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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 2, 97

Öffentliche Bibliotheken in Finnland

Ein internationales Seminar mit Studienfahrt in Helsinki

Susanne Thier

Auf Einladung des Finnischen Bibliotheksverbandes und seines "Secretary General", der kompetenten und engagierten Tuula Haavisto, kamen vom 15.-18. September 1996 Vertreter aus Öffentlichen Bibliotheken, Bibliothekszentralen, Kultusministerien und Bibliotheksverbänden vorwiegend aus osteuropäischen Ländern, aber auch aus Belgien, Deutschland und Spanien zu einem Seminar zusammen, das finnische und einzelne europäische Aktivitäten und Initiativen zum Thema "Public Libraries for Effective and Excellent Service" vorstellte. Dank der Vermittlung und tatkräftigen Unterstützung durch die Bibliothekarische Auslandsstelle konnten Christa Gmelch (Stadtbibliothek Reutlingen), Angelika Holderried (ekz) und Susanne Thier (DBI) an diesem Seminar mit einer kleinen Studienfahrt teilnehmen.

Völlig zu Recht, so verfestigte sich schon nach diesen wenigen Tagen der Eindruck der Teilnehmer, sind die Finnen sehr stolz auf ihre Öffentlichen Bibliotheken und zeigen sie auch gerne her, wie es in zahlreichen Randgesprächen und auf den strahlenden Gesichtern ablesbar war. Daß die von uns besuchten Bibliotheken nicht nur ganz besonders rühmliche Ausnahmen eines ansonsten mit den schwierigen Problemen eines ausgesprochenen Flächenlandes, eines mit sehr zahlreichen und weit verstreut liegenden Klein- und Kleinstgemeinden kämpfenden und vor sich hindämmernden Bibliothekswesens ist, belegen umfangreiche Statistiken, die das Finnische Bildungsministerium herausgegeben hat 1). Danach sind 49 % der Bevölkerung registrierte Benutzer Öffentlicher Bibliotheken, d.h. Entleiher, andere Bibliotheksbesucher sind hier noch gar nicht mitgerechnet, und im Durchschnitt gesehen entleiht ein jeder Finne über 20 ME im Jahr (in Deutschland sind es noch nicht einmal 4 ME!). Freilich differieren auch in Finnland die Zahlen zwischen den 11 Provinzen und den einzelnen Gemeinden, durchaus aber nicht extrem und keineswegs mit einem starken Stadt-Land-Gefälle.

Wie kann eine derartig hohe Akzeptanz und breite Nutzung der Bibliothek - unerreichter Wunschtraum eines jeden hierzulande rastlos agierenden Bibliothekars - zustande kommen? Die im Zeitalter des Fernsehkonsums selbstverständlich vollends unseriöse, in der Not sich aber aufdrängende Vermutung und Platitude, die lange Dunkelheit im Norden verführe halt zum Lesen, einmal unterdrückt, zeigt die Statistik noch etwas anderes: auf die gesamte Bevölkerung bezogen halten die finnischen Öffentlichen Bibliotheken etwa 8 Medieneinheiten pro Einwohner bereit (in Deutschland sind es 1,7 ME), Finnland gibt pro Einwohner im Vergleich zu Deutschland etwa das Vierfache für Öffentliche Bibliotheken aus. Ein ganz erheblicher Teil davon sind staatliche Mittel (1995 waren es knapp über 50 %), die andere Hälfte wird von den Kommunen aufgebracht. Gesetzlich festgeschrieben sind Grundaufgaben Öffentlicher Bibliotheken in Finnland ebenso wie die Gebührenfreiheit der Buchausleihe und staatliche Zuwendungen, die nach einem bestimmten Schlüssel an die Kommunen abgegeben werden (u.a. bemessen nach Bevölkerungszahl, Bevölkerungsdichte und Aufwendungen der Kommune für die Bibliothek) 2). Obwohl sie - etwa im Gegensatz zu Dänemark - gesetzlich nicht dazu verpflichtet sind, unterhalten alle 439 Städte und Gemeinden in Finnland eine Öffentliche Bibliothek bzw. ein Bibliothekssystem, z.T. auch mit Fahr-, Schul-, Krankenhaus- u.a. Bibliotheken. Führt man sich vor Augen, daß in ca. 50 % der Gemeinden weniger als 5.000 Einwohner leben, so ist dies ausgesprochen bemerkenswert, noch erstaunlicher: sogar Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern (dies sind gut 15 % aller Gemeinden) unterhalten gelegentlich mehrere Einrichtungen. Nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, daß in diesen kleinen Gemeinden 15-20.000 und mehr Medieneinheiten bereitstehen, auch in der kleinsten Gemeinde Finnlands (235 Seelen) werden 5.000 Medieneinheiten nicht unterschritten. In der Politik und bei der Bevölkerung genießt die Öffentliche Bibliothek in Finnland einen sehr hohen Stellenwert. Allein die Tatsache, daß 70-80 % der Bevölkerung Besucher der Öffentlichen Bibliohtheken sind, ist ein erheblicher Faktor in der Politik.

Eng verknüpft und Wurzel dieser außerordentlich erfolgreichen Bibliotheksarbeit ist, so wurde von mehreren Referenten (Tuula Haavisto, Tuula Laaksovirta) unterstrichen, das tief verankerte Bewußtsein in Politik und Bevölkerung, daß der freie Zugang zur Information ein Grundrecht der Bürger und Grundlage einer lebendigen Demokratie ist. Öffentliche Bibliotheken sind erkannt und genutzt als wichtige Serviceeinrichtungen, die alle Bevölkerungsschichten erreichen und ohne ideologische oder kommerzielle Interessen oder Einschränkungen Informationen bereitstellen und auffindbar machen und damit zur Chancengleichheit und selbstbestimmten individuellen Wissens- und Meinungsbildung beitragen. So erscheint es nur konsequent, daß das finnische Parlament bereits 1992 beschloß, daß nicht nur die Entleihung von Büchern, sondern auch die Nutzung und Entleihung anderer Medien in der Bibliothek kostenfrei sein müsse. Konsequent ist ferner, daß das Parlament selber die eigene Bibliothek für alle Bürger geöffnet und mit dem gesamten Servicespektrum nutzbar gemacht hat (die übrigens auch für uns ein ganz ausgezeichneter Tagungs- und Informationsort war) und darüberhinaus auch sämtliche Reden und Entscheidungen mittels der Parlamentsbibliothek innerhalb von 24 Stunden in Volltext im Internet verfügbar macht. Doch was nützt das, wenn diese hochaktuellen Informationen nur für die Bürger zugänglich sind, die in die Parlamentsbibliothek kommen oder aber über einen eigenen Internetanschluß verfügen und mit diesem auch umzugehen wissen, wenn nur ein Bruchteil der Öffentlichen Bibliotheken im Land einen Internet-Anschluß bereithält?

House of Knowledge

Wie hoch die Bedeutung der Öffentlichen Bibliotheken für eine demokratische Informationsversorgung in Finnland eingeschätzt wird, machen auch Strategie- und Programmpapiere der Regierung in Reaktion auf die beginnende Informationsgesellschaft deutlich: Öffentlichen Bibliotheken und Schulen wird hier eine Schlüsselrolle für die Wahrung der Informationsgleichheit zugesprochen 3). Und es blieb und bleibt dabei auch nicht nur bei der Theorie und Planung: bereits im Jahr 1995 wurde durch das finnische Bildungsministerium ein auf drei Jahre angelegtes Projekt "House of Knowledge" gestartet, das insbesondere Internet in Öffentlichen Bibliotheken fördert. Suchinstrumente für Öffentliche Bibliotheken werden evaluiert und entwickelt, Internet-Initiativen lokal und national koordiniert, aber auch Internet-Anschlüsse, Fortbildungsmaßnahmen und Telekommunikation finanziell unterstützt. Durch die Regierung wurde zudem das Programm "Towards the Finnish Information Society" aufgelegt, das die Öffentlichen Bibliotheken seit 1996 über drei Jahre hinweg jährlich mit ca. umgerechnet 3,3 Mio. DM unterstützt. Ende 1995 waren bereits 84 % aller Gemeinden mit EDV-gestützten Bibliothekssystemen ausgestattet, in knapp 40 % aller Gemeinden gab es Internet. Schätzungen gehen davon aus, daß bis Ende 1996 etwa 60 % aller Öffentlichen Bibliotheken über einen Internet-Anschluß verfügen werden. Erklärtes Ziel der Regierung ist, daß bis zum Jahr 2000 alle finnischen Schulen und Öffentlichen Bibliotheken an die Informationsnetze angeschlossen sind.

The Cable Book Library und The Knot at the Cable

Pionier auf dem Gebiet Internet für Benutzer in Öffentlichen Bibliotheken ist - nicht nur in Finnland, sondern, wie an dieser Stelle nur referiert werden kann, auch weltweit - eine Zweigbibliothek der Stadtbibliothek in Helsinki: The Cable Book Library, die mit dem Internet-Angebot für ihre Benutzer 1994 der St. Joseph County Public Library in Indiana, USA um zwei Wochen voraus war. Bereits 1994 bot sie gleich vier PCs für (kostenlose!) Internet-Recherchen an, noch heute schieres Reich des Phantastischen für viele weit größere Bibliotheken in Deutschland. Aus der wohlgeordneten bibliothekarischen Reihe aber fällt sie auch durch ihr Gründungskonzept: Im Febraur 1994 als sozusagen 35. Rad am Wagen der Stadtbibliothek Helsinki in einem alten Fabrikgebäude eröffnet, verfügte sie weder über eigenes Personal, noch über einen Erwerbungsetat oder gar Bibliotheksmöbel. Einige Bibliothekare aus anderen Zweigbibliotheken und ein Zivildienstleistender bauten die Bibliothek mit einem kleinen Schenkungsbestand aus anderen Zweigstellen, aus privat gespendeten oder auf Flohmärkten erstandenen Möbeln und gesponserten Geräten auf als eine Trendbibliothek, die zugunsten der Themas und Mediums Internet, Neue Medien, Kultur, Kunst und Comics auf einen allgemeinen Grundbestand an Büchern vollkommen verzichtet, ebenso wie auf ein professionelles Design, es sei denn des Chaotischen: auch nach ihrem Umzug aus der alten Fabrik in den "Glaspalast" stehen blitzende Stahlmöbel und plüschig-abgewetzte 50er-70er Jahre-Sofas (un)verblümt dicht beieinander, im Glaspalast allerdings nicht mehr exakt rekonstruierbar ist das damalige Ergebnis der zugehörigen Idee, "just to splash some paint on the walls".

Heute arbeitet The Cable Book mit zahlreichen Einrichtungen, Vereinen, Firmen und Verbänden zusammen, z.B. auch im Projekt "Knot at the Cable", das sich zum Ziel gesetzt hat, nicht nur in anderen finnischen Öffentlichen Bibliotheken die Verbreitung von Internet zu befördern, sondern auch in der Gesellschaft und in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen und Initiativen eine engere Kooperation und Vernetzung, die Herstellung eigener elektronischer Publikationen anzuregen. Inzwischen wurde etwa durch das Finnische Literatur Forum finnische Belletristik in englischer Sprache vorgestellt, die Finnische Comics Gesellschaft steuerte ein Verzeichnis finnischer Comiczeichner bei.

Die Frage des philosophischen Seminarvortrags: "Kreativität und Effizienz - unvereinbare Gegensätze?" (Paula Tuomikoski) beantwortete sich für die Verfasserin dieser Zeilen in der Anschauung der Cable Book Library zugegebenermaßen schneller und auch eindringlicher als dies der darauffolgende und zweifellos scharfsinnige Diskurs über Chaos und Ordnung vermochte.

Espoo, Salo, Ekenäs-Tammisaari

Andere Beispiele bibliothekarischer Ordnung, der Kreativität und Effizienz inhärent ist, ja im günstigen Fall zu "effektivem und exzellentem Service" führt, lenkten uns in den Ortsteil Tapiola der Stadt Espoo, ca. 20 km westlich der Stadt Helsinki gelegen. Als größte Zweigstelle der Espoo Stadtbibliothek verfügt diese Bibliothek über knapp 108.000 ME, die gut 5,5 Mal pro Jahr umgesetzt werden. Fast schon von selbst versteht sich das Angebot von 2 Internet-Arbeitsplätzen für die Benutzer, ebenso zwei separate PCs für Kinder, die mit der - teils auch englischsprachigen - Spielesoftware überaus rege genutzt werden. Doch man verläßt sich nicht nur auf die Attraktivität der neuen Medien: ein eigenes Puppentheater, für Werbemaßnahmen auch auf Video gebannt, und eigens kreierte Bibliotheksspiele locken zahlreiche Kinder in die Bibliothek. Für ASB kürzel- und signaturgeschädigte Bibliotheksbesucher besitzen sehr große, über und neben den Regalen im weitläufigen und lichtdurchfluteten Raum aufgehängte Piktogramme erheblichen Erholungswert, Paragraphen und Verbandskästen leiten den ratsuchenden Bürger rasch zum Ziel.

Noch weitere etwa 100 km westlich von Helsinki erzielt die Stadtbibliothek in Salo auch für finnische Verhältnisse Rekorde in der Ausleihfreudigkeit der Einwohner. Für 23.000 Einwohner stehen 211.000 Medien bereit, die im Jahr 1995 870.000 Entleihungen erfuhren, durchschnittlich nimmt jeder Bürger Salos im Jahr knapp 40 Medien mit nach Hause. Nicht zurückzuführen ist dieses Phänomen auf ein überproportionales Angebot an Unterhaltungsliteratur und -videos, im Gegenteil, der Erwerbungsanteil für Sachliteratur liegt bei ca. 80 %, mit steigender Tendenz. Großgeschrieben wird Kundenorientierung in der Erwerbung, aber auch in Auskunft und Information: trotz der Weitläufigkeit des auch hier durch viel Tageslicht und skandinavische Möblierung sehr hellen, aber im Vergleich zu Tapiola noch deutlich größeren, eingeschossigen Bibliotheksraumes sind die Informationstische so ausgerichtet, daß die Bibliothekare ständig in Sichtkontakt bleiben und den Anforderungen entsprechend rasch einspringen und Besucher so schnell und gut wie möglich bedienen können. Informationsservice und Kundenorientierung aber heißt hier auch Zusammenarbeit und Vernetzung mit allen anderen städtischen Einrichtungen, in ganz besonderer Weise mit den Schulen, die nicht nur auf die Katalogdaten und z.B. auch das CD-ROM-Netz der Bibliothek elektronisch zugreifen, sondern auch bei Erwerbungsentscheidungen mitreden können.

Südöstlich von Salo, wieder an der Küste angelangt, erwarteten uns in der Bibliothek von Ekenäs-Tammisaari wieder eher traditionelle bibliothekarische Ordnungen: die Regale in strikter Parallelität und ohne etwa Lesenischen zu verursachen aufgestellt, dicht gefüllt mit drangvoll aneinandergereihten und oft schon stark verblaßten Buchrücken. Und doch fiel auch hier wieder etwas aus dem Rahmen, die Bibliotheksdamen selbst nämlich, die geradewegs einigen Ahnengemälden des 15. und 16. Jahrhunderts entsprungen schienen. Anläßlich der 450-Jahrfeier der Stadt waren sie in schwere, prächtig schimmernde Samt- und Brokatstoffe gekleidet, die meterbreit ausgesteift, spitzenverziert, perlengesäumt und gefältelt einen bleibenden Eindruck hinterließen, auch wenn man für diese Art von Historizismen nicht allzuviel übrig hat. Auch hinter dieser Kulisse braut sich gegenwärtig ein Datennetz zusammen, das aus drei Schichten aufgebaut ist: ein erstes Netzwerk umfaßt die acht Bibliotheken der großflächigen 15.000 Einwohner-Stadt, ein zweites weitere sechs Stadtbibliotheken, die mit dem gleichen System arbeiten und gemeinsam eine online zugängliche Datenbank aufgebaut haben. Als dritte Komponente wird gegenwärtig daran gearbeitet, auch die Bestände und Informationsmaterialien für das regionale polytechnische Lehrinstitut in diese Datenbank LUKAS einzubringen, die in Kürze - doch das ist nach alledem wohl nicht mehr überraschend - auch über Internet zugänglich sein wird.

Daß die Öffentlichen Bibliotheken auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der finnischen Kommunalpolitik spielen werden, belegen sieben "Key Points", die der Finnische Kommunalverband in Bezug auf die Öffentlichen Bibliotheken und Informationsdienste formuliert hat. Das nachfolgende Papier wurde den Teilnehmern des internationalen Seminars von der "Association of Finnish Local Authorities" überreicht. (S. T.)

Future of Public Library and Information Services in Finnish Municipalities

Key Points:

  1. Significance of public libraries is growing and widening in the information society and the citizen society.
  2. Co-operation and networking of educational establishments and public libraries is important.
  3. Public library services will continue to be provided free of charge - no fees charged for the loan and use of library collections
  4. Increasing co-operation between local authorities/regional co-operation and creation of inter-municipal libraries is vital.
  5. More attention must be paid to the quality of services; e.g. regular and diverse acquistions and professional qualifications of the library personnel etc.
  6. The coming new legislation for public libraries does not give strict norms on what and how services are maintained.
  7. Active citizen participation in the making of local library policy is needed to ensure the quality, availability and accessibility of library and information services.

1) Kirjastot 1995. Biblioteken 1995. Libraries 1995. Yleisten ja tieteellisten kirjastojen toiminta. Allmänna och vetenskapliga bibliotek i Finland. Public and Research Libraries in Finland. Helsinki 1996.

2) No 235. Library Act. Issued in Helsinki on March 21, 1986. Amendments 134/ 9.2.1990, 725/33.8.1992. No 1311. Library Statute. Issued in Helsinki on December 11, 1992. No 705. Act regarding the financing of education and culture. Issued in Helsinki on August 3, 1992. In: Scandinavian Public Library Quarterly (1994)1, S. 11-14.

3) Das Bildungsministerium etwa gab 1995 heraus: "Education, Training and Research in the Information Society. A national Strategie"; dieses Dokument ist auch im Internet verfügbar unter der URL: http://www.mined.fi/infostrategy.html.


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