B. Grundsätzliche Überlegungen
Die Informationsgesellschaft bietet dem einzelnen Bürger wie der Wissenschaftsgemeinschaft verbesserte und erweiterte Möglichkeiten der Informationsgewinnung, indem sie neue technologische Verfahren und Medien für die Speicherung und Vermittlung von Informationen einbezieht. Im konventionellen Umfeld spielen die Bibliotheken traditionell eine Schlüsselrolle für die Bewahrung, Erhaltung, Erschließung und Vermittlung von Wissen und Information. Die digitalen Medien verändern diese Rolle der Bibliotheken nicht grundsätzlich, im Gegenteil: Die Bibliotheken gewinnen eine Aufgabe von neuer Dimension hinzu als Lotsen durch die digitale Informationsflut und Vermittler von Medienkompetenz: als unentbehrliche Infrastruktureinrichtungen für die Informationsgesellschaft und den Informationsbürger.
Seit über hundert Jahren besteht internationale Übereinstimmung, daß persönliche geistige Leistungen geschützt werden müssen; die physische Form des Werkes spielt dabei keine Rolle. Daher unterliegen auch digitale Werke dem Schutz des geistigen Eigentums. Dieses Schutzrecht wird von den Bibliotheken ausdrücklich anerkannt und unterstützt. Ein der Öffentlichkeit zugänglich gemachtes Werk ist aber durch seine Veröffentlichung Teil der Gesellschaft und insofern Gemeineigentum geworden. Die Kenntnisnahme des Werkes ist ein demokratisches Grundrecht jedes Mitglieds der Gesellschaft, wie es in den Verfassungen der europäischen Länder verankert ist. In internationalen Verträgen wurde die Informationsfreiheit als Menschenrecht bestätigt.
Der Zugang zu einem Werk ist noch keine Verwertung seines Inhalts, die legitim dem Urheber zusteht. Eine schrankenlose Nutzung des Werkes würde den Schutz des geistigen Eigentums verletzen. Aber im Interesse der Allgemeinheit und ihres Rechtsanspruchs auf Informationsfreiheit kann der Urheber nicht unbeschränkt über sein geistiges Eigentum verfügen; dieses unterliegt auch dem Sozialstaatsprinzip. Daher muß ein gerechter Ausgleich zwischen den Rechten der Bürger und den Rechten der Urheber gesucht werden. Diese Forderung gibt die Revidierte Berner Übereinkunft von 1886 vor, sie wurde im Grünbuch der EU-Kommission "Urheberrechte und verwandte Schutzrechte" von 1995 aufgegriffen sowie weltweit durch den WIPO-Copyright-Vertrag von 1996 bestätigt und auf die digitalen Werke ausgedehnt.
Der Richtlinien-Vorschlag relativiert allerdings diesen Konsens insofern, als er im Erwägungsgrundsatz 21 nur einen "angemessenen Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von geschützten Gegenständen" vorsieht. Die grundlegenden, verfassungsmäßigen Rechte des einzelnen Mitglieds der Gesellschaft sind somit verkürzt auf die Rechte von "Nutzern"; der Zugang zu Information wird implizit mit deren (die Rechtsinhaber schädigenden) Nutzung gleichgesetzt. Die wirtschaftlichen Interessen der Rechtsinhaber dominieren eindeutig die Interessen der Allgemeinheit; die volkswirtschaftlichen Folgen des nicht oder unterinformierten Teils der Gesellschaft bleiben bei dieser Betrachtungsweise allerdings unberücksichtigt.
Die Europäische Union ist zumindest grundsätzlich eine Wirtschaftsgemeinschaft, deren Ziel es ist, ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes - auch in Hinblick auf Urheberrechtsprodukte - zu ermöglichen. Dieser Intention entspricht der Richtlinienvorschlag ausdrücklich (Erwägungsgrundsätze 6, 10, 21 u.a.). Die kulturelle und gesellschaftliche Verpflichtung der Urheber und der weiteren Rechtsinhaber sollte stärker berücksichtigt werden.
Im Erwägungsgrundsatz 10 wird festgestellt, daß laut Art. 128 EG-Vertrag "die Gemeinschaft bei ihrer Tätigkeit den kulturellen Aspekten Rechnung zu tragen" hat, wobei hier vorrangig der angemessene Schutz von von geistigem Eigentum gemeint ist; dieser Artikel enthält aber unter Abs. 2 auch die Bestimmung, "Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung" und den "nichtkommerziellen Kulturaustausch" zu unterstützen und zu fördern - hier sind die Aufgabenfelder von Bibliotheken und ähnlichen Einrichtungen angesprochen. Der Richtlinien-Vorschlag steht jedoch dieser Absicht eher entgegen, als daß er sie unterstützt, indem er digitale Schutzgegenstände von freiem Zugang abkoppelt und an den Abschluß von Lizenzverträgen bindet, für die nicht nur die Bibliotheken, sondern auch die einzelnen Nutzer Zahlungen zu leisten haben. Damit wird nicht nur die Verhandlungsposition der Rechtsinhaber ungleichgewichtig verstärkt und zugleich die Herausbildung von Informationsmonopolen gefördert, sondern auch die Entstehung "neuer Ungleichheiten zwischen denjenigen, die über Informationen verfügen, und denjenigen, die nicht darüber verfügen" begünstigt, also die "Stärkung des sozialen Zusammenhalts" laut EU-Grünbuch "Leben und Arbeiten in der Informationsgesellschaft: Im Vordergrund der Mensch" von 1996 geschmälert.
Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Computerprogramm-Richtlinie und der Vermiet- und Verleihrecht-Richtlinie von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Ausnahmen für das Verleihen durch öffentliche Bibliotheken vorzusehen. Die von der Softwareindustrie massiv erhobene Forderung, über das Vermietrecht hinaus auch ein Verleihrecht für Computerprogramme einzuführen, konnte jedoch nur durch die Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Bibliotheksverbände abgewendet werden. Danach verzichten die deutschen Bibliotheken auf die freie Ausleihe von Computerprogrammen, "bei denen eine besondere Gefahr besteht, daß sie unerlaubt kopiert werden und den Berechtigten dadurch ein nicht unerheblicher Schaden entsteht" (insbesondere Systemsteuerungs- und Standard-Anwendungsprogramme).
Das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz, ergangen in Umsetzung der Datenbank-Richtlinie, gestattet das zustimmungsfreie Kopieren aus elektronischen Datenbanken nur noch zum wissenschaftlichen Gebrauch, soweit damit kein gewerblicher Zweck verbunden ist. Unabhängig davon, ob die Datenbank die Kriterien für einen Urheberrechtsschutz erfüllt, wurde den Datenbankherstellern ein Leistungsschutzrecht (sui generis) eingeräumt, welches dem Hersteller für eine Datenbank - "deren Beschaffung , Überprüfung oder Darstellung eine wesentliche Investition erforderte, das (- wenn auch mit Ausnahmen -) ausschließliche Recht (zubilligt), die Datenbank insgesamt oder einen nach Art oder Umfang wesentlichen Teil der Datenbank zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich wiederzugeben". Da die Erwerbung und Nutzung von elektronischen Bibliotheksbeständen künftig nur noch auf lizenzvertraglicher Grundlage erfolgen soll, ist für den Bibliotheksbenutzer zwar die normale Auswertung (Zugang und Vervielfältigung) im Rahmen der Lizenzbestimmungen gewährleistet. Die finanziellen Auswirkungen, die § 55a und § 87 e UrhG nach sich ziehen, führen jedoch dazu, daß die Bibliotheken ihren Nutzern Datenbanken nur in eingeschränktem Maße zur Verfügung stellen können.
Die Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände vertritt den Standpunkt, daß der Richtlinien-Vorschlag unter Berücksichtigung der genannten kulturellen und sozialen Aspekte insofern revidiert werden sollte, als die Schranken des geistigen Eigentums einheitlich für die europäischen Länder festgelegt werden sollten mit dem Ziel, freien Zugang zu Information und ihre nichtkommerzielle Nutzung einschließlich Vervielfältigung zu privaten Zwecken sowie für Bildung und Wissenschaft zu ermöglichen. Die Bibliotheken in ihrer Funktion als Bewahrer und Vermittler von Information können nur dann ihren Aufgaben für die Gesellschaft auch im Zeitalter der digitalen Information gerecht werden, wenn der Interessenausgleich gegenüber den Rechtsinhabern wieder ausbalanciert wird.
C. Formulierungshilfen
Die folgenden Formulierungshilfen befinden sich ausnahmslos in Übereinstimmung mit den Ausnahmegrundsätzen der Revidierten Berner Übereinkunft, insbesondere mit Art. 9, sowie mit den international anerkannten Prinzipien der WIPO. Dabei kommt dem neu zu definierenden Interessenausgleich zwischen Produzenten und Nutzern im digitalen Umfeld ein besonderer Stellenwert zu. Ziel muß es sein, alle Maßnahmen auszuschließen, die eine ungehinderte innovative wirtschaftliche Entwicklung in der Informationsgesellschaft - so auch den Zugang zu Information durch den Bürger - unangemessen behindern.
Das Sichtbarmachen, der Zugang zu Information und Bildung ist eine Grundvoraussetzung. Nutzungshandlungen, wie das Kopierrecht zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch, sind als Ausnahmetatbestände zu regeln. Dabei sind klare Definitionen, z.B. von unwesentlichen und wesentlichen Teilen zu unterschiedlichen Konditionen zu sanktionieren. Das deutsche Urheberrecht hat dabei in seinem § 53 UrhG für Print- u.a. Medien bislang sehr differenziert Stellung bezogen. Hier sollte der Ansatz für eine harmonisierte Regelung im digitalen Umfeld i.V.m. Elementen des anglo-amerikanischen "fair use" im Allgemeininteresse ansetzen.
1) Erwägungsgrundsatz 21
2) Art. 1
3) Art. 5.2:
4) Art. 5.2.c:
5) (neu) Art. 5.2.d:
6) Kommentar zu Art. 5:
Im 1. Kapitel des Kommentars werden unter Ziff. 3 lediglich Hinweise auf die unharmonischen Ausnahmetatbestandsregelungen in den einzelnen nationalen Gesetzgebungen aufgezählt, die weder dem Dienstleistungscharakter der öffentlich zugänglichen Informationseinrichtungen wie Bibliotheken wiedergeben noch ihre Tätigkeit im Sinne der Allgemeinheit verdeutlichen. Hier wäre eine eindeutige Positionierung der EU-Kommission zu einheitlichen Ausnahmetatbeständen im Allgemeininteresse wünschenswert.
Im 2. Teil der Begründung zum Richtlinien-Vorschlag (Kommentar zu Art. 5, Abs. 7) heißt es, das "Sichtbarmachen auf dem Bildschirm" sei Teil der "öffentlichen Wiedergabe".
Das "Sichtbarmachen auf dem Bildschirm" ist im digitalen Umfeld vergleichbar mit dem Betrachten eines Buches durch einen Bibliotheksbenutzer in der Bibliothek; dafür braucht er nicht die Erlaubnis durch den Urheber, weil die Überlassung schon durch gesetzliche Erlaubnis vorgenommen wird. Unter diesem Gesichtspunkt enthält der Kommentar zur Begründung unter Art. 5 eine irrige Interpretation des Vorgangs der Sichtbarmachung. Wenn es schon für nötig gehalten wird, hier einen neuen Sachverhalt einzuführen, sollte er wenigstens begleitet werden von entsprechenden Ausnahmen für private, Bildungs- und Forschungszwecke sowie für anderen sonstigen eigenen Gebrauch, soweit sich diese im Einklang mit dem "Drei-Stufen-Test" befinden. Das Sichtbarmachen von Information kann nicht allein auf dem Lizenzweg geregelt werden, ohne den Zugang zu Information gravierend für die Allgemeinheit zu beeinträchtigen. Die Bürger sollten elektronische Materialien in ihren Bibliotheken, Archiven und Museen betrachten und konsultieren können, wie sie eine Buch lesen können, ohne dies vom Urheber genehmigen lassen zu müssen. Unter Berufung auf "die Möglichkeit, Ausnahmen vom ausschließlichen Recht für die Ausleihe vorzusehen, wie sie im Art. 5 der Richtlinie zum Vermiet- und Verleihrecht geregelt sind" ist dieser Ausnahmetatbestand im Interesse einer breiten gebildeten und qualifizierten Gesellschaft auch in die vorliegende Richtlinie einzuarbeiten. Der Begriff "Communication to the public" kann nicht mit dem bereits klar definierten Begriff "Öffentlichkeit" bewertet werden, sondern vielmehr mit dem Begriff "Allgemeinheit".
7) Art. 5.3.a:
8) Art. 5.3.b:
9) Art 6:
D. Schlußfolgerungen
Der Richtlinien-Vorschlag über die "Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts ..." soll den in den EU-Ländern bestehenden Rechtsrahmen für das neue technologische Umfeld der Informationsgesellschaft ergänzen und anpassen. Zielsetzung der Richtlinie ist die Schaffung eines einheitlichen Marktes in Beziehung auf Urheberrecht und verwandte Schutzrechte. Zentrale Bedeutung für die Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen haben die Bestimmungen zum Vervielfältigungsrecht, zum Verbreitungsrecht und zum Recht der öffentlichen Wiedergabe. Der Richtlinien-Vorschlag sieht vor, diese Rechte als ausschließliche Rechte zugunsten der Rechtsinhaber festzuschreiben.
Die für Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen vorgesehenen Ausnahmebestimmungen sind zu eng gefaßt. In Folge unterliegt künftig die Nutzung digitaler Werke durch und in Bibliotheken erheblichen Einschränkungen, die nur über die Mechanismen von Lizenzvereinbarungen/Verträgen zwischen Informationsanbietern und Informationsnutzern aufzuheben sind. In diesem Mechanismus befinden sich Bibliotheken und Informationsanbieter keinesfalls in einer gleichwertigen Verhandlungsposition. Im Interesse der Allgemeinheit sollte der Richtlinien-Vorschlag dahingehend revidiert werden, daß im Geltungsbereich der EU auf der Basis gesetzlicher Regelungen für Bibliotheken der umfassende freie, am Demokratie- und Sozialstaatsprinzip orientierte Zugang auch zu digitalen Informationen als Ausnahmen von den ausschließlichen Rechten ermöglicht wird.