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In den Jahrzehnten nach der Reichs­
gründung 1871 wurde über die Schaf­
fung einer zentralen Sammel- und Auf­
bewahrungsstätte für die erscheinenden
literarischen Werke diskutiert. In dem
Diskurs fndet sich eine verwirrende
Vielfalt von Bezeichnungen für diese
in Deutschland nicht vorhandene und
mehr oder weniger vermisste Institution.
So ist von Reichsbibliothek, Deutscher
Zentralbibliothek, Deutscher Biblio­
thek, Deutscher Bücherei und gelegent­
lich auch von Nationalbibliothek die
Rede. Die Unbestimmtheit im Umgang
mit dem Begrif verweist auf ein kultur-
und wissenschaftspolitisches Dilemma:
Das deutsche Bibliothekswesen jener
Jahre glich einer Pyramide, der jedoch
eine Spitze in Gestalt einer Nationalbib­
liothek fehlte.
Versuche, diesen Zustand zu verändern,
trafen auf komplizierte Bedingungen
voller Widersprüche. Mit dem Deut­
schen Reich war 1871 als Ergebnis der
kleindeutschen Reichseinigung von
oben ein gesamtstaatlicher Rahmen
unter preußischer Dominanz entstan­
den. Da das Reich als Staatenbund
aber föderal strukturiert war, standen
der Idee einer zentralen Bibliothek mit
nationaler Bedeutung erhebliche verfas­
sungsrechtliche und politische Hürden
entgegen. Den Nachholbedarf der „ver­
späteten Nation“ machte der Blick über
die Grenzen nach Westeuropa ofen­
sichtlich. Angesichts der ökonomischen
Entwicklung und der außenpolitischen
Ansprüche des Reichs, ganz zu schwei­
gen von den Bedürfnissen der Wissen­
schaft, stellte sich die nicht zeitgemäße
Literaturversorgung immer deutlicher
als Politikum dar. Es bestand jedoch
wenig Aussicht, das deutsche Bib-
liothekswesen durch eine Einrichtung
des Typs Nationalbibliothek abzurun­
den und damit hinsichtlich der Bewah­
rung der kulturellen Überlieferung zu
den westeuropäischen Nachbarn und
den Vereinigten Staaten von Amerika
aufzuschließen. Da es keine nationa­
le Kultur- oder Wissenschaftspolitik
gab, konnte auch keine nationale Bib-
liothekspolitik betrieben werden. Und
politisch oder gesellschaftlich relevante
Kräfte, die sich für eine zentrale Ins­
titution engagierten, waren kaum vor­
handen. Die zaghaften Bemühungen,
etwa den Reichskanzler zum Handeln
zu bewegen, fanden jeweils ein schnel­
les Ende. So blieb eine Eingabe
g
SCHWIERIGE
GRÜNDUNGSJAHRE
Der erste Teil der Reihe „Die Geschichte der Deutschen
Nationalbibliothek“ beschreibt die Widerstände im Deutschen
Reich gegen die Idee einer nationalen Bibliothek. Und er schildert,
wie es 1912 zur Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig kam.
TEXT: LOTHAR POETHE
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