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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 6, 98

"Fachreferat 2000" *

13 Thesen zur Differenzierung des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes

Wolfgang Schibel

1. These: Der sogenannte wissenschaftliche Bibliotheksdienst läßt sich nicht als ein Beruf begreifen. Was verbindet den Stellvertretenden EDV-Leiter der Württembergischen Landesbibliothek, einen Informatiker ohne bibliothekarische Ausbildung, mit der Referentin für Einblattmaterialien an der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, die (wozu eigentlich?) das Referendariat absolviert hat, was den Leiter der UB Bayreuth mit dem Leiter des Instituts für Buchrestaurierung an der Bayerischen Staatsbibliothek, was die Dozentin für Bibliothekswissenschaft an der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen in Stuttgart, eine gelernte Diplom-Bibliothekarin (ÖB) und promovierte Germanistin, mit dem bibliothekarischen Gemischtwarenhändler, der dieses schreibt - Leiter der Katalogabteilung und Referent für Alte Drucke an der UB Mannheim, nebenbei noch zuständig für die Fächer Klassische Philologie und Archäologie, Romanistik und Slavistik, Theologie und Kunstgeschichte? (Alle Beispiele außer dem letzten sind dem Alphabetabschnitt A - Blie des Personalteils des aktuellen Jahrbuchs der deutschen Bibliotheken entnommen.)

Ist es die gleiche Ausbildung? Nein: Jeder siebente Angehörige des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes hat kein bibliothekarisches Examen absolviert; mancher hat es erst nach erfolgter Anstellung an einer Bibliothek getan - wohl aus eher formalen Gründen. Ist es eine gleichartige Tätigkeit? Nein - die genannten Beispiele zeigen es zur Genüge. Ist es der institutionelle Ort? Die Arbeitsplätze der im VDB-Jahrbuch so benannten "Angehörigen des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes" befinden sich nicht nur in wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken verschiedenster Art, sondern auch in Einrichtungen der bibliothekarischen Infrastruktur wie Ausbildungsstätten, Verbundzentren, Bibliotheksreferaten der Ministerien und der DFG, gelegentlich auch in Archiven, im Buchhandel oder in Forschungsinstituten. Was die Genannten auf jeden Fall miteinander verbindet, ist, daß sie im Jahrbuch der deutschen Bibliotheken als Angehörige des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes geführt werden.

2. These: Der Streit um das Berufsbild des wissenschaftlichen Bibliothekars ist angesichts der nicht erst heute eingetretenen Differenzierung bibliothekarischer Arbeitsfelder schon längst gegenstandslos. Er ist überdies schädlich, weil er die Eigeninteressen verschiedener Tätigkeitstypen gegeneinander ausspielt. Das läßt sich an dem jüngsten Diskussionsbeitrag, der gerade im Bibliotheksdienst (Heft 4, 1998) erschienen ist, gut ablesen. Da macht ein Autorentrio aus der Universitätsbibliothek Münster (te Boekhorst, Buch und Ceynowa) gegen die Thesen von Oehling und Jochum (s. Bibliotheksdienst, Heft 2, 1998) geltend, daß die wissenschaftsimmanente Arbeit des Fachreferenten an Umfang und Bedeutung immer mehr abnehme. Vom wissenschaftlichen Bibliothekar an Hochschulen sei nunmehr kompetentes Hochschulinformationsmanagement nach Kriterien betriebswirtschaftlicher Effizienz gefordert - ein äußerst spannendes und anregendes Aufgabenfeld, wie die Autoren betonen.

Es ist nicht das erste Mal, daß junge Kollegen, die das Glück haben, neue Konzepte entwickeln und erproben zu können, dem alten Beruf ein neues Profil, ihr Profil, geben wollen. Die Autoren aus Münster wirken an Projekten mit, die von der DFG und der IFLA finanziert und von der Direktorin ihrer Bibliothek engagiert gefördert werden. Sind das die Normalbedingungen unserer Arbeit? Wieviele Zukunftsgestalten des wissenschaftlichen Bibliothekars haben wir nicht innerhalb einer Generation gesehen! Oft wurden sie, kaum geboren, aufs Altenteil expediert. Und wenn es dem in Münster konzipierten "Fachmann für universitäre Leistungserstellung" auch besser ergehen sollte: Wer von uns kann glauben, daß die Direktion einer Universitätsbibliothek den gesamten höheren Bibliotheksdienst, also 10 bis 20 Kollegen, in diese "spannenden" Managementprozesse einbeziehen wird? Werden Leitungs- und Planungsaufgaben nicht an den meisten Bibliotheken von einem "inneren Kreis" wahrgenommen, der sich selbst genug ist? Wäre übrigens eine Universitätsbibliothek mit 15 umtriebigen "Generalisten" nicht auch allzu verschwenderisch ausgestattet?

3. These: Die Definition ausdifferenzierter beruflicher Profile und "career tracks" für Angehörige des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes ist dringlich. Die Hälfte der Stellen wird in den nächsten 12 Jahren aus Altersgründen frei. Soll ihre Wiederbesetzung gesichert werden, muß den Entscheidungsträgern jeweils eine spezifische, unentbehrliche Leistung, wie sie nur ein Spezialist mit klar definiertem Qualifikationsprofil erbringen kann, angeboten werden. Das Durchschnittsalter einer von mir ausgezählten Stichprobe - 200 Stelleninhaber aus dem Personalteil des VDB-Jahrbuchs in alphabetischer Folge von Abele bis Dauer (ausgenommen Personen mit DDR-typischen Ausbildungsgängen und solche mit unvollständigen Angaben) - liegt bei 50 Jahren, also noch 2 Jahre höher als das der überalterten Gymnasiallehrerkollegien in Baden-Württemberg. Jeder dritte der Berufsgruppe ist so alt wie ich (56 Jahre) oder älter, übrigens ein mächtiges Potential für Innovationen - wenn erst einmal ausgeschieden.

4. These: Die gegenwärtige Laufbahnstruktur mit ihrer bibliothekarischen Einheitsausbildung und ihren beamtenrechtlichen Beförderungskriterien verhindert Spezialisierung und berufliche Kontinuität. Schon das Referendariat bedeutet - nach einem wissenschaftlichen Studium von durchschnittlich etwa 7 bis 8 Jahren (etwa die Hälfte des Berufsstandes hat promoviert) - für die meisten einen Bruch in der beruflichen Ausrichtung. Die Aufgaben des wissenschaftlichen Bibliothekars korrespondieren bei der von mir ausgewerteten Stichprobe (meiner Schätzung zufolge, die sich auf die summarischen Angaben des Jahrbuchs stützt) nur zu 56 % mit dem Primärstudium. Oft bieten sie auch nicht die Chance erneuter Spezialisierung und des kontinuierlichen Ausbaus von Kenntnissen und Fähigkeiten. Der Aufstieg in herausgehobene Positionen verlangt meistens ein Abrücken vom Studienfach und die autodidaktische Aneignung heterogener Kenntnisse. Von den über 48 Jahre alten Bibliothekaren meiner Stichprobe hat jeder zweite eine herausgehobene Stelle (A 15, A 16 o. ä.) erreicht. Da die jüngeren Jahrgänge nur halb so stark besetzt sind wie die der vor 1950 Geborenen, steht, jedenfalls rechnerisch, allen ab 1950 geborenen Angehörigen des wissenschaftlichen Bibliotheksdienstes der Aufstieg in eine herausgehobene Stelle bevor - ob sie es wollen oder nicht. (Diese Aussage bezieht sich auf den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst insgesamt, einschließlich der Fachhochschulprofessoren und des Personals kleinerer Bibliotheken, an denen sich im höheren Dienst zumeist ein günstigerer Stellenkegel findet als an den großen Universalbibliotheken.) Sie werden folglich das Tätigkeitsprofil des Fachreferenten nicht lange pflegen können.

5. These: Die Chancen, sich als bibliothekarischer subject specialist zu etablieren, sind heute gering. Dafür verantwortlich sind nicht allein Beförderungskriterien und Aufstiegswünsche. Auch die Verschiebung von Fachreferaten in einem fluktuierenden Kollegium, die Zuweisung von Fächern, die man nicht studiert hat, vor allem aber der Mangel an Zeit verhindern allzu oft eine Fachreferatsarbeit, die diesen Namen verdiente. Wenn an den wissenschaftlichen Universalbibliotheken - die großen Staats- und Nationalbibliotheken ausgenommen und Sondersammelgebietsaufgaben nicht gerechnet - für die Betreuung des gesamten Fächerspektrums im Durchschnitt nur 10 Fachreferenten mit jeweils knapp der Hälfte ihrer Arbeitszeit zur Verfügung stehen, dann muß die von Oehling u. a. geforderte Erweiterung und Vertiefung der Fachreferatsarbeit eine Illusion bleiben.

6. These: Keine Universität kann sich einen Stab kompetenter subject specialists für ihr gesamtes Fächerspektrum leisten, es sei denn, sie griffe dafür auf Stellen des akademischen Mittelbaus zurück. Will man den spezialisierten Fachreferenten, muß man ihm daher einen regionalen Arbeitsauftrag geben. Ein Land wie Baden-Württemberg brauchte mindestens 70 subject specialists - für Fächer wie Jura, Medizin, Theologie und Geschichte je fünf oder vier, für Fächer wie Anglistik, Psychologie und Mathematik je drei oder zwei, je einen für Musikwissenschaft, Sinologie und andere kleine Fächer. Müssen diese für mehrere Bibliotheken zuständigen Referenten ständig reisen? Sie sollten in der Tat an den verschiedenen Standorten - je nach der Größe ihrer Klientel - an festgesetzten Tagen präsent und verfügbar sein, könnten im übrigen aber viel Arbeit an ihrem vernetzten häuslichen Arbeitsplatz erledigen. Die an sie gestellten Anforderungen sollten durch detaillierte Arbeitsprogramme, die auf die besonderen Bedürfnisse der verschiedenen Standorte zugeschnitten sind, spezifiziert und ihre Leistungen anhand regelmäßiger Rechenschaftsberichte sowie fachbezogener Erwerbungs- und Benutzungsstatistiken überprüft werden. Im übrigen erlaubte es das Echo ihrer Klientel zweifellos, die Qualität ihrer Arbeit einzuschätzen.

7. These: Mit ihrer hohen Spezialisierung und fachlichen Kompetenz und dank der Nutzung eines Arbeitsvorgangs für mehrere Standorte könnten die regionalen Fachreferenten das gesamte Spektrum bibliothekarischer und informatorischer Leistungen für ihr Fach anbieten, also außer dem Bestandsaufbau und der Sacherschließung für zentrale und dezentrale Bibliotheksbereiche auch die konventionelle und elektronische Informationsvermittlung, die informatorische Begleitung von Forschung und Lehre sowie die Einführung von Wissenschaftlern in eine fachspezifische elektronische Arbeitsumgebung. Damit könnten sie auch Aufgabenfelder, die derzeit, wenn überhaupt, zumeist von nicht-bibliothekarischem Personal der Fachbereiche bestellt werden, besetzen und einen spürbaren Beitrag zum Informationsgeschehen in den Fachbereichen leisten.

8. These: Um die Akzeptanz des regionalen Fachreferenten bei seiner professoralen Klientel zu erhöhen, sollte diese an seiner Auswahl und der Beschreibung seiner Aufgaben mitwirken. Der Referent soll ja nicht als Bibliotheksbeamter, sondern als Bibliotheks- und Informationsagent seines Faches wahrgenommen werden. Sein regionaler Auftrag, seine Erfahrung an verschiedenen Bibliotheken und Fachbereichen und nicht zuletzt seine fachinformatorische Kompetenz können ihm gegenüber den einzelnen Fachbereichen und Bibliotheksleitungen jene Unabhängigkeit verschaffen, die er im Interesse seines Faches und der eigenen Berufszufriedenheit benötigt.

9. These: Die regionalen Fachreferenten werden für ihre Klientel Forderungen an die lokale Bibliotheksverwaltung stellen, z. B. solche nach zügiger Beschaffung und Bereitstellung, adäquaten Benutzungsbedingungen, ausreichender Geräteausstattung usw. Der Ausgleich zwischen solchen Wünschen und der globalen Steuerung innerhalb des universitären Bibliothekssystems könnte, wie ich als betriebswirtschaftlicher Laie der 1984 in Bielefeld vorgetragenen Konzeption von Volker Roth-Plettenberg entnehme, im Rahmen einer Matrixorganisation erfolgen. In eine Teamstruktur allerdings wird der regionale Referent schon aus zeitlichen und räumlichen Gründen nicht eingebettet werden können. Fachliche Teams können dennoch gebildet werden - mit Diplom-Kräften, von denen bekanntlich nicht wenige fachwissenschaftliche Interessen und Kenntnisse haben.

10. These: Der Einstieg des künftigen Fachreferenten in den bibliothekarisch-informatorischen Beruf darf ihn seiner Fachwissenschaft nicht entfremden. Er sollte sich das an seinem Arbeitsplatz benötigte bibliothekarische Know-how und den Einblick in größere Zusammenhänge und alternative Verfahren durch Praktika, Fernstudien, selbständige Lektüre und den Besuch von Blockkursen sukzessive aneignen. Der Berufsanfänger sollte zunächst eine halbe Stelle erhalten und in der übrigen Zeit die von seinem Arbeitgeber gewünschten bibliothekarischen Qualifikationsausweise erwerben. Nach zwei Jahren sollte ihm eine Dreiviertelstelle und nach weiteren zwei Jahren eine ganze Stelle zustehen, sofern der Umfang seiner Aufgaben und Leistungen dies rechtfertigt. Sein Status wäre der eines angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiters.

11. These: Nicht nur die Fachreferenten, auch andere wissenschaftliche Bibliothekare sollten als Spezialisten an mehreren Orten wirken können, z. B. als Betreuer von Spezialbeständen, als Experten für informationstechnische Systeme, für Controlling-Verfahren und andere Innovationen, die sonst an mehreren Bibliotheken mit mehrfachem Aufwand studiert und implementiert werden müssen. Im Bereich eines Unterhaltsträgers sollte eine solche Mobilität wohl möglich sein. Für den Arbeitgeber bedeutete sie eine bessere Ausnutzung vorhandener Qualifikationen und Erfahrungen, für den Beschäftigten aber die Gelegenheit zur Konzentration auf das, was er besser kann als andere.

12. These: Meine Forderung, die bibliothekarischen Karrieren zu spezialisieren und zu verstetigen, spart auch den Tätigkeitsbereich Organisation und Leitung des Bibliotheksbetriebes nicht aus. Warum sollten gerade diese verantwortungsvollsten Funktionen weitgehend auf der Basis des gesunden Menschenverstandes, autodidaktisch angeeigneter, zumeist bruchstückhafter Kenntnisse und einer durch Fehler teuer erkauften Klugheit wahrgenommen werden? (So jedenfalls hat es Hartwig Lohse einst gezeichnet; s. ZfBB 1979, 253-265.) Ist von künftigen Bibliotheksmanagern nicht eine gründliche bibliothekarische Ausbildung - und das ist derzeit nicht das Referendariat, das in seinem theoretischen Jahr mehr bibliothekarische Allgemeinbildung als Handlungswissen vermittelt, sondern das Fachhochschulstudium der Diplom-Bibliothekare - zu fordern? Sollten sie nicht auch ein Studium der Verwaltungswissenschaft, Rechtswissenschaft oder Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Personalwesen absolviert haben? Es heißt, daß der Leiter einer wissenschaftlichen Universalbibliothek einen methodischen Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit im allgemeinen haben müsse, um den Transfer zwischen den Fachbereichen und der Bibliothek leisten zu können, daß es also nicht darauf ankomme, welches Fach er studiert hat. Ein Dutzend Fakultäten mit 100 verschiedenen Disziplinen, die sich in Arbeitsweise und Informationsbedarf unterscheiden, kann man aber auf Grund einer allgemeinwissenschaftlichen Kompetenz, wenn es eine solche denn gibt, in bibliothekarischer Hinsicht gewiß nicht differenziert einschätzen. Ist es außerdem nicht gerade die Aufgabe der Fachreferenten, die Verbindung zwischen Bibliothek und Fachbereichen herzustellen?

Ein speziell auf die Leitung einer Behörde oder eines Betriebes vorbereitendes Fachstudium ersparte den Direktoren übrigens ein Problem, das auch die offiziöse Studie "Arbeitsplatzbewertung für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst" von Vollers und Sauppe offenbar nicht gerichtsfest lösen konnte: Nach den Kriterien des BAT kann die Leitung einer Bibliothek, solange sie nicht ein bestimmtes, sondern nur irgendein wissenschaftliches Hochschulstudium voraussetzt, nur mittels einer strittigen Konstruktion überhaupt dem Bereich des wissenschaftlichen Dienstes, also den Vergütungsgruppen IIa und höher, zugeordnet werden. Hans Limburg hat jüngst darauf hingewiesen (ProLibris 1998, H.1), welch unangenehme Folgen der Verlust des Beamtenstatus gerade für Bibliotheksleiter zeitigen könnte.

Und nun meine 13. und letzte These: Zwischen einer souveränen, nicht kleinlichen Bibliotheksleitung und wissenschaftlich orientierten regionalen Fachreferenten eröffnet sich für den gehobenen Bibliotheksdienst ein Freiraum, der seiner Qualifikation zu selbständiger und verantwortungsvoller Arbeit entspricht. Selbst wer mit Bernd Hagenau der verwaltungsinternen Kurzausbildung des gehobenen Bibliotheksdienstes nachtrauert, sollte heute das Faktum einer langen und inhaltsreichen Fachhochschulausbildung akzeptieren und daraus für den Personaleinsatz die nötigen Schlüsse ziehen. Die andauernde Konkurrenz der beiden Laufbahngruppen um Arbeitsfelder und Kompetenzen ist für den Arbeitgeber kostspielig und für die Betroffenen eine Zumutung.

Vielleicht haben Sie nun den Eindruck gewonnen, ich wollte mit meinem Entwurf des hochspezialisierten regionalen Fachreferenten die von Hilgemann, Jochum und Oehling erhobene Forderung nach einer Intensivierung der Fachreferatsarbeit nur ad absurdum führen. Auch mir, so meinen Sie, müsse doch klar sein, wie wenig ein in seiner Fachwissenschaft verwurzelter subject specialist in die bibliothekarische und universitäre Landschaft paßt! Die Ergänzung der arbeitsteiligen Linienorganisation durch kundenorientierte Teamstrukturen verlange doch gerade nach dem bibliothekarischen Alleskönner, der seine Klientel rundum versorgen und z. B. eine Fachbereichsbibliothek selbständig leiten kann! Die Wissenschaft aber solle der Bibliothekar doch Kompetenteren überlassen! Ich antworte darauf: Der Leiter einer Fachbereichsbibliothek und Mitarbeiter eines fachorientierten Teams, wie viele ihn sich heute wünschen, bleibt, wie der herkömmliche Fachreferent, abhängig von der Weisungsbefugnis der zentralen Bibliotheksleitung mit ihren Linienabteilungen und Stabsstellen und angewiesen auf die Umsetzungskompetenz des gehobenen Bibliotheksdienstes. Als Transmissionsriemen im Räderwerk von Bibliothek und Universität und Gesprächspartner von jedermann verzettelt er sich in der Vielfalt seiner wenig produktiven Aktivitäten. Wegen seines breiten Fächerspektrums und der Einbindung in die bibliothekarische Hierarchie kann er sich nicht zum fachlich kompetenten Bibliotheksagenten der Professoren entwickeln. Die Hoffnung, er werde sich als fachliche Instanz und Impulsgeber des bibliothekarischen Geschehens in der Fakultät und auch in der zentralen Universitätsbibliothek durchsetzen, ist weniger begründet als die Befürchtung, man werde ihn als Verwaltungsbibliothekar mit einer leichtgewichtigen fachwissenschaftlichen Zusatzqualifikation in Funktionen drängen, die bisher dem gehobenen Bibliotheksdienst offenstanden.

Die Arbeit des Bestandsaufbaus wollen die Münsteraner Autoren den Professoren überlassen, deren Kompetenz der Literaturauswahl durch die neueren Hochschulgesetze ja ausdrücklich bestätigt wird. Dann wäre es also ein historischer Irrtum gewesen, daß vor gut 100 Jahren der Bestandsaufbau von den Professoren auf die bibliothekarische Profession übertragen, also in die Hände uneigennütziger Kenner gelegt wurde, die System und Kontinuität in das zuvor von Zufällen und Launen hin und her geworfene Bibliothekswesen brachten? Müssen wir nicht davon ausgehen, daß Professoren zumeist weder willens noch imstande sind, das zeitraubende, entsagungsvolle Geschäft einer umsichtigen und weitblickenden Literaturauswahl zu betreiben? Der Platz, den der Fachreferent hier räumen soll, wird von eigensüchtigen Spezialisten und ihren ahnungslosen Hilfskräften besetzt werden oder aber veröden - heute vielleicht eine willkommene Einsparmöglichkeit, morgen aber die Frustration der Nachfolger.

Es geht überdies heute, anders als vor 100 Jahren, nicht allein um Bestandsaufbau und zweckmäßige bibliothekarische Verwaltungsformen. Die immer komplexer werdende Welt der wissenschaftlichen Information und Kommunikation ruft nach Informationsspezialisten, die vielen Studierenden und Lehrenden im Einzelfall helfen und einigen von ihnen den Zugang zur information literacy erleichtern. Vielleicht können solche Fachinformatoren sogar eine Kultur der Information und Kommunikation aufbauen, die dem Klima und der Effizienz von Lehre und Forschung in ihren Fachbereichen zugute kommt.

* Beitrag zur Podiumsdiskussion auf der Jahrestagung des VDB-Landesverbandes Baden-Württemberg in Rottenburg am 24. 4. 1998


Stand: 09.06.98
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