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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 1, 97

Kommission des DBI für Erwerbung und Bestandsentwicklung/Expertengruppe Bestandsaufbau II:

Medizinische Zeitschriften in der Fernleihe

Eine Untersuchung der UB Freiburg

Hannsjörg Kowark

Die Universitätsbibliothek Freiburg in Breisgau führt seit Jahren regelmäßige Bestandsevaluierungen durch, um Erwerbungspolitik und Bestandsaufbau einer laufenden Erfolgskontrolle zu unterziehen. Die Bedeutung einer systematischen Analyse der passiven Fernleihe hat im Rahmen der Empfehlungen der Expertengruppe Bestandsaufbau bereits eine ausführliche Darstellung erfahren.1) Durch die Auswertung der in einem universitären Bibliothekssystem nicht vorhandenen Literatur wird die laufende Überwachung der lokalen Literaturversorgung erst möglich, um abgesicherte Aussagen über eine ausreichende Grundversorgung, Bestandslücken oder eine Unterversorgung einzelner Fachgebiete treffen zu können.

In Freiburg entfallen inzwischen nahezu 50 % aller passiven Fernleihbestellungen auf Zeitschriften. Allein 1995 wurden 23.200 Zeitschriftenbestellungen im auswärtigen Leihverkehr abgewickelt, die sich auf insgesamt 5.040 verschiedene Zeitschriftentitel verteilt haben. Von 1991 bis 1995 sind insgesamt 12.623 verschiedene Zeitschriftentitel in der Fernleihe bestellt worden. Interessant ist hier der Anteil der Medizin, der im Vergleich zu den anderen Fächern mit 3.412 unterschiedlichen Zeitschriftentiteln deutlich an der Spitze liegt (vgl. Abb. 1).

Auf diese Zeitschriftentitel entfielen zwischen 1991 und 1995 ca. 40 % aller Zeitschriftenbestellungen im auswärtigen Leihverkehr. Allein 135 medizinische Zeitschriftentitel wiesen 1995 mehr als 10 Fernleihbestellungen auf. Eine Zeitschrift wurde sogar über 100mal im Leihverkehr bestellt. Da bei den medizinischen Zeitschriften die größten Defizite festzustellen waren und für eine entsprechende Bestandsergänzung pro Jahr über DM 100.000,- zusätzlich zu veranschlagen gewesen wären, bot es sich an, die medizinischen Zeitschriftentitel einer differenzierten Analyse zu unterziehen.

Das seit Jahren zu beobachtende, ständige Ansteigen der medizinischen Zeitschriftenbestellungen hat in der Zentralbibliothek zu einer wachsenden Verunsicherung geführt, da man die medizinische Grundversorgung ernsthaft in Frage gestellt sah. Im Freiburger Bibliothekssystem werden derzeit knapp 1.000 medizinische Zeitschriften vorgehalten, die sich auf die Zentralbibliothek (120 Titel) und die verschiedenen Instituts- und Klinikbibliotheken (830 Titel) verteilen.

Angesichts dieser möglicherweise nicht ausreichenden Versorgung mit medizinischer Zeitschriftenliteratur haben wir 1994 und 1996 sämtliche medizinischen Zeitschriftenbestellungen einer gesonderten Auswertung unterzogen, um diese Untersuchungsergebnisse mit unserer automatisierten Fünfjahres-Fernleihstatistik sowie mit der 1993/94 von der Zentralbibliothek für Medizin durchgeführten Analyse zu vergleichen.2)

Zielsetzung war, Defizite bei der medizinischen Grundversorgung in Freiburg festzustellen und, falls notwendig, gezielte Bestandsergänzungen in Absprache mit den Klinikbibliotheken durchzuführen.

Über Verfahren und Ergebnisse dieser Untersuchung soll hier kurz berichtet werden.

Innerhalb eines Zeitraumes von jeweils sechs Wochen wurden 1994 sowie im Frühjahr 1996 die medizinischen Zeitschriftenbestellungen gesondert erfaßt und nach folgenden Kriterien ausgewertet:

Am schwierigsten war es, die Herkunft der Besteller zu ermitteln. Hierzu mußten im Erfassungszeitraum sämtliche Fernleihscheine vor dem Versand kopiert werden, um mit Hilfe von Vorlesungs- und Telefonverzeichnissen die Herkunft der Auftraggeber feststellen zu können. Leider ist uns dies nicht in allen Fällen gelungen, was jedoch das Untersuchungsergebnis nicht wesentlich beeinträchtigt hat.

Bei der im Frühjahr 1996 durchgeführten Erhebung wurden im Erfassungszeitraum 813 medizinische Zeitschriftenbestellungen abgegeben, die sich insgesamt auf 476 verschiedene Zeitschriften verteilen.

Wie häufig wurden diese Zeitschriftentitel bestellt?

Interessant ist, daß 317 Zeitschriftentitel (70 %) im Erfassungszeitraum nur einmal bzw. 100 Titel (21 %) zweimal bestellt worden sind.

Nur 5 (1 %) Zeitschriftentitel weisen im Erfassungszeitraum mehr als 10 Bestellungen auf. Als Spitzenreiter mit je 18 Bestellungen blieben schließlich zwei Zeitschriftentitel übrig (vgl. Abb. 2).

Bereits anhand dieser Auswertung wird die hohe Diversität der medizinischen Zeitschriftenbestellungen deutlich.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich mit der 1994 analog durchgeführten Untersuchung. Das Titelmaterial unterschied sich bis auf wenige Ausnahmen völlig von den 1996 im Erfassungszeitraum bestellten medizinischen Zeitschriften.

Welchen Benutzerkategorien sind die Besteller dieser extrem weit gestreuten Zeitschriftentitel zuzuordnen?

Knapp 50 % der Bestellungen entfallen auf Forschung und Lehre innerhalb der Universität, 25 % auf Studenten sowie 15 % auf Privatbenutzer und Industrie. 12 % der Besteller konnten leider nicht näher identifiziert werden (vgl. Abb. 3).

Untersucht man bei den am meisten gefragten Zeitschriftentiteln, welche Benutzerkategorie sich dahinter verbirgt, stößt man auf überraschende Ergebnisse. Die Zeitschrift "Alcohol" verzeichnete zum Beispiel im Erfassungszeitraum 18 Bestellungen von nur einem einzigen Benutzer. 17 Bestellungen bezogen sich auf den Jahrgang 1987, eine Bestellung auf den Jahrgang 1990. Ansonsten ist dieser Titel im Erfassungszeitraum 1991 bis 1995 nicht ein einziges Mal bestellt worden.

Die Zeitschrift "Risk Analysis" wurde 15mal von einem kommerziellen Forschungsinstitut, 2mal von Psychologen der Universität sowie 1mal von einem Privatbenutzer bestellt. Seit Jahren taucht diese Zeitschrift in den Fünfjahresstatistiken auf. Allein 1995 ist "Risk Analysis" 106mal in der Fernleihe bestellt worden. Trotz dieser hohen Bestellfrequenz ist die Zeitschrift nicht zum Grundbedarf der Universität zu rechnen, wenn man berücksichtigt, daß auf den Hauptbesteller als außeruniversitäres, kommerzielles Unternehmen 80 % der Bestellungen entfallen. Bei dieser Bestellhäufigkeit ist allenfalls zu überlegen, ob man die Zeitschrift vor Ort erwirbt, sofern dies finanziell möglich ist, um die Fernleihe zu entlasten. Dieses Beispiel macht aber auch deutlich, daß die preiswerten und komfortablen Fernleihmöglichkeiten der Universitätsbibliothek für einige Industrieunternehmen nach wie vor sehr attraktiv zu sein scheinen. Solange Fernleihbestellungen in Deutschland für nur 1,- DM abgewickelt werden, gibt es nicht wenige Industrieunternehmen, die diese billige Möglichkeit der Literaturbeschaffung voll ausnutzen. Hier wird künftig ohnehin zu überlegen sein, ob man sich dieses indirekte Sponsoring der Privatindustrie unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten noch leisten kann.

Die 1994 analog durchgeführte Erhebung wies ein ähnliches Untersuchungsergebnis auf (vgl. Abb. 4):

Die starke Nachfrage nach aktueller medizinischer Zeitschriftenliteratur ist in beiden Auswertungen besonders deutlich geworden. Für den zeitlichen Rahmen eventueller rückwärtiger Bestandsergänzungen können daraus eindeutige Entscheidungskriterien abgeleitet werden.

Vergleicht man das Ergebnis beider Untersuchungen mit unserer Fünfjahres-Fernleihstatistik, ergibt sich folgendes Bild:

Nur ca. 5 % der in beiden Erhebungen festgestellten Zeitschriftentitel sind auch in der Fernleihstatistik der letzten 5 Jahre vertreten.

Ferner weisen von 3.412 im auswärtigen Leihverkehr bestellten Titeln nur 29 medizinische Zeitschriften konstant mehr als 10 Bestellungen pro Jahr auf (vgl. Abb. 5). Bei 20 Bestellungen pro Jahr bleiben letztlich sogar nur 3 Zeitschriftentitel übrig.

Abb. 5: Medizinische Zeitschriften mit mehr als 10 Bestellungen pro Jahr im Auswärtigen Leihverkehr
Erfassungszeitraum 1991 - 1995

Titel, ErscheinungsortAnzahl
Hearing research. Amsterdam.270
Journal of rheumatology. Toronto.237
Clinical and experimental rheumatology. Pisa.169
Anticancer research. Athens.155
American Geriatrics Society: Journal. Baltimore, MD.152
American journal of kidney diseases. Philadelphia, PA.146
Canadian journal of psychiatry. Ottawa.133
Health education research. Oxford.128
Psychosomatics. Irvington, NJ.127
Advances in experimental medicine and biology. New York, NY.123
Psychiatric clinics of North America. Philadelphia, PA.122
Fundamental and applied toxicology. Orlando, FL.118
Environmental health perspectives. Research Triangle Park, NC.112
Bone marrow transplantation. Basingstoke.111
Royal Society of Medicine: Journal. London.109
Human reproduction. Oxford.103
Archives of physical medicine and rehabilitation. Philadelphia, PA.102
Journal of clinical psychiatry. Memphis, Tenn.102
Archives of environmental health. Washington, DC.101
Journal of occupational and environmental medicine. Baltimore, MD.94
Scandinavian journal of work, environment & health. Helsinki.88
American journal of hematology. New York, NY.86
Journal of endocrinological investigation. Milano.82
American journal of reproductive immunology and microbiology. New York, NY.77
International journal of neuroscience. New York, NY.76
Journal of clinical laboratory analysis. New York, NY.70
Canadian journal of physiology and pharmacology. Ottawa.69
Israel journal of medical sciences. Jerusalem.65
Cancer letters. Amsterdam.58

Zeitschriften der übrigen Fächer mit mehr als 10 Bestellungen pro Jahr im Auswärtigen Leihverkehr
Erfassungszeitraum 1991 - 1995

Titel, ErscheinungsortAnz.
Psychologie
Perceptual and motor skills. Missoula, Mont.143
British journal of clinical psychology. Cambridge124
Behaviour research and therapy. Oxford119
Biologie
Journal of steroid biochemistry and molecular biology. Oxford140
Biotechnology & bioengineering. New York, NY121
Physiology & behaviour. Oxford92
Pharmazie
Toxicology and applied pharmacology. San Diego, Calif.118
Wirtschaft; Arbeit
Planung und Analyse. Frankfurt, M. 57

Zieht man noch die Auftraggeber mit in Betracht, ergibt sich am Ende ein akuter Handlungsbedarf bei 11 medizinischen Zeitschriftentiteln, die zur Grundversorgung zu rechnen sind.

Ein Großteil der in der Fernleihe bestellten medizinischen Zeitschriftenaufsätze wird nur kurzfristig für die diversen Promotionsvorhaben benötigt. Einige der 29 in Freiburg am meisten bestellten Zeitschriftentitel sind nach Rücksprache mit den Klinikchefs nicht zur Anschaffung empfohlen worden. Anhand der konkreten Zeitschriftentitel wurde darauf verwiesen, daß das hohe Bestellaufkommen auf kurzfristige Forschungsprojekte zurückzuführen sei und dies längerfristige Abonnements nicht rechtfertige.

Daraus ergeben sich abschließend folgende Schlußfolgerungen, die letztlich auch durch die Analyse der Zentralbibliothek für Medizin von 1994 bestätigt werden:

1) Vgl. Hannsjörg Kowark, Methoden der Bestandsevaluierung: Auswertung der passiven Fernleihe. In: BIBLIOTHEKSDIENST, Jg. 29 (1995). S. 1955-1959.

2)Ulrich Korwitz und Uwe Rosemann: Der Fernleihverkehr der Zentralbibliothek der Medizin und der Technischen Informationsbibliothek Hannover. In: BIBLIOTHEKSDIENST, Jg. 28 (1994). S. 906-924.


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