Beratung Hierarchiestufe hoeher


Bericht über den Studienaufenthalt in Frankreich im Oktober 1999

Franz Obermeier
bibliothèque universitaire de Kiel

(ergänzend zum Bericht über die einzelnen besuchten Institutionen)

Ausbildung, Stellung und Aufgabenbereich des conservateurs

Die Ausbildung des höheren Diensts erfolgt an der dafür zuständigen Enssib in Lyon. Möglich ist auch die Wahl der Ausbildung an der Ecole des Chartes, die zwar eigentlich primär der Ausbildung für Archivare dient, aber eine Sparte Bibliothekswesen enthält. Die meisten der conservateurs, die sich auf die Sparte „Altes Buch“ verlegen, kommen von dieser Ecole des Chartes.

Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Bibliotheksausbildung zumindest von ihrem Anspruch her eine wissenschaftliche Laufbahn zu sein meint, auch wenn die Qualität des Unterrichts an den bestehenden bibliothekarischen Ausbildungsstätten dem nicht unbedingt gerecht wird, steht in Frankreich der praktische Aspekt im Vordergrund, neuere Technologien haben Einzug gehalten, aber hier dürfte sich für viele Mitarbeiter der konkrete Anwendungsaspekt auch erst bei einer konkreten Tätigkeit an einer Bibliothek ergeben.

Dieses andere Selbstverständnis äußert sich auch darin, dass zwar eine wissenschaftliche Ausbildung vorausgesetzt wird, aber nicht wie in Deutschland faktisch die Promotion bzw. die Thèse, die für die Bibliothekspraxis wohl von untergeordneter Bedeutung ist. Dies hat zudem einen konkreten nicht zu unterschätzenden Vorteil, die französischen conservateurs sind jünger, wenn sie mit ihrer Berufslaufbahn beginnen, durchschnittlich ca. 26 Jahre, ein Zeitpunkt, wo in Deutschland das Erststudium beendet ist. Durch die Promotion (die Ausnahme der nicht promovierten Naturwissenschaftler und der wenigen Geisteswissenschaftler ohne Promotion einmal beiseite gelassen) liegt nach der anschließenden Bibliotheksausbildung das Alter des faktischen Berufseinstiegs in Deutschland bei mindestens 30 Jahren.


Natürlich sind jüngere Leute auch eher bereit, eine Tätigkeit im Bereich der neuen Medien zu avisieren und damit dem Bibliothekswesen eine nicht nur historische Ausrichtung zu geben, wie dies in der Vergangenheit bedauerlicherweise überwiegend der Fall war.

Positiv ist vor allem zu vermerken, dass sich durch ein jährliches System der mutations, d.h. der zentral organisierten Möglichkeit, einen Stellenwechsel auf Wunsch eines Bibliothekars vorzunehmen, beim Personal eine große Flexibilität ergibt. Dies fördert nicht nur die Berufserfahrung französischer Bibliothekare, sondern ist auch im Vergleich zu dem Verhalten vieler deutscher Bibliothekare, insbesondere den in Bayern ausgebildeten und dann dort an Bibliotheken übernommenen Mitarbeiter als positiv anzusehen.

Verwaltungsaufgaben

Da die Anzahl der conservateurs generell auch an größeren Bibliotheken geringer ist, als an einer durchschnittlichen deutschen Universität, selbst angesichts der in Frankreich weitaus höheren Studentenzahlen als in Deutschland, ergibt sich damit die Notwendigkeit, in erhöhtem Maße auch Verwaltungs- und zusammen mit den Informatikern Aufgaben im Bereich der EDV wahrzunehmen. Diese Aufgaben bringen den Vorteil, dass eine einseitige Verengung des Berufsfelds auf das durchschnittliche Profil des erwerbenden, bzw. erschließenden Fachreferenten weniger gegeben ist, als dies an deutschen Bibliotheken zumindest für die Berufsanfänger gegeben ist. Für die Bibliothekspraxis und den Berufseinstieg der neuen Mitarbeiter ist dies sicher von Vorteil.

Schulungsprogamme

Durch einen Runderlass des Kultusministers, der besonders die Schaffung eines Schulungs­programms für die Benutzer forderte, haben einige Bibliotheken begonnen, hier entsprechende Aktivitäten zu entwickeln, die über die konkreten Bibliotheksführungen und Einführungen in die Benutzung hinausgehend vor allem den Bereich der elektronischen Datenbanken berücksichtigen. Einige Institutionen haben sogenannte moniteurs étudiants eingestellt, sprich eine Art wissen­schaftliche Hilfskräfte, also Studenten, die beispielsweise Hilfestellung bei der Suche in elektronischen Datenbanken liefern, eine Idee, die durchaus auch in Deutschland von Vorteil wäre, da sich die Schulungen doch zumeist auf eine oder wenige Block-Einführung beschränken und in der konkreten Fragestellung doch auf das nicht immer gut informierte Auskunftspersonal der Theke zurückgegriffen werden muss, das nicht immer über die konkreten besonders edv-technischen Fragen der Datenbanken etwa Download, Suchmöglichkeiten etc. ausreichend informiert ist, sondern eher den praktischen und bibliothekarisch-bibliographischen Teil abdecken kann, den es bei der Ausbildung auch schwerpunktmäßig gelernt hat. Da die Schulungsaktivitäten der französischen Bibliotheken aber erst im Beginnen sind, ist hier zukünftig noch mehr zu erwarten.

Benutzerservice und elektronische Dienstleistungen

Der Entwicklungsstand der französischen Bibliotheken ist, was die elektronischen Dienstleistungen anbelangt, durchaus mit dem deutschen vergleichbar. Da auch hier zahlreiche Dinge trotz der vermeintlich mit Frankreich verbundenen Idee einer stärkeren Zentralisierung eher aus lokalen Entwicklungen her angestoßen wurden, herrscht insbesondere im Bereich der Software eine relativ große Heterogenität, auch was das Angebot einer kompletten Serviceleistung beispielsweise der CD-ROM mit Zugang auf der Homepage betrifft. Ob das geplante einheitliche System für die französischen Unversitätsbibliotheken hier eine konkrete Verbesserung bringt, muss sich noch zeigen, es wird sich wohl eher auf der Ebene der Gesamtkataloge auswirken. Zumindest wurde durch die Aktivitäten des Pôle européen erreicht, dass bei Neuanschaffung einer Software bei den beteiligten Bibliotheken eine Beratung erfolgte, um die Kompatibilität mit der Schnittstelle Z 39.50 zu erreichen, auch im Hinblick auf spätere gemeinsame oder sogar länderübergreifende Kataloge. Diese Beratung beschränkt sich allerdings auf den relativ begrenzten Bereich der jeweiligen Projektpartner und nicht auf andere Bereiche außerhalb des Bibliothekswesens, die unter anderer Zuständigkeit liegen z.B. das Institut national de l'audiovisuel, das sich ja auch in Lille befindet, aber an den Projekten des Pôle nicht teilnimmt.

Generell ist aber insbesondere die Zusammenarbeit mit öffentlichen Bibliotheken z.B. im Bereich der Digitalisierung als positiv einzuschätzen. Die meisten Digitalisierungsprojekte sind -abgesehen von den Prestige-Projekten der Bibliothèque nationale- noch ganz am Anfang. Ähnlich wie in Deutschland, wo es ebenfalls zahlreiche sehr heterogene Projekte im Bereich der Virtuellen Forschungsbibliothek gibt, stellt sich die Frage, ob hier nicht eine bessere Koordination auch durch Seiten des Ministeriums nötig wäre. Bei den Volltext-Digitalisierungen der Bibliothèque nationale ist m.E. auch eher das Projekt einer Digitalisierung des kanonisierten französischen Bildungsguts von Bedeutung und weniger der konkrete Nutzungsaspekt. Es mag ja schön sein, den Baudelaire-Text in einer PDF-Version der originalen Ausgabe lesen zu können, aber der Mehrwert dieser digitalisierten Ausgaben, ist abgesehen von einer weitgehend drucktechnisch identischen Wiedergabe der editio princeps oder anderer früherer Ausgaben gering und kann die für die meisten wichtigen Autoren vorhandenen kommentierten Ausgaben nicht ersetzen. Sinnvoller sind hier z.B. die auch teilweise von der BN digitalisierten Zeitschriften etwa heute sehr schwer verfügbarer heimatkundlicher Vereine und Institutionen, die durch ihre Seltenheit und ihren Erhaltungszustand ohnedies auch in der Fernleihe nicht zur Verfügung stehen würden. Die Problematik dieser Aktivitäten liegt hier weniger in dem technischen Standard, der sich faktisch in allen Ländern auf einen bestimmten Stand der Technik eingespielt hat (Tiff als Archivierung PDF, eventuell JPEG als Wiedergabeformat), sondern m.E. eher im organisatorisch konzeptuellen Bereich, was für Deutschland in demselben Maße wie für Frankreich gilt.

Positiv ist im Bereich der Digitalisierung zu vermelden, dass sich auch einige kleinere öffentliche Bibliotheken trotz ihrer geringen Personal- und Sachmittelausstattung dem Pôle als Projektpartner angeschlossen haben und vor allem im Bereich ihrer Spezialsammlungen und regionalgeschichtlich bedeutenden Bestände auch vielversprechende Aktivitäten begonnen haben. Dies hängt natürlich auch mit der spezifischen historischen Bestandsgeschichte vieler bibliothèques municipales zusammen, die in Frankreich anders als in Deutschland die Bestände der in der Revolution enteigneten adeligen und klösterlichen Bibliotheken übernommen haben, worunter sich oftmals sehr wertvolle Manuskripte und Dokumente befinden. Am ehesten ist der Bestand dieser Bibliotheken mit den staatlichen Bibliotheken in Bayern und oder Sonderfällen in einigen anderen Regionen wie z.B. der Stadtbibliothek Mainz zu vergleichen.

Benutzung und Studentenschaft: niveau chercheur und niveau étudiant

Auffallend ist an französischen Bibliotheken für deutsche Benutzer die Trennung in verschiedene Bereiche, die einem niveau étudiant und einem niveau chercheur entsprechen. Da sich diese Trennung auch in der konkreten Ausgestaltung und der räumlichen Situierung der entsprechenden Lesesäle bis heute gehalten hat, hat dies auch konkrete Folgen für die Aufstellung und die Buchauswahl. Das niveau étudiant liefert den Studenten praktisch die Handbücher (manuels) für die ersten Jahre ihres Studiums, während der Bestand der Lesesäle für chercheur auf diese zugeschnitten ist, auch wenn natürlich kein Hindernisgrund besteht, dass auch Anfänger beispielsweise ein Buch des niveau chercheur konsultieren. Auch ist die Zahl der erlaubten Ausleihen für Studenten im Anfangssemester an einigen Institutionen auf eine für deutsche Verhältnisse relativ geringe Zahl begrenzt. Dahinter steht natürlich auch ein anderes Konzept, das im Gegensatz zum deutschen universitären Selbstverständnis davon ausgeht, dass die Anfangssemester weniger wissenschaftlich arbeiten sollen, sondern sich erst die Grundlagen ihres Faches erarbeiten sollen.

Es gab zwar auch an deutschen Bibliotheken entsprechende Privilegien für Wissenschaftler, z.B. eigene Arbeitsräume oder die Erlaubnis des Magazinzutritts, was auch in Frankreich existiert, aber die durchgehende Trennung zwischen einem Bibliotheksteil für Forscher und Studenten hat sich auch angesichts der sehr stark wissenschaftlich geprägten Ausrichtung des durchschnittlichen Buchbestands vor allem der neugegründeten einschichtigen Systeme in Deutschland nicht durchgesetzt. Die in einigen einschichtigen Systemen existierenden Studentenbibliotheken sind eher belletristisch und informativ ausgerichtete Sammlungen von Ausleihliteratur. Die Integrierung der ehemaligen PHs in den universitären Lehrbetrieb tat ein übriges um in den meisten deutschen Bundesländern auch die praktische Lehramtsstudentenausbildung unter wissenschaftliche Vorzeichen zu stellen.

Natürlich gibt es in Deutschland die entsprechenden Lehrbuchsammlungen, aber dies sind im wesentlichen Ausleihbestände einiger weniger Titel in Staffelexemplaren und keine Lesesaalbestände im eigentlichen Sinne. Tendenzen einer Trennung Lehrbuchbestand und Forschungsliteratur in Deutschland gab es eher im Bereich der Erwerbung wie durch die bekannte Forderung des Wissenschaftsrats nach Mehrfachexemplaren für Lehrbücher je nach Student. Diese Anregung wurde in Deutschland auch in den Jahren guter Mittelausstattung nur in wenigen Bundesländern verwirklicht.

In Frankreich lebt die Trennung Chercheur / Allgemeinbenutzer bzw. Etudiant im übrigen auch in der Konzeption der Lesesäle der Bibliothèque nationale fort, die einen den Wissenschaftlern vorbehaltenen Lesesaal und einen generellen Teil für die allgemeine Leserschaft hat, was in vergleichbaren deutschen Institutionen wie der Deutschen Bibliothek in Frankfurt von der deutschen Tradition ausgehend natürlich nicht verwirklicht wurde. Da der Buchbestand der französischen Unibibliotheken generell geringer ist als der der von den Studentenzahlen vergleichbaren deutschen Einrichtungen, ist diese Ausrichtung zumindest eines Teils der Bucherwerbung auf die konkrete in Kursen für Anfangssemester benötigte Literatur durchaus auch aus praktischen Gründen gutzuheißen.

Dissertationen

Das System der Vervielfältigung der Dissertationen an zwei zentralen Ateliers nationaux in Frankreich ist vorbildlich.

Im Vergleich zu dem aufwendigen und insbesondere für die Doktoranden kostspieligen Verfahren der Ablieferungspflicht von Verlagsexemplaren oder im Dissertationsdruck erstellten zahlreichen Pflichtexemplaren für den Tausch ermöglicht das französische System den Doktoranden eine kostenlose (!) Verfilmung ihrer Dissertation und falls dies gewünscht wird in dem System der Thèses à la carte auch eine zusätzliche Verfügbarkeit als gedrucktes Buch. Das Atelier übernimmt in diesem Fall sogar die Aufbereitung des Layouts, alles Dinge, die ein deutscher Doktorand im Falle einer Veröffentlichung selbst übernehmen muss, bzw. durch seinen Druckkostenzuschuss (durchschnittlich ca. 2000,-- DM aufwärts) auch selbst bezahlen muss. Angesichts der Tatsache, dass sich viele Doktoranden nach dem Studium und dem Auslauf eventueller Förderstipendien doch in einer finanziell nicht rosigen Situation befinden, ist das französische System hier für die Promovenden sehr hilfreich. Nicht zuletzt ermöglicht die Veröffentlichung als Mikrofiches bei Dissertationen in den Bibliotheken eine raumsparende Archivierung, was langfristig verhindert, dass sich die Bibliotheken aus Platzgründen genötigt sehen, ihre alten Dissertationsbestände auszusondern. Nachteil der Microfiches ist allerdings, dass sie natürlich schwer zu benutzen sind und wenn eine Bibliothek das Fach vertritt praktisch alle Mikrofiches der Dissertationen in dem Bereich dauerhaft archiviert werden müssen, zumal diese auch in den Katalogen nicht einzeln verzeichnet werden, sondern von den Benutzern zumeist unter Angabe des Namens, des Fachs und des Jahres beim Bibliotheks­personal gesucht werden. Es ist aber abzusehen, dass sich nach Klärung urheberrechtlicher Fragen und der Schaffung entsprechender technischer Voraussetzungen ohnedies in Zukunft die elektronische Archivierung und Bereitstellung größere Bedeutung gewinnt.

Bewertung des Studienaufenthalts

Der Studienaufenthalt war nicht zuletzt wegen der guten Organisation und der zuvorkommenden Art der französischen Bibliothekare und Bibliothekarinnen eine gute Möglichkeit, das französische Bibliothekswesen von innen kennenzulernen. Ein mehrwöchiger Aufenthalt ist sicher sinnvoller als eine Kurzreise mit einigen Bibliotheksbesichtigungen. Als nützlich hat sich auch erwiesen, ver­schiedene Bibliotheken und Bibliothekstypen kennzulernen, auch wenn dies den Besuch verschiedener Orte notwendig gemacht hat. Es bleibt zu wünschen, dass die Austauschmöglichkeit erhalten bleibt und vielleicht auch auf das Bibliothekswesen anderer Länder ausgedehnt werden könnte.







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