Publikationen Hierarchiestufe höher
Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Rußland

Schulbibliotheken in Rußland
Helena A. Pawlowa

Die Autorin gibt einen Überblick über die Entwicklung der Schulbibliotheken im russischen Bildungswesen und beschreibt dabei die Rolle der staatlichen Wissenschaftlich-Pädagogischen Bibliothek.

Der entscheidende Faktor der Entstehung der Schulbibliotheken in Rußland als einer neuen von Art von Bibliothekstyp war die Bildungsreform der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Sie wurde sofort nach der Aufhebung der Leibeigenschaft durchgeführt. Die Reform legte den Grundstein zur Entstehung der Volksgrundschulen und dadurch auch zur Gründung der Schulbibliotheken.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts war die Frage nach der Rolle der Schulbibliotheken und ihrem Ort im russischen Bildungssystem schon aktuell. So wurde 1883 auf dem Semstwo-Lehrerkongreß1) hervorgehoben, daß "... die Volksschulen erst dann gut organisiert und gefestigt sein werden, wenn sie sich auf Volksbibliotheken stützen". Ferner wurde darauf hingewiesen, daß "die Schulbibliothek zur Leselust erziehen und sie erweitern soll" 2).

Das stürmische Wachstum der Bibliotheken des Schulsystems begann um die Jahrhundertwende infolge der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland und dank der pädagogischen Bewegung der Öffentlichkeit, die damals rasch zum Teil des russischen Schullebens wurde. Schon 1915 zählte beispielsweise der Landkreis Twer 163 Semstwo-Grundschulbibliotheken mit einem Gesamtbücherbestand von 80.792 Bänden 3).

Auch eine nach der Oktoberrevolution 1918 durchgeführte umfassende Schulreform, stützte sich auf die grundlegenden Ideen ihrer Zeit. Diese Reform hat ein ganzheitliches Modell eines neuen Bildungssystems geschaffen, in dem die Schulbibliotheken einen wesentlichen Platz fanden: Die Schulbibliothek sollte danach "... eine erfahrene Leiterin des regen Geistes, eine Erzieherin, die die Fragen einer unruhigen Seele beantworten könnte" werden4).

Während der "Gegenreform" der 30er Jahre wurde die Gesellschaft für 50 Jahre hinter den Zaun der "neuen sozialistischen Schule" getrieben. Das fand seinen Ausdruck vor allem in der Arbeit der Schulbibliotheken, in der Thematik der Komplettierung ihrer Bestände, die immer mehr auf das Prokrustesbett der Vereinheitlichung und der Schablone gelegt wurden5).

Doch die quantitativen Kennziffern steigerten sich. Und in den 80er Jahren zählte die UdSSR schon etwa 130.000 Bibliotheken im System des Ministeriums für Bildungswesen, darunter 128.800 Schulbibliotheken. Es wurden öffentliche Verwaltungsorgane des Bibliothekswesens geschaffen, nämlich die wissenschaftlich-methodischen Räte für das Bibliothekswesens in den Ministerien für Bildungswesen der UdSSR und der Sowjetrepubliken.

Die Funktionen als wissenschaftlich-methodisches Unionszentrum für die Bibliotheken des Bildungssystems wurden der Staatlichen Wissenschaftlich-Pädagogischen Bibliothek "K.D. Uschinskij" übertragen. Auf der unteren Ebene wurden die wissenschaftlich pädagogischen Bibliotheken der Sowjetrepubliken und die Stützbibliotheken der pädagogischen Hochschulen und der Hochschulen für die Lehrerweiterbildung tätig.

Dieses System bestand bis zum Zerfall der Sowjetunion. In jener Zeit übernahm die Staatliche Wissenschaftlich-Pädagogische Bibliothek "K. D. Uschinskij" nicht nur die wissenschaftlich-methodische Leitung der pädagogischen Bibliotheken des Ministeriums für das Bildungswesen der UdSSR im ganzen Landes, sondern beteiligte sich auch aktiv an der Gründung der methodischen Zentren auf den unteren Ebenen. Die Fachleute der Uschinskij-Bibliothek richteten ihr Augenmerk besonders auf die Ausarbeitung der anleitenden und methodischen Materialien, die den Bibliotheken des Bildungssystems halfen, und vor allem - den Schulbibliotheken. Es entstand eine ganze Reihe von Dokumenten, in denen die Grundziele, Aufgaben und technologischen Funktionen der Schulbibliotheken festgelegt wurden.

Für die heutige Bildungsreform, die in der Mitte der 80er Jahre begann, ist die kontinuierliche Innovation der Bildungssysteme charakteristisch. Diese fördert die Entwicklung der Bildung. Deshalb entwickelt sich die Schulbibliothek heute im Zusammenhang mit jeder einzelnen Schule. Die Änderungen der Lehrpläne und des Curriculums jeder einzelnen Schule haben Einfluß auf die Aufgaben und der Struktur ihrer Schulbibliothek. Die Hauptaufgabe der Schul-, Lyzeums-, Gymnasiums-, Collegschulbibliothek besteht darin, die Möglichkeiten und Bedingungen für eine freie Auswahl der Methoden, Formen und Mittel der Persönlichkeitsentwicklung sowohl den Schülern, als auch den Lehrern zu gewährleisten.

Heute zählt Rußland mehr als 65.000 Bibliotheken der mittleren allgemeinbildenden Schulen (Mittelschulen, Lyzeen, Gymnasien, Colleges usw.) mit einem millionenstarken Leserbestand. Die Schülerzahl der Schulen beträgt nach den Angaben des Ministeriums für Bildungswesen der Russischen Föderation ca. 20 Millionen und die Lehrerzahl ca. 1,5 Millionen. Dabei zeigen die statistischen Angaben, daß jeder zweite Schüler Leser seiner Schulbibliothek ist.

Laut Erlaß der Russischen Bildungsakademie Nr. 492/69 vom 24.11.1993 leistet die Staatliche Wissenschaftlich-Pädagogische Bibliothek auch weiterhin beratende und wissenschaftlich-methodische Hilfe sowohl den Schul-, Lyzeums-, Gymnasiums-, Collegschulbibliotheken als auch den Bibliotheken der außerschulischen Einrichtungen, der pädagogischen Fach- und Hochschulen, der Lehrerweiterbildungsstätten, der Verwaltungsorgane des Bildungswesens, der erziehungswissenschaftlichen Forschungsinstitute und allen pädagogischen Bibliotheken der Russischen Föderation.

Der Aufbau des Systems der pädagogischen Bibliotheken blieb bis heute im großen und ganzen unverändert, und die Schulbibliotheken bilden zahlenmäßig die größte Gruppe. Doch die Funktionen der Schulbibliotheken und ihre Arbeitsweisen haben sich gründlich geändert. Hier lassen sich folgende Tendenzen erkennen:

Die Schulbibliotheken erweitern ihre Bestände aktiv durch neue Informationsträger, Videomaterialien, Computerprogramme, Datenbanken.

Nach den Angaben des Ministeriums für Bildungswesen der Russischen Föderation waren Anfang 1996 ca. 40 Tausend Bibliothekare in den Bibliotheken der allgemeinbildenden Schulen tätig (darunter 20.790 in den Städten und 18.555 auf dem Lande). Am typischsten ist die Bibliothek mit einem Bibliothekar. Es gibt aber auch andere Schulen (etwa 36 %), wo Lehrer als Bibliothekare mit einer zusätzlichen Bezahlung arbeiten. Gleichzeitig gibt es nur wenige Schulen, die Bibliotheken mit 3 und mehr Mitarbeitern haben.

Die Mitarbeiter der Schulbibliotheken sind hauptsächlich pädagogisch oder bibliothekarisch ausgebildet (darunter Hochschulbildung - 14.225 Mitarbeiter, unvollendete Hochschulbildung - 1.905 Mitarbeiter, Fachschulbildung - 19.132 Mitarbeiter), viele von ihnen arbeiten auch unterrichtlich. Aktuell bleibt das Problem der Weiterbildung der Bibliothekare des Bildungssystems.

Die Änderung von Inhalt und Charakter der Tätigkeiten der Bibliotheken in den allgemeinbildenden Schulen schlug sich u.a. auch in den Schriften der Uschinskij-Bibliothek nieder6).

Unter den heutigen Bedingungen der Realisation eines neuen Bibliotheksgesetzes, der Standardisierung und der Regionalisierung des Bildungswesens sowie der Verwaltungsreformen erarbeiten die Fachleute der Uschinskij-Bibliothek eine neue Konzeption als normsetzende Grundlage für die Informationstätigkeit der Bibliotheken der allgemeinbildenden Schulen7).

1) Semstwo = adlige lokale Selbstverwaltungsverbände in Rußland

2) Marakujew W.N. Von den Schulbibliotheken: Die Rede auf dem Semstwolehrerkongreß am 26. August 1883. - Moskau, 1884. - 24 S.

3) Vom Stand und von der Tätigkeit der Schülerbibliotheken an den Semstwo-Grundschulen des Landkreises Twer im Schuljahr 1915/16. - Twer, 1916. - 25 S.

4) Tutyschkin I.P. Die Organisation der Schülerbibliotheken nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung. - Moskau: Sadruga, 1919. - 74 S.

5) Dneprow E.d. Die vierte Schulreform in Rußland. - Moskau: Interprax, 1994. - 248 S.

6) Bibliotheken der neuen Schulen: Methodische Empfehlung / Hrsg. N.B.Birjukowa. - Moskau, 1994. - 24 S.; Das automatisierte Bibliothekssystem der Uschinskij-Bibliothek und die Fragen des Fernzugangs zur Datenbank der wissenschaftlich-pädagogischen Information: Methodische Empfehlung / Hrsg. L.J.Bitschkowa. - Moskau, 1995. - 24 S.; Die Nutzung der Informationsdatenbanken in der Arbeit der Bibliotheken der allgemeinbildenden Schulen: Methodische Empfehlung / Hrsg. L.E.Korschunowa. - Moskau, 1996. - 24 S.

7) Konzeption der normativen Basis der Informationstätigkeit der Bibliotheken der allgemeinbildenden Schulen unter den modernen Bedingungen: Der Entwurf / Hrsg. G.W.Tschulkina. - Moskau, 1996. - 0,5 Druckbögen

(Helena A. Pawlowa, stellvertretende Direktorin der Staatlichen Wissenschaftlich-Pädagogischen Bibliothek "K.D. Uschinskij", Kand. der Akademie der Päd. Wissenschaften, Moskau, Rußland)


Seitenanfang