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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 5, 2000

Originalerhaltung um welchen Preis?1

Gerd Brinkhus

 

Originalerhaltung hat ihren Preis, das ist ein Faktum, an dem wir in den Bibliotheken nicht vorbeikommen. Nicht nur die Kosten für prophylaktische und konservatorische Maßnahmen sind sehr hoch, auch Lagerraum ist teuer. Nicht umsonst wird seit Jahren darüber nachgedacht, wie man den Magazinbedarf der wissenschaftlichen Bibliotheken in den Griff bekommt, um aufwendigen Magazinneubau hinauszuschieben oder zu vermeiden...2

Nicht ohne Grund werden die neuen Möglichkeiten der komprimierten Aufbewahrung als Mikroform oder in digitalisierter Form als kostengünstige Alternativen favorisiert.

Nicht überraschend auch die Empfehlungen, mindestens 10 - 15% von der Zahl der neuerworbenen Bände als Richtschnur für die Aussonderung "veralteter" Literatur zu nehmen.3

Das Umdenken fällt nicht leicht, wenn man sich die Vorstellungen ins Gedächtnis ruft, die noch Mitte des 20. Jahrhunderts von universalen und umfassenden Bibliotheken herrschten4 unter der Maxime: Alles, was für eine wissenschaftliche Bibliothek erworben wird, muss auch auf Dauer archiviert werden.

Der Zwang zu einer stärkeren Effizienz im Bereich der Bibliotheken hat Auswirkungen, auch wenn die Kosten-Nutzen-Relationen im Bereich der wissenschaftlichen Bibliotheken nur begrenzt anwendbar sind. Zur Bewältigung der Massen an gedruckter Information und der Informationsflut generell sind Überlegungen angestellt worden, Textinhalte zu erhalten und zur Nutzung bereitzustellen, und zwar als Texte - gedruckt, verfilmt oder digitalisiert. Die neuen Medien bedingen ein Umdenken, aber auf die Erhaltung von Originalen wird man nicht verzichten können und wollen.

Diese Entwicklungen zwingen zu Einschränkungen bei der Erhaltung von Originalen, sie erfordern ein Umdenken bei der Formulierung des Sammelauftrags und der Archivfunktion der Bibliotheken und führen notwendigerweise auch zu einer Neubewertung der Altbestände in weiterem, aber auch in engerem Sinne. In weiterem Sinne wird eine Ersetzbarkeit des Altbestandes als Textträger durch neue Trägermaterialien und Medien immer mehr an Raum gewinnen. Im engeren Sinne wird man sich stärker vom Kriterium "kostbar" zum Kriterium "allgemein erhaltenswert" hinwenden müssen; das bedeutet, dass der wissenschaftliche, ideelle "Wert" gleichberechtigt neben dem antiquarischen "Marktwert" zu sehen ist.

Der Altbestand einer wissenschaftlichen Bibliothek erweist sich heute mehr denn je als eine sehr differenzierte und flexible Größe.5 Unter dem Aspekt der Archivierungswürdigkeit lässt sich der Bibliotheksbestand in drei Kategorien untergliedern:

 

Archivierungswürdigkeit von Bibliotheksbeständen:6

1.

Bestände, die in ihrer ursprünglichen, authentischen Form zu erhalten sind:

1.0

Handschriften, andere Unikate

1.1

z.B. Historische Drucke (bis 1850 = Beginn der industrialisierten Buchherstellung)

1.2

Erstausgaben von wissenschaftlichen oder literarischen Werken (sofern nicht der Kategorie 2 zuzuordnen )

1.3

herausgehobene Einzelstücke (Rara), die auf Grund ihrer Herstellungsweise original zu erhalten sind;

darüber hinaus aber auch "Ensembles", Sammlungen, die unter speziellen Gesichtspunkten zustande gekommen sind, das sind z.B.

1.4

besondere Provenienzen:

1.4.1     Historische Bibliotheken oder Teile
              von solchen,7

1.4.2     Sammlungen von Persönlichkeiten8

1.5

Thematische Sammlungen bzw. Schwerpunkte, die historisch gewachsen sind

1.6

lokale bzw. regionale Sammlungen

1.7

Historische Bestandsstufen einer Bibliothek.9

2.

Bestände, die aus Gründen ihrer inhaltlichen Aussage - als Textträger - zu archivieren sind, wobei die ursprüngliche formale Gestaltung und das Material, auf dem die Texte fixiert wurden, keine bzw. eine untergeordnete Rolle spielen. Die Bestände könnte man charakterisieren als: "Original nach Ablauf der Benutzbarkeit verzichtbar".10

3.

Bestände, deren Inhalt nur von begrenzter, aktueller Bedeutung ist und die durch Neubearbeitungen und Neuauflagen regelmäßig ersetzt werden.

Wenn man nun unter diesen Vorgaben in den wissenschaftlichen Bibliotheken von der Maxime abrückt, dass alles, was erworben wird, auch archiviert werden muss und den Bestand unter strengen Vorgaben für die Aussonderung betrachtet, müsste es eigentlich selbstverständlich sein, dass das, was als "auf Dauer archivierungswürdig" eingestuft wird, auch optimal geschützt und erhalten wird. Hier ist jedoch bisher eine schmerzliche Lücke zwischen dem Anspruch und der Realität zu sehen.

Es ist schon erstaunlich, dass zwar über eine Optimierung der Nutzungsmöglichkeiten und darüber hinaus über die Aussonderung veralteter Bestände in den wissenschaftlichen Bibliotheken nachgedacht wird, dass aber optimierte Lagerbedingungen für die zu archivierenden Altbestände wissenschaftlicher Bibliotheken auch bei Neubauten aus Kostengründen bisher kaum ein Thema sind.

 

Bestandserhaltungsmaßnahmen

Am Anfang der Bemühungen um eine Bestandserhaltungskonzeption muss eine Sichtung der Bestände stehen, die einen Überblick über die notwendigen Maßnahmen und das Mengengerüst in den drei Kategorien gibt. Planlose Entsäuerungsaktionen, die auf den Gesamtbestand zielen, sind reiner Aktionismus, bei dem unnötig wertvolle Ressourcen vertan werden.

Bei der Kategorie 3 kommen aus Kostengründen auch Reparaturen kaum in Betracht, während ein erster, fester Einband durchaus sinnvoll sein kann, wenn eine längere und intensive Nutzung absehbar ist. Die maximale Verweildauer dieser Bände im Bestand wird einen Zeitraum von ca. 30 Jahren kaum überschreiten. Der Zeitpunkt der Aussonderung wird entweder durch die "Abnutzung bis zur Unbrauchbarkeit" oder durch den Zeitraum von maximal 30 Jahren vorgegeben.

Für die Kategorie 2, deren Texte auf Dauer zu archivieren sind, ist die Frage nach Maßnahmen der Bestandserhaltung schon differenzierter zu beantworten. Da die Texte verfügbar gehalten werden sollen, ist es auch eine Frage der Rentabilität, ob man ein einmal erworbenes Original durch prophylaktische Maßnahmen möglichst lange erhält, bevor man auf ein Ersatzmedium (Ersatzverfilmung) übergeht, ob man bei intensiver Benutzung ein Ersatzmedium neben dem Original anbietet (Schutzverfilmung)11 oder ob man das Objekt so einstuft, dass das Original als "nach Ablauf der Benutzbarkeit verzichtbar" gilt und es bei Bedarf durch einen Nachdruck oder eine Neuauflage ersetzt wird.

Mit konservatorischen Maßnahmen, das sind u. a. optimierte Lagerbedingungen und Einschränkungen in der Benutzung (Benutzung leicht geschädigter oder sehr teurer Werke nur noch im Lesesaal, kein Originalversand in der Fernleihe) ist es aber auch möglich, die Benutzbarkeit von vorgeschädigten oder schwer wieder zu beschaffenden Bänden über einen längeren Zeitraum sicherzustellen, ohne z. B. zu entsäuern oder zu festigen. Das betreffende Werk muss dann aber bereits im Vorfeld der Überlegungen als "Original nach Ablauf der Benutzbarkeit verzichtbar" eingestuft werden, das bedeutet, dass keine größeren Erhaltungsmaßnahmen oder Reparaturen durchgeführt werden, sondern der Text neu beschafft wird.

Diese Denkweise ist für wissenschaftliche Bibliotheken noch ungewohnt, wird aber von den Unterhaltsträgern gefordert, wenn in den Vorgaben für den Magazinbedarf ein Anteil von 10 - 15% der Erwerbungen in Bänden als Soll für Aussonderungen vorgeschrieben wird.12 Diese Aussonderungsquote soll dem vom Wissenschaftsrat formulierten Prinzip des begrenzten Wachstums wissenschaftlicher Bibliotheken Rechnung tragen.

Der Kategorie 2 sind z. B. alle im ausleihbaren Freihandbestand einer Bibliothek aufgestellten Werke zuzurechnen, weil durch die uneingeschränkte Benutzung ein starker Verschleiß und auch ein Verlust dieser Bände nicht auszuschließen ist.

Für die Bestände der ersten Kategorie, die uneingeschränkt original und möglichst in authentischem Zustand auf Dauer zu archivieren sind, ist das ganze Instrumentarium der Bestandserhaltung13 anzuwenden. Dazu sind auch Einschränkungen in der Benutzung zu rechnen (wie z.B. Benutzung nur im Lesesaal der Bibliothek, Ausnahme vom Originalversand in der Fernleihe), um Transportschäden und Schäden durch unkontrollierte, unsachgemäße und übermäßige Beanspruchung auszuschließen. Die Möglichkeiten zur Erhaltung der Objekte des kulturellen Erbes in Bibliotheken und Archiven sind differenziert und schon mehrfach aufgezeigt und beschrieben worden, ich nenne die Stichworte:

Prophylaxe/Preservation: Vorsorge, optimale Lagerbedingungen, kontrollierte Benutzung gefährdeter Objekte, Schutzverfilmung.

Konservierung: Buchpflege, Einbandpflege durch Leder- und Pergamentpflege, Schutzverpackungen, Befestigung und dadurch Erhaltung gelockerter Teile eines Bandes.

Mit konservierenden und vorsorgenden Maßnahmen ist es bei verhältnismäßig geringem Aufwand für das Einzelobjekt möglich, originale Substanz in vollem Umfang zu erhalten.

 

Schutzverfilmung

Weil die auf Dauer zu archivierenden Bestände neben ihrer Aufgabe als Träger buchhistorischer und kodikologischer Informationen und ihrem intrinsischen Wert immer noch in ihrer Funktion als Träger eines Textes gefragt sind - eine Aufgabe, die jedes Buch in einer Bibliothek selbstverständlich immer behalten wird -, werden sie auch weiterhin als Texte - wie die Bestände der Kategorie 2 - genutzt werden. Wegen ihrer besonderen Bedeutung ist es aber nötig, diese Art der Nutzung, wenn sie zu intensiv wird, durch Ersatzmedien (Film, Digitalisierung) aufzufangen und die Bände darüber hinaus vor unkontrollierbaren Beanspruchungen durch Versand oder Ausleihe zu schützen. Dies wird am besten durch eine ad hoc vorgenommene Umsetzung in Mikrofilm erreicht. Da die Kosten für die Verfilmung relativ hoch sind und die Verfilmung ein Original auch stark belastet, bietet es sich hier an, die Kooperation mit anderen Bibliotheken zu suchen, damit nicht der gleiche Text an verschiedenen Stellen mehrfach verfilmt werden muss.14

 

Bestandserhaltungskonzeption

Vorsorge und konservatorische Maßnahmen müssen aber für den Gesamtbestand konzipiert und durchgeführt werden, sie erfordern deswegen einen großen personellen und letztlich auch finanziellen Einsatz. Dabei sollte durchaus geeignete Vorsorge getroffen werden, um Bände der Kategorie 2 solange zu erhalten wie ohne besonderen Aufwand möglich und sie dann durch andere Medien zu ersetzen. Die Sichtung des Bestandes auf Zugehörigkeit zu den Kategorien 1 bis 3 ist notwendig, um sachgerechte Entscheidungen treffen zu können. Die Auswahl der Bestände für die Kategorie 1 muss allerhöchste Priorität haben und sorgfältig vorgenommen werden, da Entscheidungen gegen eine dauerhafte Archivierung nicht reversibel sind.

Um eine "Bewertung" des Bestandes - ein Bestandserhaltungskonzept - werden die wissenschaftlichen Bibliotheken langfristig nicht herumkommen. In diesem Bestandserhaltungskonzept sollte die Bewahrung des authentischen Materials der Kategorie 1 erste Priorität haben, ist es doch nur dann möglich, unscheinbare Spuren und Informationen zu erhalten. Ziel der Bestandserhaltung muss sein, Kulturgut, das als archivierungswert erkannt ist, authentisch zu bewahren, daher muss die Bewahrung des Originalzustandes oberstes Gebot sein. Einziger Grund für einen Eingriff in die authentische Lebensgeschichte darf sein, einen akuten Verfall aufzuhalten, einen drohenden Schaden abzuwenden. Nur dann können Originale ihre über den Text hinausreichenden Informationen bewahren und künftigen Generationen weitergeben. Nur so können sie im Zusammenhang mit der sowieso schon lückenhaften Gesamtüberlieferung beitragen zu einem modifizierten Bild der Buchkultur vergangener Zeiten.

Die Differenzierung, die bei der Bestandsbewertung angewendet wird, muss auch für die Bestandserhaltung Gültigkeit haben. Neben das Erwerbungsprofil einer Bibliothek sollte ein Erhaltungsprofil treten, in dem in Abstimmung mit anderen Bibliotheken sichergestellt wird, dass Originale in authentischer Form in einem historischen Zusammenhang bewahrt bleiben, soweit dieser Zusammenhang heute noch erkennbar ist.

 

Originalerhaltung in authentischem Zustand

Das 19. Jahrhundert hat in der Bibliotheks- und Buchgeschichte irreparable Verwüstungen angerichtet, weil Bücher nur als Textträger unter völlig unzulänglichen Aspekten bewertet wurden. Ein Kahlschlag in der Bibliothekslandschaft, der das Bild der Buchkultur früherer Jahrhunderte häufig nur noch schemenhaft erahnen lässt. Der Zweite Weltkrieg hat eine weitere, katastrophale Zerstörung von Zusammenhängen und Spuren bewirkt, und die Freude darüber, dass die Zimelien vieler Bibliotheken die Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit doch überstanden haben, wird dadurch getrübt, dass durch die weitere Preisgabe von "minderbewerteten" Objekten der Blick zurück noch stärker einseitig auf Zimelien gerichtet wird. Die Buchkultur unserer Vorfahren hat sich eben nicht aus den mit Edelmetallen und Edelsteinen geschmückten Kodizes der Domschatzkammern fortentwickelt; diese Prunkstücke sind allenfalls Glanzpunkte eines kleinen Ausschnitts aus der Kulturgeschichte. Auch besteht die literarische Überlieferung eines Volkes nicht nur aus Werken der großen, anerkannten Autoren.

Wir müssen umdenken. Über die Prachtstücke der Sammlungen sind wir meistens sehr gut informiert, wenn nicht bereits in früheren Zeiten durch immer neue gutgemeinte Restaurierungen und Umbindungen auch die letzten authentischen Spuren des äußeren Erscheinungsbildes zerstört sind.

Das heißt nicht, dass die Zimelien bei der Bestandserhaltungskonzeption nicht berücksichtigt werden sollen; sie müssen ihren Stellenwert behalten, und sie müssen auch in Zukunft durch konservatorische Maßnahmen gesichert bleiben.15 Allerdings sollten der Ensembleschutz, die konservatorischen Maßnahmen für die große Zahl kleinerer Sammlungen und Sammlungsteile mindestens gleiche Priorität erhalten.

Natürlich ist die Mittelbeschaffung für konservatorische Maßnahmen nicht unproblematisch. Aussichtsreicher ist es, Sponsoren zu gewinnen, wenn man einige herausragende Objekte, die in einem schlechten Zustand sind, zu einem "Gruselkabinett" zusammenstellt und sagen kann: Mit 2.000,-, 5.000,- oder 10.000,- DM kann dieses Objekt vor dem Verfall gerettet werden. Es ist sicher legitim, auf diese Weise wichtige Objekte des Bestandes wieder vorzeigbar zu machen, aber bei einer Bestanderhaltungskonzeption kann es nicht darum gehen, den hypothetischen Urzustand eines Einzelstücks herzustellen. Die Lebensgeschichte eines Stückes, ablesbar am Originalzustand zum Zeitpunkt der Bewertung, hat den absoluten Vorrang, bewahrt zu werden. Unter dieser Voraussetzung wird es dann schwierig, einem Sponsor zu vermitteln, warum eine kostenaufwendige, fachgerechte Restaurierung nicht notwendigerweise ein strahlend neues Objekt ergibt.

Die moderne Reproduktionstechnik, gepaart mit kunsthandwerklicher Geschicklichkeit ist heute in der Lage, Repliken herzustellen, die von den Originalen bei oberflächlicher Betrachtung kaum zu unterscheiden sind. Die Faksimiletechnik ist so weit fortgeschritten, dass man fast alle auftretenden Fragen zu Text und Abbildungen ohne Zuziehung des Originals beantworten kann. Was aber über diese primäre Fragestellung hinausgeht - Techniken, Beschreibstoff, Tinten, Farben, Materialien - kann nur an einem weitgehend unveränderten Original untersucht werden.

Wenn es also darum geht, Originale unseres kulturellen Erbes zu erhalten, muss es in erster Linie darum gehen, Originalzustände zu bewahren, weil nur daraus für künftige Generationen Erkenntnisse möglich sind. Originale in diesem Sinne tragen Informationen über den enthaltenen Text hinaus, sie stehen als Einzelstücke für die Entwicklung von Buch- und Einbandtechnik, repräsentieren graphische Techniken oder sind als Teil eines Ensembles Mosaiksteine zur Rekonstruktion von Sammlungen (Kloster-, Pfarrbibliotheken, Ergebnisse eines Sammlerlebens) und gewinnen in diesen Zusammenhängen eine völlig neue Dimension der Aussagen.

Selbstverständlich wird es auch unter diesen Beständen Einzelstücke geben, die einer umfassenden Restaurierung bedürfen, weil sie in ihrer Substanz gefährdet sind bei dem weitaus größeren Teil dieser Bestände wird es aber darum gehen, mit möglichst rationellen Behandlungsverfahren und Erhaltungsmaßnahmen größere Mengen von gleichartigen Schäden zu beseitigen: Entsäuerung und Festigung des Papiers, Befestigung loser Einbandteile (Rücken, Deckel, Schließen), möglichst unter Erhalt des originalen Erscheinungsbildes, oder das Schließen von Rissen. Da es sich bei der Kategorie der auf Dauer zu archivierenden Bestände um Mengen handelt, die leicht die Größenordnung von einigen hunderttausend Bänden erreicht, ist schon die Schadensaufnahme eine zeitraubende und personalintensive Angelegenheit. Legt man dann für die erhaltenden, kleinen Maßnahmen, die für eine dauerhafte Archivierung unerlässlich sind, eine Summe von nur DM 50,- oder 100,- pro Band zugrunde, kommt man sehr schnell wieder in den Bereich von fehlenden Millionen, die für dringende, bestandserhaltende Maßnahmen in einer wissenschaftlichen Bibliothek erforderlich sind.16

Einzelrestaurierungen an hervorgehobenen Objekten, die von einem Sponsor finanziert werden, erhalten unter diesen Umständen allzu leicht eine Alibifunktion. "Wenn wir schon kaum etwas für die Erhaltung des zu archivierenden Altbestands tun können, so können wir doch auf jeden Fall zeigen, dass für die Bestanderhaltung etwas getan wird."

Leider wird auf diesem Wege gelegentlich zu viel getan, die Restaurierung wird in die Wege geleitet, ein Sponsor gesucht und gefunden und - wenn schon, dann richtig - der Band wird zerlegt, gereinigt, geglättet, neu geheftet, gebunden - wenn möglich unter Verwendung des alten Einbandbezugs. Der Band ist gerettet! Aber ist durch diese Maßnahmen wirklich etwas im Sinne des Erhaltens in authentischer Form getan worden? Das Buch ist wieder benutzbar, aber erhalten ist häufig nur noch der Text auf einem originalen Träger. Ist es wirklich der Mühe wert, unter Aufwand erheblicher Mittel ein Objekt zu reinigen, zu liften und kosmetisch zu behandeln und es dadurch zu verjüngen? Ist das noch ein Original? Original, das ist nicht nur der Text und der Schriftträger, der Einbandbezug mit Stempeln. Original, das sind auch Gebrauchsspuren an Einband und Blättern, das ist die Hefttechnik ebenso wie die Art der Holzdeckelbearbeitung, die Einschläge am Lederbezug, die Spuren des Beschneidmessers im Schnitt,17 der überladene historistische Verlagseinband usw. Es gilt auf jeden Fall: Mehr Prophylaxe, mehr Konservierung, weniger Restaurierung und möglichst keine Rekonstruktionen.18

 

Originalerhaltung durch Kooperation

Aber auch die konservatorischen Maßnahmen, wie zum Beispiel Entsäuerung von Beständen, müssen sich an den Notwendigkeiten orientieren. Wenn nur ein Bruchteil dessen behandelt werden kann, was eine Behandlung nötig hätte, dann sollte man das auswählen, was als authentisches Original nicht ersetzt werden kann. Die authentische Erhaltung der Überlieferungsstufen von gedruckten Texten wird durch das Projekt "Sammlung Deutscher Drucke" und - für die neueste Zeit - durch die Pflichtexemplare abgedeckt.19 Reproduktionen, ob als Film oder Datei, sind heute jederzeit möglich.

Aktionismus einzelner Bibliotheken - pressewirksam verkauft - kann unter Umständen für das Gesamtanliegen sehr kontraproduktiv sein. In dem Bemühen um die Erhaltung des kulturellen Erbes kann keine Bibliothek den Anspruch erheben, dieses Ziel allein erreichen zu können. Kooperation, Abstimmung im Vorfeld, sollten sicherstellen, dass die Botschaft richtig überkommt: alle Bibliotheken dienen dem gleichen Ziel. Die Probleme, bestimmte Bestände zu erhalten, sind allgemein, und gemeinsam muss versucht werden, kulturelles Erbe auf Dauer zu erhalten.

Versuchen wir, die allzu knappen Mittel möglichst effektiv für die Erhaltung von authentischen Originalen einzusetzen. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir Teile unsere Bestände nicht im Original erhalten können, die Erhaltung authentischer Originale muss aber gesichert sein, regional und national. Versuchen wir, die Möglichkeiten zur Kooperation zwischen den Bibliotheken, die sich durch die digitalen Katalogdatenbanken ergeben, zu nutzen, vorhandene Verfilmungen zu nutzen (z.B. die Möglichkeiten von EROMM), den Leihverkehr von Bestellungen auf Originale, die zum Archivbestand gehören, freizuhalten. Auch wenn ein "Erhaltungsprofil" für jede Bibliothek gesondert erarbeitet werden muss, sollten grundsätzliche Fragen zur Bewahrung von gedrucktem Schrifttum zwischen den Bibliotheken geklärt und ausdiskutiert werden.

Die Problematik um die Erhaltung von Originalen und um die Archivierungswürdigkeit von Bibliotheksbeständen hat sich zugespitzt; noch können wir gestalten. Wir sind dazu verpflichtet.

Der Sammelauftrag der wissenschaftlichen Bibliotheken hat sich geändert und wird sich weiter ändern dadurch, dass digitalisierte Texte über die Netze an jedem PC verfügbar sind. Der modifizierte Auftrag an die wissenschaftlichen Bibliotheken könnte lauten: "Sammeln und in qualifizierter Auswahl Originale authentisch bewahren".

 

1 Vortrag, gehalten auf dem Kongress der BDB und der DGI in Leipzig "Information und Öffentlichkeit", März 2000.

2 Wissenschaftsrat. Empfehlungen zum Magazinbedarf wissenschaftlicher Bibliotheken. (Köln 1986)

3 Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg: Richtlinien für die Aussonderung von Bibliotheksgut sowie Auswahlkriterien für den Bestandszuwachs durch den Schriftentausch (Aussonderungsrichtlinien) vom 19. Mai 1998 ( veröffentlicht in: Wissenschaft, Forschung und Kunst 1998, S. 223 - 224.

4 z. B. Handbuch der Bibliothekswissenschaft. 2. Auflage, Bd. 2 Bibliotheksverwaltung, Fritz Redenbacher: Die Erwerbung, S. 121: "Alle Universalbibliotheken sind zugleich Archivbibliotheken. Was einmal in ihre Bestände aufgenommen und in ihren Katalogen verzeichnet worden ist, wird als dauernder Besitz betrachtet."

5 Gisela Ewert und Walther Umstätter: Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung. Stuttgart 1997, S. 64

6 Gisela Ewert und Walther Umstätter: Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung. Stuttgart 1997, S. 65

7 z. B. Teile einer Kloster- oder Pfarrbibliothek, die sich noch als zusammengehörig feststellen lassen.

8 z. B. die medizinische Handbibliothek eines Wissenschaftlers aus dem 19. Jahrhundert.

9 Hier ist zu berücksichtigen, dass wissenschaftliche Bibliotheken in ihren historischen Teilen durchaus selbst Teil der Wissenschaftsgeschichte sind, Quellencharakter haben und daher selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung werden können. Inwieweit und bis zu welchem Zeitschnitt man den Gesamtbestand einer wissenschaftlichen Bibliothek mit mehreren Jahrhunderten ungebrochener Tradition als wissenschaftshistorische Quelle ansehen muss, und ab wann gegebenenfalls Kataloge diese Aufgabe übernehmen können, ist ein Problem, das die Wissenschaftshistoriker klären sollten, bevor in den Bibliotheken unter dem Druck der Massen und der Sparmaßnahmen unkorrigierbare Entscheidungen getroffen werden.

10 Für diese Bestände wird die Archivierung des Originalzustands von den Pflichtexemplarbibliotheken und von den Bibliotheken des Projektes "Sammlung Deutscher Drucke" wahrgenommen.

11 ... wobei man die Möglichkeit, den Text auch im Original zu benutzen, deutlich verlängert.

12 z.B. Richtlinie des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg vom 30. 6. 1999

13 Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken. Hrsg. von Hartmut Weber. Stuttgart 1992 und Bestandserhaltung. Herausforderung und Chancen. Hrsg. von Hartmut Weber. Stuttgart 1997

14 Gute Kooperationsmöglichkeiten für den Bereich der Monographien bieten sich über EROMM und GEROMM an, es wäre aber auch bereits eine Abstimmung in den Regionen der einzelnen Verbünde oder in Leihverkehrsregionen von großem Nutzen. Auch ist es unbedingt sinnvoll, die großen Mikrofiche-Projekte, z.B. "Bibliothek der Deutschen Literatur", "Bibliotheca Palatina" als Schutzverfilmungen zu nutzen und die Originale nur noch einer örtlichen Nutzung zugänglich zu machen. Auf gleiche Weise können auch Digitalisierungsprojekte genutzt werden. Wichtig ist nur, dass möglichst schnell eine gute Erschließung und Koordinierung solcher Projekte, die ja z. T. auf verlegerische Initiativen zurückgehen, erreicht wird. Für Zeitungsverfilmungen gibt es das Mikrofilmarchiv der deutschen Presse in Dortmund (Neuester Katalog 1999)

15 Man kann Objekte jahrzehntelang, ja jahrhundertelang erhalten, wenn die konservatorischen Gegebenheiten optimiert werden und die Benutzung auf die unbedingt notwendigen Fälle reduziert bleibt.

16 Bei einem konsequenten Erhaltungsprofil einer Bibliothek gehen die Kosten für den Ersatz von Bänden der Kategorie 2 im Prinzip zu Lasten des Erwerbungsetats.

17 Siehe z.B. J.A. Szirmai: Archeology of Medieval Bookbinding. Aldershot 1999 und J.A. Szirmai: Stop Destroying Ancient Binding, in: Biblos 41 (1992), S. 84 - 86, Restauro 96 (1990), S. 171-172.

18 Gerd Brinkhus: Instandsetzung von Kulturgut - Konservierung, Restaurierung, Renovierung, Rekonstruktion und Replik. Zur Begriffsklärung und zu den Grundsätzen. In: Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken. Hrsg. von Hartmut Weber. Stuttgart 1992, S. 43 - 52.

19 Vor allem für die Bestände des 19. und frühen 20. Jahrhunderts muss aber noch geklärt werden, ob die Bewahrung solcher Bestände unter regionalen Gesichtspunkten in den einzelnen Regionen gesichert ist.


Stand: 03.05.2000
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