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aktuellen Studie der Universität Hamburg zufolge kann
jeder siebte Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren nicht
richtig lesen und schreiben. Und das, obwohl in Zeiten
von E-Mail, Twitter und SMS wahrscheinlich noch nie so
viel geschrieben wurde.
Ich kann nicht bestätigen, dass sich die Lage in den letzten
Jahren dramatisch verschlechtert hätte. Zumindest meinen
Studenten würde ich eine ganz gute Sprachkompetenz
bescheinigen. Mag sein, dass die Rechtschreibfehler etwas zu­
genommen haben, aber
das bewegt sich alles noch
im Rahmen.
Stichwort Rechtschrei-
bung: Wie haben die
Deutschen inzwischen
die Rechtschreibreform
verdaut?
Ganz gut. Die Gesellschaft
für deutsche Sprache war
ja von Anfang an auf der Seite der Reformbefürworter. Dass
so eine Reform aber nicht geräuschlos ablaufen kann, ist klar.
Insbesondere durch die Nachbesserungen 2004, als einige
Regeln modifziert und weitere Schreibweisen als Varianten
zugelassen wurden, konnte die Diskussion befriedet werden.
Neben dem Hochdeutschen gibt es schon immer
Dialekte. Eine Zeit lang waren sie verpönt und man
dachte, sie würden nach und nach verschwinden. Nun
erleben sie in manchen Bereichen eine Renaissance.
Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Zuzug von
Flüchtlingen die Bevölkerung stark durchmischte, begann
eine Standardisierung der gesprochenen Sprache. Diese Ent­
wicklung setzte sich durch die Zunahme der Mobilität fort.
Inzwischen ist ein starkes Stadt-Land-Gefälle zu verzeichnen:
Während in ländlichen Gebieten der Dialekt nach wie vor ge­
bräuchlich ist, verschwindet er in urbanen Lebenswelten immer
mehr. Im Zuge der Globalisierung sehnen sich die Menschen
nach Heimat und Zusammengehörigkeit. Dabei gibt ihnen der
Dialekt mit seiner Schibboleth-Funktion Orientierung.
Was meinen Sie damit genau?
Der Begrif Schibboleth stammt aus dem Hebräischen und
bezeichnet eine sprachliche Besonderheit, durch die sich ein
Sprecher einer bestimmten Gruppe zuordnen lässt. Bei Dia­
lekten ist das Verbindende die geografsche Herkunft. Es gibt
aber auch Schibboleths, die als soziale Codes in der Jugend­
sprache funktionieren.
Wenig diferenzierende Bezeichnungen wie „cool“,
„krass“ oder „geil“ wären demnach kein Anzeichen
für die Verarmung der deutschen Sprache, sondern
Schibboleths?
Ganz genau. Diese Entzückungswörter gab es schon immer.
Beispielsweise sagte man bereits Mitte des 19. Jahrhunderts
in Berlin gerne „dufte“, was sich dann in den 50er-Jahren des
20. Jahrhunderts über ganz Deutschland ausbreitete. In den
späten 60ern und frühen 70ern wurde der Begrif in „tof“
abgewandelt, der sich aus dem jiddischen „tof(te)“ und dem
hebräischen „tow“ für „gut“ ableitet. Das sind temporäre
Modeerscheinungen. Andere beschreibende Begrife gehen
dadurch ja nicht verloren. Im Übrigen halte ich die Vorstel­
lung, dass sich früher alle Welt in einer literarisch überlieferten
Form unterhalten hat, für einen Trugschluss. Der Umfang des
aktiven Wortschatzes war
schon immer auch von
der Zugehörigkeit zu einer
sozialen Schicht abhängig.
Aber wie kann es dann
sein, dass auf Schul-
höfen deutscher Gym-
nasien eine Sprache ge-
sprochen wird, die sehr
an die sogenannte Ka-
nak Sprak und an Ethnolekte erinnert?
Auch dabei handelt es sich wieder um Schibboleths. Diese
Jugendlichen sind mehrheitlich sehr wohl in der Lage ein kor­
rektes Hochdeutsch zu sprechen, und tun dies in der Regel
auch – beispielsweise im heimischen Umfeld.
Bei der Aussprache und Intonation scheint es schon
einen gewissen Zeitgeist zu geben. Schaut man sich heute
alte Spielflme oder Wochenschauen an, wundert man
sich neben dem aufällig rollenden „R“ über eine über-
trieben dramatische Sprachinszenierung.
Früher war tatsächlich die traditionelle Bühnensprache weit-
verbreitet. Auch bei Politikerreden kam das zur Geltung. Ein
gutes Beispiel dafür ist die Rede des Berliner Oberbürgermeis­
ters Ernst Reuter am 9. September 1948 zur Luftbrücke: „Ihr
Völker der Welt ...“. Dabei ist der Hintergrund aber haupt­
sächlich technischer Natur. Damals gab es einfach noch nicht
diese Verstärkermöglichkeiten. Heute tragen beispielsweise die
Schauspieler auf der Theaterbühne meistens Headsets, früher
mussten sie unverstärkt nur mit ihrer Stimme auch noch im
letzten Winkel des Raums deutlich verstanden werden – das ist
mit undeutlicher Aussprache nicht zu machen.
Nach Jahrzehnten der Zurückhaltung steht die Politik
inzwischen wieder sehr selbstbewusst zur deutschen
Sprache: Es wird über die Aufnahme in das Grundgesetz
diskutiert, der Außenminister bittet bei einer internatio-
nalen Pressekonferenz um deutsche Fragestellungen und
der Fraktionsvorsitzende der Union stellt zufrieden fest,
dass in Europa wieder Deutsch gesprochen wird. Das
Ausland verfolgt diese Entwicklung eher kritisch.
Hier muss man unterscheiden: Die Integrationsdebatte hat
gezeigt, dass Sprache der wichtigste verbindende Faktor einer
Gesellschaft ist. Darüber gibt es im allgemeinen Diskurs auch
kaum einen Widerspruch. Dass manche missverständliche
Äußerung deutscher Politiker im Ausland kritisch beurteilt
wird, ist aufgrund unserer Geschichte nur zu verständlich.
Trotzdem sollte ein Land mit dieser politischen, wirtschaft­
lichen und kulturellen Bedeutung auch selbstbewusst zu
seiner Sprache stehen. Deshalb sind wir froh, dass Deutsch
als Fremdsprache wieder an Bedeutung gewinnt. Beispielsweise
ist Deutsch in China, dem bevölkerungsreichsten Land, nach
Englisch und Japanisch neben Französisch die am dritthäu­
fgsten gesprochene Fremdsprache.
Einer breiten Öfentlichkeit ist die Gesellschaft für
deutsche Sprache hauptsächlich durch das Wort des
Jahres bekannt, das sie seit 1971 kürt. 2011 fel die
Entscheidung auf „Stresstest“. Welche Kriterien waren
ausschlaggebend?
Beim Wort des Jahres handelt es sich um Begrife, die aus
bestimmten Gründen als charakteristisch für das jeweilige
Jahr erscheinen. Das Wort Stresstest stammt ja eigentlich
aus der Medizin. Ärzte verstehen Stress als körperliche oder
seelische Belastung. Ein Test soll ausloten, wie auf Stress
reagiert wird und wie viel noch tolerabel ist. Doch im Laufe des
Jahres 2011 begegnete uns der Begrif dann immer häufger in
ganz anderen Zusammenhängen: Nicht nur Banken wurden
auf ihre Belastbarkeit getestet, auch das Bahnprojekt Stuttgart
21 und Atomkraftwerke wurden Stresstests unterzogen. So
ist Stresstest im Sinne einer Krisensimulation mittlerweile als
fester Bestandteil der Alltagssprache anzusehen.
Herr Prof. Burkhardt, zum Abschluss eine persönliche
Frage: Verraten Sie uns Ihr Lieblingswort?
Ich habe eigentlich gar keines. Und als Linguist liebe ich ja
im Prinzip alle Sprachen und Wörter. Allerdings war ich, als
jemand, der seinen Geburtstag immer im tristen November
feiern muss, sehr davon angetan als letztes Jahr der Begrif
Novemberfrühling kreiert wurde.
PROF. DR. DR. H. C. ARMIN BURKHARDT
Geboren 1952, Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie, ist seit Juni 2011
Vorsitzender der Gesellschaft für deutsche Sprache. Burkhardt lehrt an der Universität
Magdeburg Germanistische Linguistik. Daneben ist er Herausgeber und Autor zahl-
reicher Publikationen zur Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, darunter eines
Deutsch-Chinesischen Universalwörterbuchs, eines Wörterbuchs der Fußballsprache
und einer Untersuchung über die Sprache des deutschen Parlamentarismus.
GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHE SPRACHE
Das 1947 gegründete Institut ist eine politisch unabhängige Vereinigung zur Pfe-
ge und Erforschung der deutschen Sprache. Die Organisation hat sich zum Ziel
gesetzt, die Stellung und Verbreitung der deutschen Sprache im In- und Ausland
zu fördern und Empfehlungen für den allgemeinen Sprachgebrauch zu geben. Sie
beantwortet Fragen von Privatpersonen, Firmen, Ministerien und Institutionen zur
deutschen Sprache, beispielsweise zu Rechtschreibung und Grammatik, zu Stil und
Ausdruck sowie zur Bedeutung und Zulässigkeit von Vornamen. Zusätzlich prüft sie
Gesetzesentwürfe und Verordnungen des Bundestags auf sprachliche Richtigkeit
und Verständlichkeit und verleiht den Medienpreis für Sprachkultur.
Sprache ist der wichtigste
verbindende Faktor einer
Gesellschaft.
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