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NICHT
ZUGÄNGLICH
Das Stichwort „Bibliothek 3000“ und die Bitte um eine Kurzgeschichte.
Diesmal schreibt der Romancier Sreten Ugričić über ein Land, in dem
die Diktatur des Matriarchats herrscht, Manuskripte versteckt werden
und eine Ohrfeige einen Volksaufstand auszulösen vermag.
ILLUSTRATIONEN: ANDREA RUHLAND ÜBERSETZUNG: Maša Dabić
Wenn du diese Geschichte liest, geschieht das Unmögliche. In
der Diktatur des Matriarchats liest niemand. Noch zu Zeiten
der Gründermütter wurde ein Tabu des Vergessens aufgestellt,
denn das Vergessen der Katastrophe und ihrer Folgen war
die erste Voraussetzung für das Überleben. Unter Katarina II
kann nur noch eine Frau in unserem Land lesen und schreiben,
das ist S., das bist nicht du. Wenn du dennoch liest – wer bist
du? Wenn ich dennoch schreibe – wer bin ich? Namen sind
Worte, die wir nicht aussprechen dürfen.
Vielleicht kennst du P., die Mathematikerin. Ist es wahr, dass
sie das Theorem des ofenen Kreises gelöst hat, aber ihre Ent-
deckung nicht aufschreiben wollte? Wenn du P. nicht kennst,
dann hast du vermutlich zumindest von ihrem Zwillingsbruder
H. gehört, dem Musiker. Würden wir in unserem Land ein
Geburtsverzeichnis führen, könnte man nachprüfen, ob P. und
H. Geschwister sind. Vielleicht gibt es solche Aufzeichnun-
gen sogar, aber sie sind nicht zugänglich. In der Diktatur der
Katarina II sind nur Totenscheine zugänglich. So bleibt das
Geheimnis gewahrt. Wenn du diese Geschichte liest, bist du
auch Teil des Geheimnisses. P., H., S., K., F., N. Ich werde dir
alles erzählen, was ich weiß. Über P. weiß ich nur, dass sie zu
behaupten pfegte, alle Annahmen seien falsch. Diese Einsicht
verfolgt mich. Vielleicht weißt du über Mathematik mehr als
ich. Was ist mit Musik, berührt sie dich, was hörst du? H. sagte
einmal, Musik und Mathematik kämen aus der Stille heraus.
Seine Musik liegt irgendwo im Wald vergraben, oder auf einem
Berg, oder am Strand, oder in einem Haufen Heu in einer auf-
gelassenen Kolchose, oder in der Höhle hinter dem Wasserfall,
oder im Fundament der Möbelfabrik, oder in den Ventilati-
onsleitungen, oder in den Stiefeln in der Schuhschachtel in der
Soldatentruhe im Panzer im Schützengraben, überschüttet mit
Lava, das alle hundertfünfzig Sekunden ausbricht.
So verschwand H.s beliebte Musik. Es war still, still und reglos.
Es wirkte unmöglich, aber genau so geschah es. Unerwartet und
schmerzlos. In dieser Stille war der Trost unendlich. Einschmei-
chelnd, aber unberührbar. Immer bei uns, aber allein. Groß.
Groß ist die Stille des Trostes. Mit diesem Verschwinden, mit
dieser Rückkehr in die Stille, kehrte alle Musik dorthin zurück,
wo sie hergekommen war. In der Diktatur des Matriarchats gibt
es nichts Musikalisches, keinerlei Vertrauen zum Leben und zu
den Frauen und zu den basischen Wäldern, nichts, das auch
nur ansatzweise begeistern könnte, nichts, das entblößt wahr-
haftig wäre. Wie kann ein Volk ohne Musik leben?
Jeden Winter wächst fuoreszierender Schnee aus der Erde.
Saurer Regen stürzt aus dem Himmelsschlund herab. Die
basischen Wälder sind wüst und breiten sich geometrisch-pro-
gressiv aus. Werden sie uns eines Tages verschlucken? Wenn
g

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