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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 11, 97

Zeitschriften aus alternativen Bewegungen


Ein Verfilmungsprojekt des Archivs für Alternatives Schrifttum und der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf

Petra Heine, Jürgen Bacia

Alternative Publikationen

Seit den fünfziger Jahren gehören Studenten-, Frauen-, Friedens-, Ökologie-, Bürger- und andere politische Bewegungen zum Erscheinungsbild der Bundesrepublik. Die in diesen Bewegungen produzierten Publikationen spiegeln Meinungsbildungsprozesse, Sichtweisen und Aktionen eines unbequemen Teils der Bevölkerung dieses Landes wider.

Lohnt dies Material den Kosten- und Arbeitsaufwand der Verfilmung und damit Haltbarmachung auf lange Zeit?

Nein, werden diejenigen sagen, denen das eine Exemplar dieser Publikationen im Archiv des Verfassungsschutzes völlig ausreicht. Nein, werden auch diejenigen sagen, die - den Blick in die Zukunft gerichtet - nicht in elektronischer Form vorliegende Publikationen sowieso langweilig finden.

Andere sind anderer Meinung: Die Neuen Sozialen Bewegungen prägen das Bild der Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren mit. In ihren Publikationen werden Probleme und Defizite der gesellschaftlichen Entwicklung dokumentiert. Eine Geschichtsschreibung, eine Soziologie, eine Politikwissenschaft, die diese Materialien nicht auch auswertet, wird immer nur einen Teil der gesellschaftlichen Realität erfassen können. Namhafte Archivare und Historiker weisen inzwischen darauf hin, daß staatliche Akten zunehmend "inhaltsleer", "belanglos" und "kümmerlich" werden. Hintergründe von Entscheidungen und die wahren Motive der Akteure gehen aus ihnen nicht mehr hervor, und wenn man sich allein auf sie verläßt, entsteht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Peter Dohms, Staatsarchivdirektor beim nordrhein-westfälischen Hauptstaatsarchiv, wies kürzlich in einem Vortrag darauf hin, daß "der Aussagewert behördlicher Unterlagen geradezu umgekehrt reziprok zu ihrer Masse" sei.

Aufgrund der unkonventionellen Art der Verbreitung der Publikationen aus den Neuen Sozialen Bewegungen einerseits und der konventionellen Arbeitsweise staatlicher Institutionen andererseits gelangen die Zeitschriften, Flugblätter und Broschüren aus dieser Szene nur selten und unvollständig in Archive und Bibliotheken.

Das Archiv für alternatives Schrifttum (afas)

Das Archiv für Alternatives Schrifttum in Nordrhein-Westfalen, ein gemeinnütziger Verein in Duisburg-Rheinhausen, bemüht sich seit 1985 um die Sammlung, Bewahrung und Erschließung vor allem der in Nordrhein-Westfalen erschienenen Veröffentlichungen aus den alternativen Milieus. Über NRW hinaus werden Publikationen dann archiviert, wenn mit ihrer Kenntnis regionale oder lokale Aktivitäten und Ereignisse besser verständlich werden, wenn sie für die Theoriebildung oder das politische Selbstverständnis von sozialen Bewegungen oder politische Gruppen von Bedeutung sind, oder wenn sie Vorreiter-Funktion haben.

Seit Anfang der 90er Jahre wird das afas dabei vom Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützt.

Inzwischen sind in den Archivräumen neben Flugblättern, Broschüren und Dokumentationen ca 3.000 Zeitschriftentitel öffentlich zugänglich. Ein 1990 erschienener gedruckter Katalog weist bereits 1.200 dieser Titel und die vorhandenen afas-Bestände nach. Orts- und Sachgruppenregister erlauben den Zugriff über Erscheinungsorte oder die sachliche Einordnung. Bisher sind allerdings nur ca. 2.000 der vorhandenen Zeitungs- und Zeitschriften-Titel in einer Katalogdatenbank formal und inhaltlich nach Sachgruppen erschlossen werden. Die restlichen 1.000 Titel konnten aus Zeitgründen nur provisorisch formal erfaßt werden.

Das Verfilmungsprojekt

Gerade in den Zeitschriften der Neuen Sozialen Bewegungen lassen sich Diskussionsprozesse und Entwicklungen einzelner Gruppen oder Milieus über einen längeren Zeitraum sehr gut nachvollziehen. Anders als in der Dokumentationsstelle für unkonventionelle Literatur der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, die - von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert - Flugblätter erschließt und verfilmt, wurde im afas der Schwerpunkt auf Zeitschriften gelegt.

Diese Zeitschriften sind meist auf schlechtem Papier gedruckt und vom Papierzerfall bedroht. Einige Titel aus den siebziger Jahren, die auf Zeitungspapier verbreitet wurden, sind schon heute kaum noch zu kopieren. Außerdem sind viele Zeitschriften aus den Neuen Sozialen Bewegungen in den üblichen von der Forschung herangezogenen Archiven und Bibliotheken kaum oder unvollständig vorhanden.

Von zwei Seiten wurde deshalb bereits Ende 1992 / Anfang 1993 der Vorschlag an das afas herangetragen, die hier vorhandenen Zeitschriftenbestände durch Verfilmung zu konservieren. Zum einen kam der Vorschlag von der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, zum anderen bot die University of California at Berkely eine Zusammenarbeit bei der Verfilmung an. 1994 wurden die ersten Zeitschriften mit finanzieller Unterstützung der University of California auf Mikrofiche verfilmt. Die Masterfiches dieser Verfilmung blieben im afas, Kopien gingen in die Germanic Collection der Bibliothek in Berkely.

1994 wurde auch das Verfilmungsprojekt mit der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf begonnen. Das Projekt, das inzwischen seit drei Jahren läuft, wird vom Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.

Ziel des Projekts ist es einerseits, historisch wertvolle Quellen vor dem Verfall zu bewahren. Andererseits sind die verfilmten Zeitungen und Zeitschriften nicht nur im afas, sondern auch in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf (ULBD) zugänglich: In einer Kooperationsvereinbarung zwischen afas und ULBD wurde festgehalten, daß die Masterfiches, die bei der Verfilmung entstehen, aus Sicherheitsgründen in der Bibliothek in Düsseldorf aufbewahrt werden, und daß dort auch eine Kopie der verfilmten Zeitschriften für die Benutzung zur Verfügung steht. Langfristig soll so ein Teil der afas-Sammlung in Mikrofiche-Form in Düsseldorf gelesen werden können.

Bei dem Verfilmungsprojekt wurde von Anfang an Wert darauf gelegt, nur vollständige Bestände zu verfilmen. Um dies sicherzustellen, sind oft zunächst zeitaufwendige bibliographische Recherchen nötig: Titeländerungen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitschriftentiteln müssen ermittelt werden, falsche Zählungen und Datierungen müssen richtiggestellt werden, wenn die Vollständigkeit garantiert werden soll. Da viele verfilmungswürdige Zeitschriften auch im afas nicht vollständig vorhanden sind, müssen fehlende Hefte bei Privatpersonen oder - in seltenen Fällen ist das möglich - bei anderen Institutionen ausgeliehen werden.

Ein Beispiel: Das "Herforder Stadtblatt" erschien 1986/87 als regionaler Ableger des "Bielefelder Stadtblattes". Im afas-Bestand fehlten einige Exemplare, die ZDB wies keinen Bestand nach, die Redaktion gab es nicht mehr, das Herforder Stadtarchiv hatte nur einen Rumpfbestand, im Redaktionsarchiv des "Bielefelder Stadtblattes" fand sich auch nur ein lückenhafter Bestand. Nach längeren Bemühungen tauchten aus Privatbesitz die noch fehlenden Exemplare auf - und mit einigen Leihgaben des Herforder Stadtarchivs konnten Titelaufnahme und Verfilmung gemacht werden. Es existiert nun eine vollständige, mit allen bibliographischen Angaben versehene Mikrofiche-Version, wohingegen es nach wie vor keinen Ort gibt, an dem eine vollständige Papierversion vorhanden ist.

Bisher konnten ca. fünfzig Titel mit insgesamt ca. 70.000 Seiten verfilmt werden.

Verfilmt wurden viele alternative Stadt- und Stattzeitungen, etwa das "Bielefelder Stadtblatt", das "Herforder Stadtblatt", die "Freie Presse Mülheim", die "Neue Essener Presse", das "Bochumer Volksblatt", der "Emscherbote", das "Solinger Volksblatt", der "Lippische Landbote", das "Kölner Volksblatt" oder der "Knipperdolling" aus Münster. Das Kölner Volksblatt stellt insofern eine Ausnahme dar, als mit ihm eine Zeitung verfilmt wurde, die noch erscheint. Aus zwei Gründen schien die Verfilmung geboten: zum einen ist das Papier der frühen Ausgaben (70er Jahre) von so schlechter Qualität, daß dringend eine Sicherungsverfilmung geboten war, zum andern hatten wir die Möglichkeit, auf das gut geführte Redaktionsarchiv zurückzugreifen. Dadurch konnte z.B. definitiv geklärt werden, daß einige verschollen geglaubte Ausgaben nicht erschienen sind. Verfilmt wurden aber auch die Bonner Frauenzeitung "Lila Lotta" und einige Zeitschriften politischer Gruppen und Parteien der Neuen Linken aus den siebziger und achtziger Jahren.

Im afas warten noch viele Zeitschriftenbestände auf ihre Vervollständigung und Verfilmung. Ergänzend zur Zeitschriften-Verfilmung sollten u.U. auch andere Materialien verfilmt werden. So gibt es z.B. im afas eine ganze Reihe von Archivalien politischer Gruppen oder Organisationen, die den internen Diskussionsprozeß dieser Gruppen wiedergeben - und gerade für den internen Gebrauch bestimmte Materialien sind zumeist schlecht gedruckt bzw. vervielfältigt (Spirit-Carbon- bzw. Wachs-Matrize). Alle Beteiligten hoffen, daß das Projekt auch in den nächsten Jahren fortgesetzt werden kann.


Stand: 12.11.97
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