1. Das Problem:
Die Rechtskommission des DBI wurde in letzter Zeit mehrfach gefragt, wie bei der Ausleihe von NS-Literatur in Bibliotheken zu verfahren, ob es im besonderen angängig sei, Hitlers "Mein Kampf" in einer Originalausgabe an Jugendliche auszuleihen. Auf ihrer Herbstsitzung 1993 befaßte sich die Kommission mit der Frage, und sie gab im Rahmen des üblichen Sitzungsberichts1) eine kurze Stellungnahme ab, die allerdings nicht als abschließend anzusehen war, mag auch ihr Wortlaut eine solche Vermutung nahelegen.
In den folgenden Ausführungen wird versucht, die Rechtslage im Hinblick auf die Ausleihe von nationalsozialistischer, neonazistischer, ideologisch-rassistischer und sonstiger antidemokratischer Literatur darzulegen; es geht also nicht um Rechtsfragen beim Erwerb derartiger Literatur, und es wird auch nicht sonstige eventuell straftatbestandsmäßige Literatur (zum Beispiel pornographischen oder beleidigenden Inhalts) behandelt.
Das Problem stellt sich natürlich nicht erst heute, es steht jedoch zu befürchten, daß auch Bibliotheken von den derzeit bedauerlicherweise vermehrt zu beobachtenden rechtsgerichteten Umtrieben in irgendeiner Weise berührt werden, so daß es sinnvoll erscheint, die gesetzlichen Bestimmungen in Erinnerung zu bringen.
Erstmals ausführlicher mit Ausleihbeschränkungen bei tatbestandsmäßiger Literatur befaßte sich 1971 eine Assessor-Arbeit am damaligen BLI in Köln2), auf der Grundlage dieser Ausführungen diskutierten Bibliotheksjuristen und Professoren3) die Frage, im Auftrag des DBV erarbeitete Meurer 1981 ein umfassendes Rechtsgutachten4), und 1988 veröffentlichten mehrere Kollegen in Nordrhein-Westfalen eine für den praktischen Bibliotheksbetrieb gut brauchbare Darstellung eines Teilaspekts5).
2. Informationsfreiheit und Zensur:
Jede Art von Ausleihbeschränkung widerspricht per se der in Art. 5 Grundgesetz (GG) garantierten Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit und gerät in bedrohliche Nähe des zuweilen vorschnell verwendeten Begriffs der Zensur.
Voraussetzung der in Art. 5 GG erwähnten Meinungsäußerungsfreiheit stellt die Freiheit dar, sich zu informieren zwecks Bildung einer eigenen Meinung. Dies bedingt wiederum die Möglichkeit der freien Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen, die auch und in besonderem Maße in öffentlichen Bibliotheken zu finden sind. Diese haben daher im Prinzip ihre Bestände ungehindert zur Verfügung zu stellen und Ausleihbeschränkungen nur in engen Grenzen zu verhängen. Wann solche zulässig, aber auch geboten sind, läßt sich aus dem weiteren Wortlaut von Art. 5 GG entnehmen, in dem gesagt wird, daß - da eben kein Recht und kein Grundrecht schrankenlos gelten kann - das Grundrecht auf Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit seine Schranken findet in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Die genannten Normen sind selbstverständlich auch für den Bibliothekar zwingend, will er sich nicht mit strafrechtlichen Sanktionen und zivilrechtlichen Haftungsansprüchen konfrontiert sehen, und sie geben ihm Anlaß, gewisse Beschränkungen in der freien Zugänglichkeit zu den Beständen seiner Bibliothek zu verfügen, was natürlich nicht die Ausübung von Zensur bedeutet, mag dies sogar auch von Kollegen unzutreffenderweise zuweilen so gesehen werden6).
Für unsere Fragestellung einschlägige Normen enthält das "Strafgesetzbuch"(StGB) und das "Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften" (GjS).
3. Bestimmungen des StGB:
Die hinsichtlich NS-Literatur relevanten Bestimmungen sind die §§ 86 und 131.
§ 86 stellt das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen einschließlich solcher, die Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortsetzen, unter Strafe, gemäß § 131 ist die Verbreitung von Schriften strafbar, die zum Rassenhaß aufstacheln oder Gewalttätigkeiten gegen Menschen durch die Art ihrer Darstellung verherrlichen oder verharmlosen. Daneben seien noch erwähnt der § 80a, nach dem die Verbreitung von Schriften, die zum Angriffskrieg aufstacheln, strafbar ist, sowie § 166, der das Verbreiten von Schriften, die eine Kirche oder Religionsgemeinschaft in einer Weise beschimpfen, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, unter Strafe stellt. Von geringerer Bedeutung sind die in diesem Zusammenhang noch zu nennenden §§ 90, 90a, 90b und 103, die sich mit Schriften verunglimpfenden Inhalts befassen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes7) bedeutet "verbreiten", eine Schrift einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen. Dazu genügt bereits die Aushändigung an eine Person, wenn sie die Schrift nicht vertraulich behandelt, sondern damit gerechnet wird oder werden muß, daß sie sie ihrerseits wieder weiteren Personen zuleiten werde. Ungeachtet aller gegenteiliger Vorschriften in Benutzungsordnungen läuft die Ausleihpraxis jedoch in diese Richtung und damit in die Unkontrollierbarkeit. In Rechtsprechung und Lehre ist anerkannt, daß die Ausleihe durch Bibliotheken den Verbreitungsbegriff im Sinne der vorerwähnten Tatbestände erfüllt8). "Verbreiter" sind wir ja von Berufs wegen alle", meint Jütte denn auch völlig zutreffend9).
Man mag versucht sein, dieses "Berichterstatterprivileg" von vornherein dem Bibliothekar zuzubilligen. Dies kann jedoch nicht zutreffen, wird doch zum einen der Sinn dieser Regelung von Juristen als "in verschiedener Hinsicht unklar", überhaupt sinnlos, und "praktisch leer" laufend bezeichnet10), "diente" zum anderen NS-Literatur weder zur Zeit ihrer Veröffentlichung sachlicher Information, noch "dient" sie heute bei Mißbrauch dessen, an den sie vom Bibliothekar ausgeliehen wird, der objektiven Berichterstattung, also der Information über historische Gegebenheiten. Stellt also der verbreitende Bibliothekar sicher, daß die an sich tatbestandsmäßige Schrift durch den Benutzer nicht mißbräuchlich, also lediglich im Sinne von Abs. 3 der beiden genannten Vorschriften verwendet wird, so "dient" seine Handlung "anerkannten Zwecken"11), und er kann das "Berichterstatterprivileg" für sich in Anspruch nehmen.
Bei § 131 wird eine derartige Unterscheidung nicht gemacht, zahlreiche antisemitische Schriften der NS-Zeit fallen damit unter diese Bestimmung15).
Die indizierten Schriften werden regelmäßig bekanntgemacht sowohl im Bundesanzeiger (rechtlich maßgebend) als auch im BPS-Report, einer von der Bundesprüfstelle herausgegebenen Zeitschrift. Für die Bibliotheken ist die Beachtung dieser Liste verbindlich, sie genügen der ihnen obliegenden Sorgfaltspflicht, wenn sie eine der beiden genannten Publikationen abonnieren und laufend auswerten. In Nordrhein-Westfalen dem HBZ-Verbund angeschlossene Bibliotheken erhalten auf Grund ihrer Meldungen an die HBZ-Datenbank Hinweise, wenn von ihnen indizierte Schriften angeschafft werden17).
Schon wegen der bekannten antisemitischen Ausführungen fallen viele Schriften der NS-Zeit unter diese Vorschrift, allen voran Hitlers "Mein Kampf" oder Rosenbergs "Mythus", in denen sich zum Rassenhaß ja bewußt aufstachelnde Bemerkungen wie "jüdisches Schmarotzertum" oder "typischer Parasit" aneinander reihen. Typisches Beispiel im Filmbereich ist Veit Harlans "Jud Süss" von 1940, der von Goebbels initiert wurde, um im deutschen Volk Haß und Abscheu gegen die Juden zu wecken oder zu stärken - und damit natürlich ebenfalls für Jugendliche "tabu" ist.
Aus dem Gesagten ergibt sich die Verpflichtung der Bibliotheken, NS-Literatur, deren Inhalt gegen die erwähnten gesetzlichen Bestimmungen verstößt, von der normalen Ausleihe auszuschließen, also zu sekretieren. Eine solche Sekretierung wird in den einzelnen Bibliotheken unterschiedlich gehandhabt, sei es, daß gesonderte Aufbewahrungsmöglichkeiten ("Giftschrank") unterhalten, sei es, daß spezielle Kennzeichnungen verwendet werden. Der für die Ausleihe oder den Bestand eines Lesesaals oder offenen Magazins verantwortliche Bibliothekar muß jedenfalls über Ausleihbeschränkungen zuverlässig informiert sein, auf welche Weise auch immer.
An volljährige Personen kann auch sekretierte NS-Literatur ausgeliehen werden bei vom Gesetz anerkanntem Zweck. Es erscheint tunlich, sich nicht mit einer mündlichen Aussage des Benutzers zu begnügen, sondern ihn auf einem Handzettel erklären zu lassen, daß er volljährig ist, das zu entleihende Werk ausschließlich persönlich und zu wissenschaftlichen (oder sonst anerkannten) Zwecken benutzen zu wollen. Auf die von den Kollegen in Nordrhein-Westfalen vorgeschlagene "Erklärung"19) sei ausdrücklich verwiesen!
Während der Eröffnungsveranstaltung des Bibliothekskongresses 1994 in Dortmund richtete die Vertreterin des Börsenvereins in ihrem Grußwort einen Appell an die Bibliothekare alles zu tun, damit nicht rechte Gewalt in irgendeiner Weise einen Nährboden in unseren Bibliotheken fände.
Es muß unser Bestreben sein, keine Form der Gewalt, von wem sie auch ausgehe, irgendwie zu fördern. Wenn wir die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen kennen und bereit sind, auf ihrer Basis unsere Ausleihpraxis zu gestalten, wird uns ein gegenteiliger Vorwurf schwerlich gemacht werden können.
Anmerkungen:
1) BIBLIOTHEKSDIENST 28. (1993), S. 1937
2) Meyer, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bibliothekars. Köln 1972
3) Vgl. z. B. Jütte, Die Verbreitung von Schriften durch Bibliothekare nach dem neuen Strafrecht, in: ZfBB 1977, S. 777 - 783; Bottke, Berufstypische Strafbarkeitsrisiken eines Bibliothekars, in: Mitteilungen der AjBD 1979, S. 1 ff.
4) Zur Strafbarkeit der Anschaffung, Bereitstellung und Ausleihe von Schriften mit straftatbestandsmäßigem Inhalt, insbesondere in Bibliotheken. Berlin 1981
5) Benutzungsbeschränkungen bei jugendgefährdenden Schriften in wissenschaftlichen Bibliotheken, in: MittBl. NRW 1988, S. 222 - 224
6) Vgl. z. B. Walsdorff, Zensur in Bibliotheken, in: BuB 1979, S. 330 - 338
7) Vgl. z. B. BGHSt 13, 257; 19, 71
8) Hierzu ausführlich Wenzel, Rechtliche Erfordernisse bei unzulässigen Darstellungen, in: ZfBB 1973, S. 319 327, und: Haftung des Bibliothekars als Verbreiter, in: NJW 1973, S. 603 605
9) Jütte, a.a.O., S. 783
10) Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Aufl. München 1991, § 131, Rdnr. 18; BT-Drucks. VI/3521, S. 9
11) Dreher-Tröndle, Strafgesetzbuch, 46. Aufl. München 1993, § 86, Rdnr. 11
12) BGH in NJW 1979, S. 2216 - 2218
13) Das öffentliche Anbieten von Hitlers "Mein Kampf", in: BuB 1980, S. 254 - 261
14) Dreher-Tröndle, § 86, Rdnr. 5
15) Schönke-Schröder, § 86, Rdnr. 8
16) BVerfG in NJW 1994, S. 1783
17) Benutzungsbeschränkungen, S. 222
18) Steffen, Literatur vor dem Richter - aus der Sicht der Bundesprüfstelle, in: Literatur vor dem Richter. Baden-Baden 1988, S. 146
19) Benutzungsbeschränkungen, S. 224.