Seite 12-13 - DNB_Leseraum_FINAL

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WAS SUCHEN
SIE DENN HIER?
Täglich kommen knapp 800 Menschen in die Deutsche
Nationalbibliothek, um sich Medienwerke auszuleihen und in
den Lesesälen zu arbeiten. In dieser Reihe stellen wir jeweils
sechs von ihnen vor: Woran sind sie interessiert? Und warum?
TEXTE: CHRISTIAN SÄLZER/ULRICH ERLER FOTOS: STEPHAN JOCKEL
Mehr als
schöner Schein
Larissa Bergmann.
Bei Models ist es
ähnlich wie bei Fußballprofs: Die Karri-
ere ist endlich, und danach gilt es, „die
weißen Seiten zu füllen“. Die in Johan-
nesburg geborene, in London aufgewach-
sene und heute in Frankfurt am Main
in der Nähe der Nationalbibliothek woh-
nende Bergmann weiß, wovon sie spricht.
Sie hat alle Facetten des Business kennen-
gelernt und nichts ausgelassen. Zwanzig
Jahre lang jettete sie um die Welt, blin-
zelte für die bekanntesten Marken in die
Kamera und spielte in „Verbotene Liebe“
und „Die fabelhafte Welt der Amélie“
mit. Inzwischen bestimmt nicht mehr
der schöne Schein ihr Leben und sie hat
das Lesen für sich entdeckt. Am liebsten
im Lesesaal – unter Menschen und doch
in Ruhe, zunächst über Psychologie,
dann über Kunst. Inzwischen malt sie
selbst und arbeitet an einer Mappe für
die Aufnahme eines Studiums.
Jedes Jahr um die
halbe Welt
Yoko Kitamura.
Die meisten Nutzer der
Deutschen Nationalbibliothek stammen
aus Leipzig und Frankfurt am Main sowie
Umgebung. Manche reisen auch von wei-
ter her an, aus Berlin oder Bochum etwa,
mitunter auch aus dem europäischen
Ausland. Rekordverdächtig ist allerdings
der Einsatz der japanischen Assistenzpro-
fessorin. Einmal im Jahr fiegt sie von Na-
goya nach Frankfurt, um in der National-
bibliothek für ihre Forschungsthemen zu
recherchieren – „deutsche Themen“ wie
die Kriegsopferversorgung nach dem Ers-
ten Weltkrieg oder der Beginn der Anti-
Atom-Bewegung, wofür sie Ausgaben der
legendären Frankfurter Sponti-Zeitschrift
„Pfasterstrand“ durchforstet. Warum
interessiert sich eine Wissenschaftlerin
aus Japan so sehr für Deutschland? „Ich
habe einmal Deutsch gelernt.“ Warum
das? „Einfach so.“ Einfach so? „Nun, es
war leichter als Französisch.“
Dem Bären auf
der Spur
Claudia Speicher.
Schon als Kind hat sie
Zeit mit Bummi verbracht. Heute beschäf-
tigt der kleine gelbe Bär die
33
-jährige Er-
ziehungswissenschaftlerin wieder. Bummi
ist Titelfgur und Namensgeber der ältes-
ten Kinderzeitschrift Deutschlands. 1957
in Ost-Berlin gegründet, wurde sie vom
Zentralrat der FDJ in Hunderttausender-
Aufage publiziert. Das Vorschulheft hat
sogar die Wende überstanden und Spei-
cher forscht nun im Rahmen ihrer Pro-
motion an der Universität Magdeburg
darüber: Wie hat sich der gesellschaftliche
Umbruch in den Geschichten, Liedern,
Mal- und Bastelseiten niedergeschlagen?
Welche Vorstellungen von institutioneller
Kinderbetreuung, Familie und Freizeit
wurden einst und werden heute vermit-
telt? Gut, dass die Deutsche Nationalbi-
bliothek fast alle Bummi-Ausgaben seit
1957 bereitstellen kann.
Geschichte verstehen,
Gegenwart verändern
Marco Hilbig.
Was immer der gebürtige
Thüringer anpackt: Er will etwas bewegen.
So jobbt er bei Greenpeace, rappt seit 18
Jahren unter dem Künstlernamen Reim-
teufel, unterrichtet in Jugendzentren und
hält Mahnwachen zur Reichspogrom-
nacht ab.
2011
hat er hierfür den „Coura-
giert in Leipzig“-Preis erhalten. Auch seine
Doktorarbeit an der Universität Potsdam
hat ein politisches Thema: Es geht um die
1900
in Leipzig als erste jüdische Schule
Sachsens gegründete Höhere Israelitische
Schule und ihren Leiter Ephraim Carle-
bach, über seinen Versuch, Reformpä-
dagogik mit Orthodoxie zu verbinden,
und über den anwachsenden Antisemi-
tismus bis zur erzwungenen Schließung
der Schule
1938
. All das vollzieht Hilbig,
unterstützt von der Anne-Frank-Shoah-
Bibliothek der Deutschen Nationalbiblio-
thek, anhand von Gemeindebriefen nach.
Den visuellen
Horizont erweitern
Erich Mehrl.
Wenn der 54-Jährige, der
viele Jahre in der Frankfurter Bildagen-
tur des Evangelischen Pressedienstes epd
gearbeitet hat, im Lesesaal Platz nimmt,
dann meist, um großformatige Fotogra-
febände zu studieren: Michael Wolfs
Frontalaufnahmen von Hochhausfassa-
den in Hongkong, Julius Shulmans Ar-
chitekturfotografen der US-Nachkriegs-
moderne oder Candida Höfers Blicke in
menschenleere Innenräume öfentlicher
Gebäude. Durch das Studium dieser
Meister will Mehrl, selbst passionierter
Fotograf, seinen Horizont erweitern. Der
geschulte Blick soll auch in eigene Projek-
te einfießen. Seit einiger Zeit arbeitet er
an zwei Fotografebüchern. In einem geht
es um das ehemalige IG-Farben-Haus,
heute Sitz der Universität Frankfurt am
Main, in dem anderen um einen Blick auf
die Bankentürme der Stadt von oben.
Der Duft
der Freiheit
Dr. Michael W. Lippold.
„Ich müss-
te eigentlich inventarisiert sein“, sagt der
45-jährige Leipziger und grinst. Sein „hal-
bes Leben“ habe er in der Deutschen Bü-
cherei verbracht, angefangen von der Zeit
seines Theologiestudiums, über das Vi-
kariat und die Tätigkeit als wissenschaft-
licher Mitarbeiter an der Universität bis
heute. Warum eigentlich Theologie? „Für
jemanden, der sich den DDR-Massen-
organisationen verweigert hat, war die
Auswahl an Studienfächern nicht sehr
groß.“ Vor seinem christlichen Bildungs-
hintergrund hat er eine gut rezipierte
Promotion über das Thema Schwanger-
schaftsabbruch geschrieben, ist heute als
selbstständiger theologischer Lektor tätig
und steigt im Rahmen eines Predigtauf-
trags auch ab und an auf die Kanzel. Eine
feste Stelle in der Kirche aber hat und will
er nicht. „Ich habe in der Wissenschaft
zu sehr an der Freiheit geschnuppert.“

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