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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 3, 2000

John Rylands Library 1900 - 2000

Gernot Gabel

 

Wer als Tourist durch die Innenstadt von Manchester wandert, dem wird in der Deansgate ein kirchenähnlicher Bau ins Auge fallen, dem der Kirchturm zu fehlen scheint. Ein Blick in die gotische Eingangshalle und in das matt beleuchtete Treppenhaus mag den sakralen Eindruck verstärken, doch sobald man den Lesesaal betritt, weiß man sich in einer der großen Bibliotheken der Welt: der John Rylands Library, die vor genau 100 Jahren ihre Tore öffnete.

Der Reichtum der Stifter beruhte auf Baumwolle. Als John Rylands 1888 starb, war die Firma, die sein Vater 1819 gegründet hatte, mit 12.000 Mitarbeitern das größte Textilunternehmen in England. John Rylands war ein gläubiger Methodist und für seine großzügigen Stiftungen an Gemeinden und Bedürftige bekannt. Seine Witwe Enriqueta Augustina traf die Entscheidung, zur Erinnerung an ihren Mann den größten Teil des immensen Vermögens (ca. 2,7 Millionen Pfund) für den Bau und die Ausstattung einer Privatbibliothek aufzuwenden, die vornehmlich auf Theologie ausgerichtet und der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte. Mrs. Rylands beauftragte den renommierten Architekten Basil Champneys mit der Ausarbeitung von Bauplänen, die in einer fast zehnjährigen Bauzeit umgesetzt wurden. Entstanden ist ein neogotischer Baukörper, dessen Sandstein Farbnuancen von Grau bis Weinrot aufweist. Reich verzierte Holzverkleidungen und in Bronze gegossene Kandelaber im Art-Nouveau-Stil ergänzen das Interieur harmonisch. Als eines der ersten öffentlichen Gebäude in Manchester wurde die Bibliothek mit elektrischer Beleuchtung - sauberer und sicherer als Gas - ausgestattet. Die Eingangshalle ist mit drei Figuren geschmückt, die Theologie, Kunst und Wissenschaft symbolisieren, und an den Wänden im Lesesaal, der an beiden Enden großflächige Kirchenfenster mit Bleiverglasung aufweist, sind die Marmorbüsten von sechzig Dichtern und Gelehrten aufgestellt. Mrs. Rylands wies den Architekten an, das Beste an Material und an Handwerkern einzusetzen und keine Kosten zu sparen, damit die Bibliothek zum hochrangigen Beispiel neo-gotischer Baukunst im Norden England werde. Seit einigen Jahren ist das Gebäude offiziell als historisches Monument ausgewiesen.

Als die John Rylands Library am 1. Januar 1900 ihre Tore öffnete, konnte sie ihren Besuchern einen reichen Bücherschatz präsentieren, denn Mrs. Rylands hatte jede Chance genutzt, um das entstehende Schatzhaus mit qualitätvollem Inhalt zu füllen. Zunächst war nur eine theologisch ausgerichtete Bibliothek intendiert, und Mrs. Rylands gab den Londoner Antiquariaten Aufträge, ihr entsprechende Angebote einzureichen. Die angekauften Bände wurden in ihrer Residenz Longford Hall (in Stretford bei Manchester) verwahrt. Als dann wertvolle Bestände auf den Antiquariatsmarkt kamen, ließ sich Mrs. Rylands von ihren Beratern umstimmen und erweiterte den Sammelauftrag auf die gesamten Geisteswissenschaften. 1892 kam die Althorp Library des Grafen Spencer (ein Vorfahre von Prinzessin Diana!) zur Auktion, die berühmteste Sammlung früher Druckerzeugnisse in ganz England, und Mrs. Rylands gelang es, die gesamte Kollektion zu erwerben. Bibliophilen galt die rund 40.000 Bände zählende Sammlung als "die schönste und beste Privatbibliothek Europas". Wenige Monate vor Eröffnung der Bibliothek gelang der Stifterin ein zweiter Coup: aus der Bibliothek der Grafen von Crawford (Bibliotheca Lindesiana) erwarb sie die ca. 6.000 Manuskripte, womit sie die Rylands Library mit einen Federstrich in die Liga der großen Handschriftenzentren der Welt brachte.

Henry Guppy, der erste Bibliothekar der John Rylands Library, konnte den Besuchern zur Eröffnung eine Auswahl von rund 70.000 Bänden bieten. Als Mrs. Rylands 1908 starb, war die Bibliothek bereits in die vorderste Linie der großen Forschungssammlungen des Landes aufgerückt. Das gelungene Beispiel bürgerlichen Stifterstolzes fand in den folgenden Jahren zahlreiche Nachahmer, und so manche Familie übereignete ihre bibliophilen Schätze den Hütern des gotischen Bücherspeichers. Hinzu kamen die Archive großer Firmen aus der Stadt und der Region, von Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen. Die Bibliotheksleitung hat den Kurs, auf potentielle Leihgeber und Spender aktiv zuzugehen, stets mit Diskretion und langem Atem eingehalten, und die Kombination von Forschung und Bibliophilie hat sich als gutes Argument in den Verhandlungen mit potentiellen Spendern erwiesen. Für Einrichtungen der öffentlichen Hand ist dieser Ansatz inzwischen unverzichtbar, denn bekanntlich haben sich auf dem Büchermarkt die Preise für Rara denen auf dem Kunstmarkt in einigen Fällen angepasst.

Nach dem Tod der Stifterin führte Henry Guppy den Auftrag, die private Bibliothek zu einer hochrangigen Forschungseinrichtung auszubauen, mit großem Engagement weiter, aber nach dem 1. Weltkrieg wurde offensichtlich, dass das Stiftungskapital nicht mehr für bedeutende Ankäufe ausreichen würde. Bereits 1925 klagte die Bibliotheksleitung über den engen finanziellen Spielraum, der gerade noch ausreichte, um die laufenden Unterhaltskosten zu bestreiten. Nach dem 2. Weltkrieg sollte sich diese Situation weiter verschärfen. Da erwies es sich als weitsichtig, dass Mrs. Rylands von Anbeginn Mitglieder des Lehrkörpers der 1851 gegründeten University of Manchester in den Beirat der Bibliothek berufen hatte. Da manche Professoren auch dem Beirat der Universitätsbibliothek angehörten, ergab sich bald ein enger Kontakt zur Bibliothek der Universität, der im Laufe der Jahre zu einer engen Kooperation beider Institutionen und einer Verzahnung der Sammlungsprofile führte. Das 19. Jahrhundert war bekanntlich die Zeit der großen Stiftungen, und die schnell an Ansehen gewinnende Universitätsbibliothek erweckte in vielen den Wunsch, ihr Bücher zu vermachen. So wurde der erste, 1898 eingeweihte Bibliotheksbau von Professor Richard Christie gestiftet, der ihr auch noch seine qualitativ hochrangige Renaissance-Sammlung übereignete. In schneller Folge kamen weitere Kollektionen hinzu, darunter exzellente Spezialsammlungen zur mittelalterlichen Geschichte, zur Kultur des Nahen Ostens, griechischem Recht und Geschichte, und zu Goethe und Schiller, was den nicht unbedeutenden deutschen Einfluss in der Stadt widerspiegelte. In nicht geringem Maße wurden die Buchvermächtnisse zu einem Wachstumsfaktor der Bibliothek, und ein hoher Anteil dieser gestifteten Werke ist heute als Rara anzusehen.

Mitte dieses Jahrhunderts war dann die Situation gegeben, dass sich nicht nur in der Größe, sondern auch in der Qualität der Sammlungen eine gewisse Gleichgewichtigkeit ergab, die zu Überlegungen führte, beide Einrichtungen zusammenzulegen. Lehrende wie Studierende der Universität nutzten die exzellenten Ressourcen der Rylands Library ausgiebig, und die Universität ließ der Privatbibliothek alljährlich eine Vergütung für diese Leistungen zukommen. Die weitgehende Kooperation beider Häuser und die schwindenden Finanzressourcen der Rylands Library führten schließlich 1972 zur Vereinigung der beiden Bibliotheken. Die Zusammenlegung stellte zudem sicher, dass Mrs. Rylands Wunsch, die Schenkung als für die Gesellschaft nützliche Einrichtung zu erhalten, erfüllt wurde. Mit über 2,5 Millionen Bänden und etwa 16.000 Manuskripten zählte die nunmehr John Rylands University Library of Manchester (JRULM) genannte Einrichtung bereits 1972 zu einer der größten im Lande.

Die immensen Ressourcen der vereinigten Bibliotheken können hier nur in Ansätzen dargestellt werden. Handschriftliche Zeugnisse liegen aus mehr als fünfzig Sprachen vor, darunter aus allen größeren Sprachen Europas und des Nahen Ostens. Sie umspannen einen Zeitraum von rund fünf Jahrtausenden, von sumerischen Tontafeln und ägyptischen Papyri bis zu mittelalterlichen Kodizes und Briefsammlungen neuzeitlicher Autoren (z.B. Brontë, Thackeray, Shaw, Yeats, Gaskell, Hugo). Die Abteilung ältere Druckschriften umfasst rund 4.000 Inkunabeln aus etwa 500 Druckerpressen Europas, darunter Drucke aus den Offizinen von Gutenberg, Fust und Schoeffer sowie die größte Sammlung von Aldinen (ca. 800) in der Welt, die zweitgrößte Kollektion von Caxton-Drucken (etwa 60) und eine umfangreiche Bibel-Kollektion. Auch das erste datierte Blockbuch Europas (aus dem Jahre 1423) ist in der JRULM zu finden. Aus den Jahren 1475-1640 liegen rund 12.500 Bände vor, aus der Zeit 1641-1700 etwa 45.000. Für das 18. Jahrhundert wird eine Bestandszahl von 160.000 genannt, für das 19. Jahrhundert von rund 400.000 Bänden. Aus allen Jahrhunderten finden sich herrlich illustrierte Werke, schöne Beispiele für Pressendrucke sowie exquisite Bucheinbände. Diese Schätze und ein Spektrum fachlich breit gestaffelter Einzelkollektionen werden heute im historischen Gebäude in der Deansgate, das ausschließlich den Spezialsammlungen vorbehalten ist, verwahrt. Mit rund 5 Millionen bibliographischen Einheiten ist die JRULM, die zum selektiven Kreis der Research Libraries Group (RLG) gehört, heute die drittgrößte Hochschulbibliothek in Großbritannien.


Stand: 29.02.2000
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