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gemacht werden bzw. versickern im Verlauf der Zeit. Politi­
sche Eliten sind inzwischen jedoch sehr viel stärker auf Res­
ponsivität und Unterstützung angewiesen, als dies bei kultu­
rellen Eliten der Fall ist. Bleiben Zustimmung und Zuspruch
bei den kulturellen Eliten aus, so können sie sich allemal auf
ihren Avantgardeanspruch zurückziehen oder geltend machen,
dass künstlerische Kreativität dem Massengeschmack schon
immer voraus gewesen sei. Die Abstimmung der Bevölkerung
perlt an kulturellen Eliten ab, während die politischen Eliten
in nervöser Stimmung das wöchentliche Auf und Ab der
Volksstimmung beobachten. Immer häufger sind sie damit
so sehr beschäftigt, dass sie darüber die politische Führung
vernachlässigen oder dazu nicht mehr in der Lage sind.
Das kann den kulturellen Eliten nicht passieren – viel­
leicht mit Ausnahme derer, die über den Buchmarkt noch
am ehesten darauf angewiesen sind, die Interessen und den
Geschmack des allgemeinen Publikums zu trefen. Aber das hat
seinen Preis: Je mehr und je erfolgreicher sie das tun, desto
weniger dürfen sie beanspru­
chen, zur kulturellen und
geistigen Elite zu gehören.
Die Mitte hat in Politik
und Gesellschaft ofenbar
eine andere Bedeutung als
in der Kultur. In der Politik
tummeln sich die Politiker
in der Mitte oder behaupten
zuhauf, Positionen der poli­
tischen Mitte zu vertreten.
Wer den Anspruch, Mitte
zu sein, verliert, rutscht ab, in der Wählergunst ebenso wie
auf den Kandidatenlisten der Parteien. Das ist im Kulturbe­
trieb nicht so; hier ist es attraktiv, Avantgarde zu sein, auch
weil man auf diese Weise gegen den tödlichen Verdacht der
Mittelmäßigkeit geschützt ist. Und natürlich auch, weil der
Avantgarde eine viel größere Aufmerksamkeit zuteil wird als
dem Mittelfeld der Kolonne. Avantgarde heißt Sichtbarkeit,
während sich für die Vielen im Mittelfeld kaum einer der
Kulturjournalisten interessiert. Die Eventorientierung im Kul­
turbetrieb und der Avantgardezwang unter den Kulturschaf­
fenden gehören zusammen. Die Mitte ist hier, so scheint es,
von nachrangiger Bedeutung.
Aber was hat das eigentlich mit der Nationalbibliothek zu
tun? Sie ist die Institution, die der Mitte in der Kultur wieder
zu ihrem Recht verhilft bzw. ihr wieder Gewicht verschaft.
Indem sie sammelt, katalogisiert und bibliografert, wahrt sie
Abstand gegenüber den permanenten Wechseln an der Spit­
ze des kulturellen Fortschritts und bleibt gelassen gegenüber
den schwankenden Konjunkturen und Moden. Nationalbibli­
otheken sind die Sachwalter der langen Dauer. Zwar nehmen
sie seismografsch alle Bewegungen und Veränderungen wahr,
aber sie reagieren nicht darauf, sondern registrieren sie bloß.
Auch sie unterliegen einem permanenten Modernisierungs­
zwang, aber der bezieht sich nicht auf thematische Verände­
rungen des Kulturbetriebs, sondern auf die Instrumente, mit
denen diese Veränderungen registriert werden. So sammeln
Nationalbibliotheken schon seit Langem nicht mehr nur
Bücher und Zeitschriften, sondern auch die mit dem Beginn
des Computerzeitalters aufgekommenen neuen Informations­
träger. Die geistige Mitte, deren Sachwalter Bibliotheken in
sehr viel höherem Maße sind als die eher auf kurzfristigen
Applaus angelegten Theater, ist nach dem Ende der Guten­
berg-Galaxis nicht mehr allein mithilfe von Druckerzeugnis­
sen auszumitteln, sondern dazu gehören längst auch DVDs
und CDs. Aber das sind immerhin noch Informationsträger
in materieller Gestalt, die entsprechend gesammelt und auf­
bewahrt werden können. Das beginnt sich inzwischen jedoch
zu ändern.
Im Gutenbergzeitalter hatte die Nationalbibliothek als Hü­
ter in der geistigen Mitte des Landes eine auch ästhetische
Präsenz. Dabei war sie nicht
nur als ein – früher stärker
repräsentativer, heute eher
funktionaler – Gebäude­
komplex sichtbar, sondern
auch in den Myriaden der
darin aufbewahrten Bücher.
Die Abbildung vom In­
nern der Bibliotheken sind
bis heute Sinnbilder der
Kultur, der geistigen Welt,
einer entspannten Ruhe,
der Fülle des Wissens
usw. Der Vollständigkeitsanspruch der Nationalbibliothek,
sowohl die im Land erschienenen Publikationen als auch die
in der Nationalsprache verfassten Arbeiten im Ausland zu
sammeln, verlieh diesen Bildern prall gefüllter Bücherregale
eine besondere Dignität. Das wird in Zukunft kaum noch so
sein, auch wenn das Buch als materieller Gegenstand sicher­
lich nicht verschwinden wird. Doch die Ästhetik der geisti­
gen Mitte, wie sie durch die Nationalbibliothek verkörpert
wird, wird sich verändern. Die Mitte wird infolge des relativen
Bedeutungsverlusts des Buches weniger anschaubar und weni­
ger ansehnlich sein. Aus der Anschauung wandert sie hinüber
ins Feld der Imagination.
PROF. DR. HERFRIED MÜNKLER
Der renommierte Politikwissenschaftler mit dem Schwer-
punkt Politische Theorie und Ideengeschichte wurde
1951 im hessischen Friedberg geboren. Er hat eine Pro-
fessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2009
erhielt er für sein Werk „Die Deutschen und ihre Mythen“
den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie
Sachbuch/Essayistik.
Die Nationalbibliothek
ist wohl nicht der Zeit,
aber dem Wechsel der
Zeiten überhoben.
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