Mexiko diskutieren. Außerdem findet sich auf der Homepage des Goethe-Instituts Mexiko http://www.goethe.de/hn/mex eine Liste mit vielen Adressen und Hinweisen zum mexikanischen Bibliothekswesen.

 

1 Einen vergleichbaren akademischen Abschluss gibt es in Deutschland nicht. Der Abschluss ist unterhalb der Maestria (Magister) angesiedelt.


Stand: 10.10.2000
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