Seite 32-33 - DNB_Leseraum_FINAL

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repräsentiert ist. Aus dem Gewühl meiner Gedanken, oder auch
aus der Klarheit des Überlegten, versuche ich herauszufltern
und schriftlich festzuhalten, was ich eigentlich meine. Dabei
wird mir immer schmerzlich bewusst, dass das, was ich ver-
schriftliche, nicht mehr das ist, was es in mir gedacht hat.
Die Schreiboberfäche gibt einen Rahmen vor, der mich in
unangenehmster Weise einschränkt und meine Gedankenbahn
auf bestimmte Wege zwingt. Besonders belastend ist, dass sich
oft der potenzielle Leser in meine Vorstellungwelt drängt und
ich damit nicht mehr frei bin, etwas so zu sagen, wie ich es
eigentlich meine. Also: Was ein Leser jetzt liest, das bildet nicht
mehr ab, was es ursprünglich in mir gedacht hat. Doch die An-
gelegenheit muss noch weiter problematisiert werden. Wie zuvor
angedeutet, wird mir selbst nur eine Teilmenge dessen bewusst,
was es in mir denkt. Es ist sehr gut möglich, dass die wirklich
guten Gedanken sich weigern, an die bewusste Oberfäche zu
kommen. Ich bin meiner eigenen Dummheit ausgeliefert, die
sich darin zeigen kann, dass es tatsächlich dumm ist, was ich
schreibe, oder dass es zumindest klüger sein könnte. Was ich
also schriftlich festlege, ist bereits mehrere Stufen entfernt von
dem, was vielleicht mitteilenswert war. Jetzt springe ich in die
Situation des Lesenden: Ich trete jedes Mal mit meiner Erfah-
rungswelt an den Text heran, den ich lese; ich lese nicht mehr
das, was geschrieben ist, sondern ich lese das Geschriebene
in meinen vorgegebenen Rahmen hinein. Dieser Rahmen ist
gekennzeichnet durch meine Erwartungen, Einstellungen und
Vorurteile. Kein gelesener Text ist auf einer „tabula rasa“ re-
präsentiert; alles wird in vorgefasste Schablonen hineingelesen.
Ich lese also etwas ganz anderes, als der Schreibende schreiben
wollte.
Nun gibt es natürlich verschiedene Formen des Lesens. Was ich
gerade zu formulieren versucht habe, bezieht sich auf Texte, in
denen eine Sinnentnahme verlangt wird, wie bei einem wissen-
schaftlichen Text, der Zeitungslektüre oder auch einer philo-
sophischen Analyse. Auch naturwissenschaftliche Sachverhalte
unterliegen diesem Zwang der Verwandlung. Es kommt immer
wieder vor, dies gilt zumindest für die Lebenswissenschaften,
dass ein klarer experimenteller Befund dann, wenn er verschrift-
licht werden muss (denn schließlich müssen wir in der Welt
der Wissenschaft publizieren), seine Klarheit verliert oder eine
andere Klarheit gewinnt, nur weil er in Sprache verwandelt
werden muss. (Hier sei nebenbei bemerkt, dass der Zwang,
in einer anderen Sprache als der Muttersprache zu schreiben,
wie heutzutage in den Natur- und Lebenswissenschaften auf
Englisch, nicht nur eine Ausdrucks-Barriere errichtet hat, son-
dern auch die Denkwelt von vornherein einengt und aufgrund
eines basalen und somit standardisierten Vokabelschatzes des
Nicht-Muttersprachlers einen wissenschaftlichen „mainstream“
erzeugt sowie die emotionale Ankopplung des Gesagten und
Geschriebenen modifziert).
Eine andere Form des Lesens bezieht sich weniger auf die abs-
trakte Sinnentnahme aus einem Text, sondern darauf, dass sich
im Lesenden eigene Geschichten entfalten, die typischerweise
bildlich repräsentiert sind, wie in Gedichten, Novellen oder Ro-
manen. Hier werden ganz andere neuronale Prozesse angespro-
chen und es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass die Bildgenese
beim Lesen stärker mit Prozessen der rechten Gehirnhälfte, die
Sinnentnahme stärker mit Prozessen der linken Gehirnhälfte as-
soziiert ist. Diese Weise des Lesens führt natürlich dazu, dass die
innere Welt des Lesenden dem Schreibenden völlig entgleitet.
„Habent sua fata libelli“ – jeder liest seine eigene Geschichte.
Und zum Schluss: Wo sind meine 100.000 Stunden geblieben?
Warum habe ich so viel gelesen? Was ist in mir geblieben?
Wenn mir gesagt wird, ich lese beispielsweise Zeitungen (jeden
Tag etwa eine Stunde), um informiert zu sein, so ist das falsch:
Ich lese nicht des Wissens wegen, sondern um durch das Gele-
sene mich der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. „Wissen“ ist
nur das Vehikel für soziale Teilhabe. Ich lese also aus anderen
Gründen, als mir unterstellt wird.
Und dann eine besondere Peinlichkeit: Ich leide nicht nur an
der Sucht, zu lesen, sondern auch an der Sucht, Bücher zu
kaufen. Um mich herum haben sie sich angehäuft, wissenschaft-
liche Abhandlungen und schöngeistige Literatur. Viele habe
ich sogar gelesen. Bei wissenschaftlichen Büchern könnte ich
aber nicht mehr im Detail sagen, was in den Büchern steht. Ich
brauche für eine wissenschaftliche Abhandlung viele Stunden,
um dann in einer knappen Minute zu sagen, was drinsteht. Was
für ein Zeitverlust!
Bestimmte Bücher und vor allem Gedichte lese ich immer wie-
der, und ich muss bekennen, dass ich dies vorzugsweise in der
Nacht mache, um die Schlafosigkeit lesend zu überbrücken.
Die Lektüre wird mir zum Traumersatz, zur versuchten Flucht
aus der Ödnis des Alltäglichen. Doch hier gibt es eine Ein-
schränkung: Wenn ich das lese, was ich schon kenne, dann
fühle ich mich sicher, dann reduziert sich der Zeitverlust, und
ich kann mich in eine bekannte Fantasiewelt einspinnen, wäh-
rend ein Buch zu lesen, dessen Inhalt mir noch unbekannt ist,
das Risiko mit sich bringt, meine Zeit mit etwas Nutzlosem
zu vergeuden. Und warum Gedichte? Weil sie mich mit weni-
gen Worten in Lebenssituationen hineinversetzen, die mir aus
eigener Erfahrung bekannt sind, und so die Fremdheit in der
Welt zu überwinden helfen. Aber dann muss ich die Gedichte
auswendig lernen, ich muss sie sprechen können und sie in
mir hörbar machen. Das schriftlich niedergelegte Gedicht muss
wieder zur gesprochenen Sprache zurückkehren. Nur Gedichte
können entschuldigen, dass die Schrift erfunden wurde.
PROF. ERNST PÖPPEL
Der Sinnesphysiologe und Psychologe war von 1976
bis 2008 Professor für Medizinische Psychologie an der
Universität München.
Nun aber zu den negativen Aspekten des Lesens: Was habe ich
in meinem irdischen Sein verloren, weil ich gezwungen wurde,
vor vielen Jahrzehnten lesen zu lernen? Da ich kriegsbedingt
sehr spät eingeschult wurde, erst mit sieben Jahren, erinnere
ich mich noch sehr gut daran, wie ich „unbelesen“ mit ofenen
Augen und Ohren durch die Natur schweifte. Und nun? Der
Blick in diese Welt ist durch Lesen erheblich eingeschränkt
worden. Der ursprüngliche Blick ist verloren gegangen und
ersetzt worden durch eine mittelbare Betrachtung. Für die
feinen Unterschiede, die sich mir
optisch darbieten, bin ich weniger
empfndlich geworden. Eigentlich
gehe ich verblindet durch die Welt,
abgestumpft für den Reichtum des-
sen, was sich in meinem Gesichts-
feld zeigt. Ich erkenne die Farben,
doch ich erlebe sie nicht mehr.
Die Fokussierung auf das artif-
ziell Visuelle beim Lesen hat des
Weiteren dazu geführt, dass meine
Sensitivität für Reize in den ande-
ren Sinnen vernachlässigt wurde. Das Visuelle ist dominant
geworden, und das Auslesen von Informationen beim Hören,
Tasten, Riechen, Schmecken oder Sich-Bewegen zieht weniger
Aufmerksamkeit auf sich. Zu der sekundären Verblindung durch
artifzielle optische Reize beim Lesen kommt die Abstumpfung
mit einer geringeren Empfndlichkeit für das hinzu, was es sonst
noch in der Welt um mich gibt. Die Antennen, die in die Welt
hineinragen, nämlich unsere Sinne, erschließen nicht mehr den
Reichtum der Welt, wie sie es in meiner frühen Kindheit taten
und wie ich es bei unbelesenen Menschen im Urwald erlebt
habe. Somit lebe ich jetzt in einer virtuellen Welt, weil ich die
Potenziale nicht mehr nutze, die mir von Natur aus mitgege-
ben wurden. Wenn wir heutzutage beklagen, dass wir durch
technologische Entwicklungen zunehmend in virtuellen Welten
leben, so muss ich feststellen, dass dies für mich längst der Fall
ist, nur weil ich ein Lesender bin. Ich bin zu einer Karikatur
meiner selbst geworden, nur weil ich dem Zwang des Lesens
ausgeliefert wurde.
Die Sucht des Lesens, denn es handelt sich medizinisch betrach-
tet um eine Sucht, führt weiterhin dazu, dass ich der wirklichen
Wirklichkeit entfiehe. Meist wird es positiv gesehen, dass ich
mir meine inneren Welten aufbauen kann, und ich erinnere
mich gut an die vielen eigenen Fluchtversuche, indem Fanta-
siewelten durch die Lektüre von Karl May aufgebaut wurden.
Was für ein Zeitverlust, sich nicht der Wirklichkeit zu stellen,
sondern der Welt zu entfiehen und sich autistisch in fremde
Welten einzuschließen! Man mag es positiv sehen, dass man
durch Lektüre auf der Suche nach dem eigenen Selbst ist, dass
man seine personale Identität in den Geschichten anderer zu
fnden sucht. Aber ist das der einzige oder der beste Weg? Mir
scheinen leibliche Herausforderungen eine sehr viel bessere
Alternative zu sein, in Lust und Schmerz an die Grenzen der
eigenen Erfahrungsmöglichkeiten herangeführt zu werden. Die
wirkliche Erfahrung baut ein inneres Museum im episodischen
Gedächtnis auf, dessen Besuch ein Leben lang die personale
Identität garantiert, während das Lesen im nur Möglichen bleibt
und die Wirklichkeit lediglich gestreift wird.
Vor Kurzem wurde ich bei einem Besuch in der arabischen
Welt durch die Tatsache überrascht, dass mein Gesprächspartner
noch sehr genau wusste, was wir vor einigen Jahren bei einem
Treffen miteinander gesprochen
hatten. Es war mir außerordent-
lich peinlich, mich nicht mehr an
durchaus wichtige Details unseres
Gesprächs zu erinnern. In manchen
Kulturen, und hierzu gehören of-
fenbar arabische Kulturen, sind
Pfege und Verlässlichkeit des Ge-
dächtnisses von großer Bedeutung.
Aufgrund der Tatsache, dass ich
Informationen textlich abspeichern
kann, habe ich mein Gedächtnis
vernachlässigt. Ich verlasse mich
jetzt darauf, dass alles, was ich wissen muss, irgendwo zu fn-
den sein wird. Das ist teilweise richtig, aber nur teilweise. Die
schriftliche Fixierung des Gesprochenen und dessen, was sich
sonst noch in einer unmittelbaren Kommunikation abspielt,
fängt den Augenblick nicht ein. Wenn ich meine, dass mein
Wissen eigentlich nur explizites Wissen sei, das sich in der
Sprache widerspiegelt, dann irre ich mich, und auch so mache
ich mich zur Karikatur meiner selbst.
Menschliches Wissen erscheint in drei Weisen, wenn man bereit
ist, im kulturellen Diskurs Erkenntnisse der Hirnforschung zu
berücksichtigen. Es erscheint einmal in der Tat als explizites,
sprachlich gebundenes, semantisch verfügbares Wissen, das
schriftlich mitteilbar geworden ist, dann aber in gleichwertiger
Weise als bildliches Wissen, das sich einer anstrengungslosen
sprachlichen Etikettierung entzieht, und dann auch als impli-
zites oder intuitives Wissen, das jenseits der Sprache liegt. Was
ich lese, repräsentiert also nur eine Teilmenge dessen, was mein
Wissen sein könnte. Die Dominanz des expliziten Wissens,
das sich einer Verschriftlichung anbietet, unterdrückt gleich-
sam verborgene Potenziale der persönlichen Entfaltung. Es ist
eine Tragik des Rationalismus, die Defnition der personalen
Identität über explizite Bewusstseinsinhalte vorzunehmen. Statt
zu sagen: „Ich denke“, sollte ich besser sagen: „Es denkt“; das
schlichte Wort „Einfall“ bestätigt, dass kognitive Prozesse im-
plizit ablaufen, bei Gelegenheit bewusst werden und damit eine
Außenperspektive zu mir selbst erlauben.
Wie problematisch das Lesen ist, wird mir besonders als Schrei-
bender bewusst. Um die Schlussfolgerung vorwegzunehmen:
Ich lese nicht mehr das, was jemand in seinem Schreiben mit-
zuteilen versucht hat. Wenn ich etwas schreibe, wie diesen Text
hier, dann „schreibe“ ich nicht „ab“, was in meinem Bewusstsein
Grob geschätzt
habe ich in meinem
Leben bisher 100.000
Stunden gelesen.
Hat sich das gelohnt?

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