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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 7/8, 2000

Der Aufbau Virtueller Fachbibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland

Sven Meyenburg

 

Der Bibliotheksdienst wird in loser Folge eine Reihe von Berichten aus Projekten zum Aufbau Virtueller Fachbibliotheken publizieren. Ziel dieser Artikelreihe ist es, einerseits Einblicke in die konkrete Arbeit der einzelnen Projekte zu ermöglichen, andererseits aber auch stetig über die Entwicklung des Gemeinschaftsvorhabens aller Virtuellen Fachbibliotheken in Deutschland zu informieren.

Der vorliegende, die Berichtreihe einleitende Artikel möchte mit den Hintergründen, Besonderheiten und Herausforderungen der Projekte vertraut machen. Der Vorstellung des Vorhabens folgt eine Thematisierung der Projektaufgaben. Anmerkungen zum Entwicklungsprozess schließen den Artikel ab.

 

Das Vorhaben

Die Sicherung der Literaturversorgung für Wissenschaft und Forschung in der Bundesrepublik Deutschland basiert auf dem Sondersammelgebietsplan der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Als ein dauerhaftes Instrument im System der überregionalen Literaturversorgung hat sich die planmäßige Festlegung von Sammlungszuständigkeiten bewährt. Zeitbedingte Modifikationen dieser Zuständigkeiten – am umfassendsten nach der Wiedervereinigung – konnten den Nachweis von und Zugriff auf Literatur für Wissenschaft und Forschung garantieren.

Mit der Fortentwicklung der Neuen Medien ist die Frage der Literaturversorgung jedoch nicht mehr nur durch die Aufteilung von Kompetenzen zu lösen. Das Internet hat die Ansprüche der Nutzer um ein Vielfaches erhöht, die Publikationsformen um digitale Alternativen ergänzt. Wie ist die Versorgung für Forschung und Wissenschaft zu sichern in diesem Umfeld von born digitals, unbeständigen domainnames und einer Unzahl zumeist irrelevanter hits?

Die DFG hat mit dem 1998 verfassten Memorandum zur Weiterentwicklung des Systems der überregionalen Literaturversorgung1 die Bildung Virtueller Fachbibliotheken angeregt. Aufbauend auf bestehenden und etablierten Strukturen werden seitdem elektronische Zugriffsmöglichkeiten auf fachrelevante Materialien der verschiedenen DFG-Sondersammelgebiete konzipiert. Von jedem beliebigen Arbeitsplatz aus wird der Nutzer sich über alle relevanten Informationen und Dokumente zu einem Fachgebiet, über deren Standorte und die Möglichkeiten für Einsichtnahmen informieren können. Die Bestellmöglichkeit und Lieferung wird gewährleistet, der Nutzer in seinem gewohnten Arbeitsumfeld bedient.

Eine Virtuelle Fachbibliothek muss, um diesem Szenario zu genügen, umfassender sein als das, was meist unter Namen wie "Digital Library", "Elektronische Bibliothek" u.a.m. bereits existiert; muss mehr sein als eine thematisch sortierte Liste von Links zu frei zugänglichen elektronischen Ressourcen. Der gesicherte Zugriff auf "alle relevanten Informationen und Dokumente zu einem Fachgebiet" impliziert eine ganze Liste an Erfordernissen. Die verschiedensten Materialien sind hier zu beachten, neben Printmedien wie Büchern und Zeitschriften also auch elektronische Volltexte, Online Contents, Fachdatenbanken oder Programme. Sie alle müssen einzeln, aber auch zeitgleich recherchierbar sein. Beachtet werden müssen ferner gebührenpflichtige Medien, deren elektronische oder konventionelle Lieferung ggf. durch integrierte Abrechnungsverfahren zu ermöglichen wäre.

Der Bestand des fachlich relevanten Materials ist zudem verteilt. Er setzt sich zusammen aus den Beständen und Teilbeständen von Bibliotheken und Servern innerhalb der nationalen Grenzen und darüber hinaus. Sicherung des Zugriffs auf diesen verteilten Bestand bedeutet also zugleich: Auf- und Ausbau von Kooperationen, Installation von Identifikationssystemen zur eindeutigen und unveränderlichen Kennzeichnung elektronischer Objekte, Umsetzung von Konzepten der digitalen Langzeitarchivierung - dies als eine kleine Auswahl der hier zu klärenden Punkte.

In knapper Form lässt sich das Konzept zur Virtuellen Fachbibliothek vielleicht am besten mit dem Bild eines Bündels beschreiben: Eine Virtuelle Fachbibliothek bündelt die Wege zu den fachrelevanten Materialien, die Verteilung des Bestandes in den Bibliotheken und auf den Servern weltweit wird aufgehoben, das Material an einem - virtuellen - Ort vereint.

Mit dem Aufbau Virtueller Fachbibliotheken und der hiermit verbundenen Schaffung neuer Dienstleistungen reagiert das System der überregionalen Literaturversorgung auf die gegenwärtigen Veränderungen in den Kommunikations- und Publikationsformen. Der umfassende, schnelle und möglichst direkte Zugriff auf Informationen und Dokumente ist eine berechtigte Forderung der heutigen Nutzer. Jedoch können auch Virtuelle Fachbibliotheken diesen Forderungen nur zum Teil genügen. Eine nutzergerechte Struktur muss deshalb über den Aufbau fachspezifischer Portale hinaus auch die Möglichkeit vorhalten, fachübergreifend zu recherchieren. Die Kooperation und schrittweise Abstimmung der am Aufbau Virtueller Fachbibliotheken beteiligten Projekte hat dies zum Ziel. Ein gemeinsames Portal zu den Materialien aller DFG-Sondersammelgebiete - in Ergänzung der fachspezifischen Einstiegsseiten - wird nicht nur als eine gemeinsame Navigationsausgangsbasis, sondern auch als Suchinstrument zur parallelen Abfrage verschiedener oder aller Virtuellen Fachbibliotheken zu nutzen sein.

 

Die Aufgaben

Die Universitätsbibliothek Hannover und Technische Informationsbibliothek (UB/TIB) ist Sitz der Koordinierungsstelle der Virtuellen Fachbibliotheken. Gegenwärtig sind zwölf Projekte bzw. Projektvorhaben zu nennen, die von der DFG gefördert werden oder für deren Durchführung bereits Mittel bewilligt wurden:

Virtuelle Fachbibliothek Psychologie
Projekt der SULB Saarbrücken
Laufzeit: 11/98 - 10/00

Virtuelle Fachbibliothek Geschichte
Projekt der BSB München
Laufzeit: 02/99 - 01/01

Virtuelle Fachbibliothek Anglo-Amerikanischer Kulturraum
Projekt der SUB Göttingen
Laufzeit: 03/99 - 02/01

Virtuelle Fachbibliothek Technik
Projekt der UB/TIB Hannover
Laufzeit: 04/99 - 03/01

Virtuelle Fachbibliothek Sozialwissenschaften
Projekt des IZ Sozialwissenschaften in Bonn
Laufzeit: 05/99 - 04/01

Virtuelle Fachbibliothek Niederländischer Kulturkreis
Projekt der ULB Münster
Laufzeit: 06/00 - 01/01

Virtuelle Fachbibliothek Pharmazie
Projekt der UB Braunschweig
Laufzeit: 08/00 - 07/01

Virtuelle Fachbibliothek Vorderer Orient einschl. Nordafrika
Projekt der ULB Halle
Laufzeit: 08/00 - 07/02

Virtuelle Fachbibliothek Wirtschaftswissenschaften (Teilbereich VWL)
Projekt der ZBW Kiel
Laufzeit: 09/00 - 08/02

Virtuelle Fachbibliothek Wirtschaftswissenschaften (Teilbereich BWL)
Projekt der USB Köln
Laufzeit: 09/00 - 08/02

Virtuelle Bibliotheken Politikwissenschaft und Friedensforschung
Projekt der SUB Hamburg
Laufzeit: ca. 11/00 - 10/02

Virtuelle Fachbibliothek Veterinärmedizin
Projekt der TiHo Hannover
Laufzeit: ca. 10/00 – 09/02

Diese Projekte und Projektvorhaben haben sich im Rahmen einer Selbstorganisation zu der AG Projektkoordinierung Virtuelle Fachbibliotheken zusammengeschlossen, in der zugleich die DFG und künftig auch die GMD – Forschungszentrum Informationstechnik2 - vertreten sind. Die Arbeitsgruppe unterliegt wie die Koordinierungsstelle in Hannover klaren Zielsetzungen: Zum einen gilt es, die Arbeit der Einzelprojekte effizient zu gestalten, Doppelarbeit zu vermeiden und Synergieeffekte zu erzielen. Zum anderen ist dafür Sorge zu tragen, die Zusammenführung der verschiedenen Virtuellen Fachbibliotheken unter dem Dach eines gemeinsamen Portals zu ermöglichen. Die Aktivitäten im Kontext dieser zwei Zielsetzungen sollen folgend näher beleuchtet werden.

Das Memorandum der DFG nennt fünf Aufgaben, die den Zuständigkeitsbereich der Schwerpunktbibliotheken (SSP-Bibliotheken)3 hinsichtlich der überregionalen Literaturversorgung ergänzen:

Die Projekte zum Aufbau Virtueller Fachbibliotheken stellen sich diesen Aufgaben jeweils unter Nutzung der in den SSP-Bibliotheken vorhandenen und über Jahrzehnte gewachsenen fachlichen Kompetenz. Die Verteilung der Arbeiten auf verschiedene Standorte ist zudem begründet in dem fachlich differierenden Einsatz elektronischer Medien. Neben den Fachspezifika gibt es aber ebenfalls gleichlautende Problemstellungen, die es zu koordinieren und mit der Zielsetzung effizienter Arbeit zu lösen gilt.

Hier ist - bezogen auf den erweiterten Sammel- bzw. Beschaffungsauftrag - zum Beispiel die Frage zu nennen, wie die Vielfalt und Masse der Materialien durch einen kombinierten Einsatz von Mensch und Robotern zu bewältigen ist. Die Erweiterung der Erschließungs- und Nachweisaufgaben betreffend muss geklärt werden, in welcher Weise Metadaten Verwendung finden sollten, um die Recherchemöglichkeiten zu optimieren. Beachtet werden muss ferner aber auch der Bedarf, mit nur einem Recherchelauf auf heterogen erschlossene Bestände zugreifen zu können. Dies setzt sowohl die Schaffung von Konkordanzen für verschiedene Thesauri und Klassifikationen als auch deren Integration in ein technisches Konzept voraus.

Die Liste der Aufgaben, deren Lösung im Interesse effizienter Arbeit koordiniert geschehen kann und soll, ist hier natürlich nur im Ansatz zu präsentieren. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch, dass die Sicherung der langfristigen Verfügbarkeit elektronischer Ressourcen nicht nur schlicht deren dauerhafte Speicherung meinen kann. Denn jedes elektronische Dokument besitzt einen Wert nur vermittels der Hardware- und Softwaresysteme, mit denen eine von den Autoren beabsichtigte Darstellungsform überhaupt erst möglich wird. Hard- und Software sind jedoch in stetigem Wandel. Die Lesbarkeit elektronischer Dokumente, die vor einigen Jahren verfasst wurden, ist bereits heute nicht mehr garantiert. Zur Zeit gibt es vor allem zwei Modelle, diesem Problem zu begegnen: einerseits stetige Migration der Datenbestände, um sie an die neuere Hard- und Software anzupassen; andererseits Emulation älterer Hard- und Software, um auf der Basis modernster Technik die jeweils dokumentadäquate und also veraltete Umgebung zu erzeugen. Wie hier zu verfahren sein wird, ist unter Berücksichtigung der sich herausbildenden Standards zu klären.

Die Zielsetzung der Projektkoordinierung, gleichlautende Problemlagen beim Aufbau der einzelnen Virtuellen Fachbibliotheken effizient und deshalb gemeinsam anzugehen, wird ergänzt durch Aufgaben, die für den Aufbau eines fachübergreifenden Portals einvernehmliche Lösungen erfordern. Die AG Projektkoordinierung kooperiert zu diesem Zweck mit WEBIS,4 tagt zu Schwerpunktthemen und initiiert Unterarbeitsgruppen zur Lösung konkreter Problemlagen. Zur Zeit bestehen AGs zu den Themenkomplexen "Metasuchmaschinen", "Metadaten", "Sacherschließung" und "Benutzerschnittstelle". Diese Unterarbeitsgruppen sind keine auf Dauer eingerichteten Gremien, können in Abhängigkeit von Auftrag und Bedarf jedoch auch längerfristig bestehen.

Die Aufgaben der Unterarbeitsgruppen bestimmen sich aus der zu gewährleistenden Kompatibilität der Virtuellen Fachbibliotheken. Bestandsaufnahmen, zum Beispiel zu vorhandenen EDV-Systemen, zählen hier ebenso dazu wie die Ermittlung von dokumentarischen und technischen Konzepten, die das spätere Zusammenspiel ermöglichen und sichern. Dies betrifft, wie bereits auf der Ebene der Einzelprojekte, den Komfort hinsichtlich der Recherchemöglichkeiten, die Vorkehrungen zur Integration unterschiedlicher Metadatenformate und den Datentransfer mittels verschiedener Schnittstellen. Auch die Mensch-Maschine-Schnittstelle ist hier zu nennen: Sowohl fachspezifisch wie auch fachübergreifend werden die Nutzer über umfassende Recherchemöglichkeiten verfügen, deren Funktionalität es in adäquate Navigationsstrukturen zu übersetzen gilt.

 

Der Prozess

Die hier nur in Stichworten genannten Aufgaben sind bereits im Einzelnen äußerst komplex. Im Rahmen des Gemeinschaftsvorhabens ist zudem einer Besonderheit zu begegnen, die in dem Anliegen gründet, den Aufbau Virtueller Fachbibliotheken wegen der differierenden fachspezifischen Bedingungen bewusst dezentral zu organisieren. So sind der Aufbau einzelner Virtueller Fachbibliotheken und die Schaffung eines gemeinsamen fachübergreifenden Portals in gewisser Weise "gegenläufige Bestrebungen": einerseits Aufbau von Speziallösungen, andererseits ihre Vereinheitlichung. Und obgleich diese Darstellung nur bedingt zutrifft - denn die "Gegensätzlichkeit" wird durch Konzepte der Kompatibilität aufgefangen -, so ist doch klar, dass der Aufbau Virtueller Fachbibliotheken nicht ad hoc geschehen kann. Er ist ein Prozess, dessen technische Ausprägung begleitet ist von strukturellen Modifikationen im Bibliothekswesen selbst. Beide Aspekte gehen Hand in Hand und müssen im Zusammenspiel ein die Nutzerinteressen berücksichtigendes und entsprechend kompaktes System kreieren.

Die von der DFG startfinanzierten Projekte zum Aufbau Virtueller Fachbibliotheken müssen insofern als Strukturbildner verstanden werden. Sie implizieren den Beginn einer schrittweisen Einbeziehung fachspezifischer Datenlieferanten als Kooperationspartner. Der Ausbau der Virtuellen Fachbibliotheken als eine Art "Spinne im Netz"5 der fachrelevanten Institutionen einerseits und als Instrumente des komfortablen Datenzugriffs andererseits erfordert einen langfristigen, jedoch stetigen Verlauf, der des abwägenden Urteils künftiger Nutzer bedarf. Die Erwartung, bereits heute Zugriff auf "alle relevanten Informationen und Dokumente" zu haben, ist dem Entwicklungsstadium entsprechend noch nicht angebracht. Aber mit dem deutlichen Hinweis auf die nur sukzessiv mögliche Annäherung an das gesteckte Ziel, hoffen wir sehr auf Anregung und Kritik.

Vier Virtuelle Fachbibliotheken können inzwischen online besucht werden:

Virtuelle Fachbibliothek Psychologie http://fips.sulb.uni-saarland.de/fips.htm

Virtuelle Fachbibliothek Geschichte http://www.sfn.uni-muenchen.de/

Virtuelle Fachbibliothek Anglo-Amerikanischer Kulturraum http://www.sub.uni-goettingen.de/vlib/index.html

Virtuelle Fachbibliothek Technik http://www.tib.uni-hannover.de/vifatec/

Die nun startende Artikelreihe im Bibliotheksdienst wird gezielt und detailliert über die Arbeit in den einzelnen Projekten, über spezifische Problemstellungen und Aspekte des Gemeinschaftsvorhabens informieren. Am Beginn steht im vorliegenden Heft - anschließend an diesen Beitrag - ein Bericht zur Virtuellen Fachbibliothek Sozialwissenschaften, die am InformationsZentrum Sozialwissenschaften in Bonn verwirklicht wird.

 

1 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Memorandum zur Weiterentwicklung der überregionalen Literaturversorgung. In: ZfBB 45 (1998). S. 135 – 164. Der Text liegt auch elektronisch vor: http://www.dfg.de/foerder/biblio/memo.html.

2 GMD – Forschungszentrum Informationstechnik GmbH: http://www.gmd.de/.

3 Zu den Schwerpunktbibliotheken zählen die Universalbibliotheken, die Zentralen Fachbibliotheken und einige Spezialbibliotheken.

4 WEB BibliotheksInformationsSystem (WEBIS): http://webis.sub.uni-hamburg.de/.

5 Rutz, Reinhard: Positionen und Pläne der DFG zum Thema Virtuelle Fachbibliothek. In: ABI-Technik 18 (1998) Nr. 4. S. 402 – 409. S. 405.


Stand: 01.08.2000
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