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ÜBERSICHT
TROTZ FÜLLE
Welche „Räume“ braucht es, um Wissen gleichzeitig sammeln,
ordnen und zugänglich machen zu können? Wie zwischen dem Bestand
und den Nutzern vermitteln? Ein Essay der Wissenschaftshistorikerin
Anke te Heesen über die Verheißung der Bibliothek des 21. Jahrhunderts.
ILLUSTRATION: NIKITA PIAUTSOU-REHFELDT
Als die Fotokünstlerin Candida Höfer im Laufe der 1990er-
Jahre zahlreiche Bibliotheken auf der ganzen Welt fotogra-
ferte, schuf sie – aus heutiger Sicht – kleine Ikonen. Die von
ihr so genannten „Leseräume“ zeigen Bibliothekszimmer, Ka-
binette und Säle, die, so verschieden sie sind, sich in einem
immer gleichen: Der Betrachter erkennt Regale voller Bücher
und die dazu gruppierten, in einem scheinbar natürlichen
Verhältnis stehenden Lesearbeitsplätze, mit und ohne Com-
puter. Mal sind größere, mal kleinere Tische zu sehen, ganze
Tischreihen mit einheitlicher Beleuchtung, Stühle, die wie
eben verlassen wirken und von getaner Denkarbeit zeugen.
Unter den Leseräumen fnden sich auch Abbildungen der
Deutschen Nationalbibliothek, damals noch „Deutsche Bü-
cherei“ (Leipzig) und „Deutsche Bibliothek“ (Frankfurt am
Main). Hier wie dort dominieren weitläufge Bücherwände
und Arbeitsplätze in Reihen.
Manche der von der Künstlerin fotograferten Räume exis-
tieren heute in dieser Form nicht mehr und ihre Bilder sind
deshalb eine Archäologie dessen, was in den 1990er-Jahren
als „Räume des Wissens“ Eingang in die Forschung fand.
Dies war der Zeitpunkt, als man die Bedeutung von Wissens-
orten entdeckte und für die in ihnen ausgeübten Tätigkeiten
sensibilisiert wurde: Bibliotheken und Naturalienkabinette,
Museumsdepots und Archivräume waren die selbstverständ-
lichen und vertrauten Sammlungsplätze, die uns aufmerken
ließen. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten. Mit der
Entstehung umfassender digitaler Speicher, der Digitalisie-
rung ganzer Bestände, büßten die Ordnungen des Wissens
ihre dreidimensionale Räumlichkeit ein, wurden Bücher wie
Objekte zu fachen Bildschirmoberfächen. In dem Moment,
als diese Räumlichkeiten aufösbar erschienen und man den
Eindruck gewinnen konnte, alle Bücher der Welt könnten auf
einem einzigen gigantischen
stick
Platz fnden, entstanden
Fotografen wie die von Höfer und führten uns in die materi-
elle Kultur des Wissens ein. So in Distanz gesetzt zu unserer
Umgebung wurde deutlich, wie sehr unser Wissen von der
Handhabbarkeit und Zugänglichkeit der Räume und Objek-
te geprägt ist. In das Zentrum des Interesses rückte dabei
eine Tätigkeit, die mit diesen Orten unaufösbar verbunden
ist, das Sammeln. Zunächst erschien das Sammeln als eine na-
hezu banale Handlung, nicht weiter untersuchenswert. Doch
schnell wurde deutlich, dass Sammeln eine Geschichte be-
sitzt und mehr involviert als die bloße Anhäufung von Ob-
jekten: Finden und Aufsammeln, Ordnen und Einräumen.
Die Sammlungsgeschichte wurde gebündelt durch einen Blick
in die frühneuzeitlichen Räume der Kunst- und Wunder-
g

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