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Bericht über einen bibliothekarischen Fachaufenthalt in Großbritannien

Vom 20.10. - 14.11.1997 hatte ich die Gelegenheit, eine Bibliothek in Großbritannien näher kennenzulernen. Meinen Aufenthalt verbrachte ich in einer "Teilbibliothek" der University of Westminster in London. Das IRS (Information Resource Services) im Londoner Stadtteil Harrow kann nicht mit den Universitättsbibliotheken verglichen werden, die wir in Deutschland kennen, was bereits durch den Namen deutlich wird. Es handelt sich vielmehr um eine Art Zusammenlegung von Universitätsbibliothek und Rechenzentrum. Dies einmal kennenzulernen, war für mich besonders interessant.

Die University of Westminster ist verteilt auf 6 verschiedene Standorte, 5 davon befinden sich im Londoner Zentrum. Der Teilbereich im nordwestlichen Londoner Stadtteil Harrow ist der aus bibliothekarischer Sicht deutlich Interessanteste.
Das IRS (Information Resource Services ) in Harrow wurde als Einrichtung für den Bedarf des 21. Jahrhunderts konzipiert . Ende 1995 wurde das Gebäude, das mitten in die Universität integriert ist, eröffnet. Es steht ca. 3500 Studenten zur Verfügung, die auf dem Harrow-Campus u.a. Medienwissenschaften, EDV, Journalismus, Design, Fotographie studieren können. Das IRS ist sehr auf den Informationsbedarf dieser Studenten ausgerichtet, was besonders an der EDV-Ausstattung und der großen Video- und Diasammlung deutlich wird. Zusätzlich stellt es die datentechnische Infrastruktur im Bereich der Medientechnologie zur Verfügung. So können Benutzer sogar Fernseh-/Video-/Multimedia-Produktionen herstellen. Der Buchbestand spielt nicht die größte Rolle, die elektronischen Anwendungen sind mindestens gleichbedeutend.
Die EDV-Ausstattung ist prächtig. Den Studenten stehen 91 IBM-PCs sowie 36 Apple Macintoshs zur Verfügung sowie entsprechende Drucker und Scanner. Auf fast allen Pcs wird die gesamte Bandbreite an Anwendungen angeboten: OPAC, WWW, E-Mail, Textverarbeitung, Grafikanwendungen, CD-ROM-Recherchen. Es gibt noch zusätzliche Terminals ausschließlich jeweils für OPAC-Recherchen und für CD-ROM-Recherchen. Das CD-ROM-Angebot umfaßt bibliographische Datenbanken, Fakten-und Produktdatenbanken und auch viele Jahrgänge Volltexte der gängigen englischen Tageszeitungen.
Was den Buchbestand betrifft, so liegt der Schwerpunkt statt großer Titelvielfalt auf Mehrfachexemplaren für die Lehre, der Forschungsaspekt spielt kaum eine Rolle. Der Bestand von ca. 90000 Bänden ist frei zugänglich nach der Dewey-Dezimalklassifikation aufgestellt. Buchbereich, Leseplätze, Computerbereiche und ein Bereich für die Arbeit mit Dias und Bildern sowie Graphik sind räumlich offen auf 2 Etagen zusammengefaßt. Der offene Bereich wirdergänzt durch Räume, die besondere Möglichkeiten bieten: ein Copyshop (zum Kopieren, Drucken, Faxen), Computerräume (auch für Schulungszwecke), Gruppenarbeitsräume, ein Selbstlernzentrum für Sprachen und eine "Post-Production-Suite" (für Foto-, Videoarbeiten u.ä.) Auch die Mitarbeiterräume sind benutzernah.
Im IRS sind 28 Mitarbeiter beschäftigt, davon sind 15 Mitarbeiter aus dem bibliothekarischen Bereich. Die Tätigkeitsstruktur der Bibliothekare ist ganz anders als in Deutschland, sie nehmen eine Art Zwischenstellung zwischen den Diplombibliothekaren und den Fachreferenten ein. Das bedeutet, ein Bibliothekar, der ein bestimmtes Fachgebiet studiert hat, betreut ein oder mehrere Fachgebiete , wählt die Literatur aus, bestellt und katalogisiert diese auch, macht Schulungen für Studenten, arbeitet regelmäßig in der Auskunft mit und zu bestimmten Terminen auch an der Ausleihverbuchung. Jeder der bibliothekarischen Mitarbeiter arbeitet in fast allen Bereichen des IRS, die nicht durch Abteilungsstrukturen getrennt sind,regelmäßig mit, d.h. im Laufe eines Arbeitstages wechselt er seine Tätigkeit oftmals alle 2-3 Stunden.
Zusätzlich zu den Bibliothekaren sind im IRS 13 EDV-Mitarbeiter beschäftigt. Sie betreuen u.a. den EDV-Gerätebestand, installieren Anwendungen, führen Schulungen für Benutzer durch (z.Bsp. E-Mail) und arbeiten regelmäßig in der Auskunft mit. Die Auskunft ist über die gesamte Öffnungszeitdes IRS hinweg jeweils mit einem Bibliothekar und einem Mitarbeiter aus dem EDV-Bereich besetzt. Die meisten Fragen, die von Benutzern gestellt werden, betreffen den EDV-Bereich. Der EDV-Mitarbeiter gibt Hilfestellung bei der Textverarbeitung, beim Ausdrucken, Scannen, bei Problemen mit dem E-Mail-Account u.ä. Die Studenten erkennen schnell, welcher der beiden Auskunftsmitarbeiterfür EDV-Fragen zuständig ist und welcher für Fragen bibliothekarischer Art. Die Auskunftsmitarbeiter können Fragen aus der jeweils "anderen Sparte" nur sehr bedingt beantworten.
Die für Großbritannien übliche strenge Zugangskontrolle zum IRS und Ausleihbeschränkungen waren für mich, besonders da ich aus Konstanz komme, ungewohnt. Nur Studenten und Mitarbeiter der University of Westminster haben Zugang zum IRS, selbst Studenten anderer Londoner Universitäten können dort nicht ausleihen. Die Ausleihmenge ist auf 15 Titel beschränkt.
Auffallend war, daß an der University of Westminster keinerlei Mahngebühren erhoben werden. Wenn Bücher nicht fristgerecht zurückgegeben werden, dann ist die Ausweissperre ein Druckmittel. Es funktioniert, doch evtl. wird sich mit Wechsel der Bibliotheksleitung diese Besonderheit nicht halten können.
Die Fernleihe hat, vermutlich wegen des mangelnden Forschungsaspekts, keine allzu großen Mengen zu bewältigen. Dennoch beeindruckte mich, daß ein Schnelllieferverfahren von Aufsätzen im Rahmen des Lamda-Projekts schon seit längerer Zeit im Einsatz ist.
Während des Semesters ist das IRS auch sonntags, ebenso wie am Samstag, von 10 - 17 Uhr geöffnet. Diese Wochenendüffnungszeiten werden allerdings von speziell dafür eingestelltem Personal bestritten, sei es durch Studenten des Bibliothekswesens aus London oder von Bibliothekaren, die aus familiären Gründen nicht unter der Woche arbeiten.
Das IRS steht Neuerungen, Verbesserungen des Benutzerservices sehr aufgeschlossengegenüber: so ist z. Bsp. eine 24-Stundenöffnung zu Testzwecken im Gespräch.

Mein vierwöchiger Aufenthalt bot mir sowohl die Gelegenheit, mir einen Überblick über Struktur und Arbeitsweise des IRS zu verschaffen als auch teilweise praktisch mitzuarbeiten. Die Auskunft war der Bereich, in dem ich am meisten selbständig mitgearbeitet habe. Schon nach kurzer Zeit sollte ich den bibliothekarischen Teil zu wenigen Terminen alleine abdecken. Aufgrund der übersichtlichen räumlichen Bedingungen und einfacher Benutzungskonditionen war das machbar. Hilfestellung konnte ich den Studenten z. Bsp. bei CD-ROM-Recherchen gleichermaßen geben wie zu Hause in Konstanz. Die Studenten anfangs zu verstehen war schwieriger als die inhaltliche Beantwortung der Anfragen.
Der Zeitpunkt meines Aufenthalts im IRS fiel in eine sehr arbeitsreiche Zeit, kurz nach Semesterbeginn. Da nahezu jeder Mitarbeiter im IRS alle Tätigkeiten ausführt und keine klare Abteilungsstruktur vorhanden ist, war es nicht einfach, einenÜberblick zu erhalten, zudem sind es die Mitarbeiter nicht sehr gewohnt, ihre Arbeitsvorgänge Fremden zu erklärenen. Ich fühlte mich gelegentlich in dem Zwiespalt, einerseits so viele Informationen wie möglich bekommen zu wollen, andererseits den unter Zeitdruck stehenden Mitarbeitern nicht zu fordernd gegenübertreten zu wollen. Die Tatsache, daß ich Besichtigungstermine in anderen Bibliotheken, aber auch das, was ich im IRS lernen wollte, teilweise selbst organisieren mußte, war lehrreich für mich, wenn auch nicht immer angenehm und effektiv. Die Mitarbeiter waren freundlich und vermitteltem einem das Gefühl, dazuzugehören.

Mein Aufenthalt im IRS wurde durch zahlreiche Aktivitäten ergänzt. Die Auswahl für ein neues EDV-System steht im IRS bevor. Eine Systemvorführung der Firma Talis bot mir die Gelegenheit über alle bibliothekarischen Bereiche in englischer Sprache in Kürze informiert zu werden.

Die Besichtigung zweier anderer Teilbibliotheken der University of Westminster (Euston Center und Marylebone Road Library) war wichtig, um erkennen zu können, daß das IRS in Harrow nicht normaler Standard in Großbritannien ist. Diese beiden Teilbibliotheken funktionieren von der Struktur her ähnlich, sind alle in bezug auf EDV gut ausgestattet, doch räumlich und baulich im Vergleich altmodisch. Beeindruckend ist bei allen Bibliotheken der University of Westminster die starke fachliche Orientierung in allen Medienbereichen auf den Bedarf der Studenten und die sehr starke Nutzung durch die Studenten.

Die Besichtigung der Westminster Public Library bot mir Gelegenheit, eine Bibliothek kennenzulernen, die von jedermann genutzt werden kann. Dieses Bibliotheksgeäude stammt aus der Zeit des ersten Weltkriegs und darf wegen des Denkmalschutzes kaum verändert werden. Im Zeitalter der EDV bereitet dies große Schwierigkeiten. Im Untergeschoß der tminster Public Library sind Räumlichkeiten an eine private Computerfirma (Input Output Centres) vermietet, die für jedermann die Möglichkeit sowie Hilfestellungen und Kurse zu Textverarbeitung und Internet bietet, natürlich gegen Bezahlung. Leitungskosten sowie Miete teilen sich die Bibliothek und diese Firma. Diese Verbindung in einer Öffentlichen Bibliothek empfand ich als passend und zeitgemäß, beide Einrichtungen sind mit der Informationsvermittlung beschäftigt.

Kurz vor Schließung des berühmten Lesesaals der British Library hatte ich noch Gelegenheit zu einem kurzen Einblick. Die neue British Library konnte ich, da noch nicht geöffnet, nur von außen ansehen, nähere Informationen und Hintergründe erhielt ich jedoch über einen Film, den das britische Fernsehen zu dieser Zeit sandte.

Ein weiterer Höhepunkt meines Aufenthalts war die Teilnahme an einer Tagung über Bibliotheksbau (organisiert von Sconul, der Standing Conference of National and University Libraries), die im IRS in Harrow stattfand. Ich erfuhr vieles aus der Planungs- und Bauphase des IRS, beeindruckend war die enge Zusammenarbeit von Bibliothekaren und dem Architekten. Außerdem schilderte der Architekt sehr anschaulich einen Neubau der University of Wye.

Mein Einblick in das britische Bibliothekswesen wurde erweitert duch einen Besuch in Oxford. Ich hatte ein Treffen mit Liz Chapman vereinbart, die mir von einem Konstanzer Kollegen, der vor vielen Jahren zu einem bibliothekarischen Aufenthalt in England war, empfohlen wurde. Sie bot mir Gelegenheit, an einer Fortbildungsveranstaltung für Bibliothekare zum Thema Online-Ressourcen in den Geisteswissenschaften teilzunehmen, außerdem die Möglichkeit, zwei kleine Bibliotheken in Oxford, deren Leiterin sie war, zu besichtigen: die Social Studies Faculty Library und als Beispiel für eine Präsenzbibliothek die Institute of Economics and Statistics Library .Mir wurde deutlich, daß auch in Großbritannien deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bibliotheken bestehen, auch wenn dort keine föderalistische Struktur herrscht. Eine ganz andere Studienathmospähre wahrzunehmen als ich es in London erlebt habe, war sehr interessant.

Die Besichtigung verschiedener Bibliotheken erscheint mir sehr wichtig bei solch einem bibliothekarisch en Auslandsaufenthalt. Nur so habe ich den Eindruck bekommen können, einen kleinen Einblick in das britische Bibliothekswesen zu haben. Das IRS ist sicherlich keine typische Einrichtung, jedoch scheint es ein Trend in Großbritannien zu sein. Mein Eindruck ist, als ob uns Großbritannien in bibliothekarischer Hinsicht einen Schritt voraus ist. Vielleicht ist diese Zusammenlegung von Bibliothek und Rechenzentrum auch bei uns ein Modell für die Zukunft. Den größten Teil meines bibliothekarischen Aufenthalts dort verbracht zu haben, erscheint mir passend und richtig.
Ich bin froh die Gelegenheit zu solch einem Aufenthalt erhalten zu haben. Den Nutzen für die eigene Arbeit zu Hause konnte ich nach meiner Rückkehr deutlich feststellen.

Christine Meyer
Universität Konstanz Bibliothek
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Tel: (07531) 88-2871
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E-mail: : Christine. Meyer@uni-konstanz.de


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