Seite 30-31 - DNB_Leseraum_FINAL

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Wer könnte daran zweifeln, dass das Lesen eine der großartigsten
Entdeckungen oder Erfndungen der Menschheitsgeschichte ge-
wesen ist? Lesen ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir
uns nicht mehr darüber wundern, was für einzigartige Leistungen
des Gehirns damit verbunden sind. Um sich dies noch einmal
vorzustellen: Menschen vor unserer Zeit entdeckten, dass es in
der gesprochenen Sprache Regelmäßigkeiten gibt, die geeignet
sind, durch visuelle Symbole verbildlicht zu werden. So ent-
standen Buchstabenschriften; und es wurden Piktogrammschrif-
ten wie die Hieroglyphen oder die chinesischen Schriftzeichen
entwickelt, die in einer analogen Weise das gesprochene Wort
festhalten. Was geschieht beim Lesen? Der Blick gleitet über
eine Zeile, wobei im Durchschnitt drei bis vier Blicksprünge
notwendig sind, um den Sinn des Geschriebenen zu erfassen,
und man hat den Eindruck, als gleite der Blick kontinuierlich
über Buchstaben oder Schriftzeichen. Dies ist eine nützliche
Illusion, weil damit eine Fokussierung auf den Gehalt des zu
Lesenden möglich wird. Und ein weiteres Merkmal, das es neben
vielen anderen hervorzuheben gilt: Wir müssen beim Lesen nicht
mehr laut sprechen, wie es ursprünglich der Fall war, sondern der
Prozess des Lesens ist vollständig verinnerlicht (bei den meisten
zumindest); wir lesen mit einer nicht hörbaren Sprache.
So bedeutsam das Lesen für die kulturellen Entwicklungen in
Ost und West gewesen ist, so sehr sind damit aber auch Kosten
verbunden, über die man sich meist keine Gedanken macht.
Auf einige dieser Kosten möchte ich hinweisen. Es ist eine gute
Übung in den Wissenschaften, wenn man sich (wann immer
technisch möglich) selbst zum Experiment macht. Ich schreibe
aus der Innenperspektive, was mir als Individuum geschehen
ist, dass ich als junger Mensch lesen lernen musste. Dabei gehe
ich davon aus, dass ich keine Singularität bin, sondern dass die
Beobachtungen, wenn nicht für alle Lesenden, so doch für die
meisten gelten.
Grob geschätzt habe ich in meinem Leben bisher 100.000 Stun-
den gelesen. Eine unglaubliche Zeitspanne, die mein Leben mit
einer artifziellen Tätigkeit besetzt hat. Hat sich das gelohnt? Was
habe ich damit gewonnen? Meist wird das Lesen als Kulturtä-
tigkeit verherrlicht, doch was habe ich dadurch verloren, dass
ich ein Lesender bin? Von Natur aus sind Menschen nicht so
gemeint, dass sie einmal lesen müssen. Unser genetisches Reper-
toire ist hierfür nicht vorgesehen. Um zu lesen, müssen bestimm-
te Areale des Gehirns zweckentfremdet werden, die eigentlich für
etwas anderes vorgesehen waren. Hart gesagt, wird das Gehirn
durch Lesen vergewaltigt. Positiv ausgedrückt ist die Tatsache,
dass wir überhaupt lesen können, ein Beweis dafür, dass unser
Gehirn außerordentlich anpassungsfähig ist, dass also tatsächlich
eine solche Zweckenfremdung stattfnden kann. Diese Plastizität
des Gehirns ist durch einen weiteren bemerkenswerten Sachver-
halt gekennzeichnet: Gleichgültig, ob wir eine Alphabet- oder
Piktogrammschrift lesen, immer werden die gleichen Areale des
Gehirns zweckentfremdet (insbesondere ein umschriebener Be-
reich auf der linken Seite des Hinterhauptregion).
g
LESEN IST
ZEITVERSCHWENDUNG
Gute Bücher sind ein Segen. Doch das Lesen kann auch zum
Fluch werden. Denn es birgt eine nicht zu unterschätzende Suchtgefahr,
vergewaltigt das Gehirn und kostet unendlich viel Zeit ­– meint
Ernst Pöppel, Hirnforscher und erklärter Bücherfreund.
TEXT: ERNST PÖPPEL

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