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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Rußland

Russische Bibliotheken - quo vadunt?
Einige vergleichende Betrachtungen zur Entwicklung in Rußland
Ekaterina Genieva / Elisabeth Simon

Im Abschlußbericht (1992) der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Bibliothekswesen" liest man folgende kritische Bemerkung zum deutschen Bibliothekswesen: "Unser Bibliothekssystem braucht markwirtschaftliche Elemente, die einen Anreiz für Bibliotheken schaffen, ihren Service zu verbessern und ihre Dienstleistungen auch aktiv zu vermarkten. Es muß sich für die Bibliothekare und Bibliotheken "lohnen", gut zu beraten und schnell zu liefern. Solange Bibliotheken noch wie herkömmliche Verwaltungsämter organisiert sind und finanziert werden, wird das kaum möglich sein".1)

Wenn man sich in den letzten Jahren mit dem russischen Bibliothekswesen beschäftigt hat und diesen Satz liest, könnte man meinen, mit einer Empfehlung des Kulturministeriums von Moskau zur Neubelebung der Bibliotheken konfrontiert zu werden. Bei knappen oder völlig fehlenden Mitteln ist die aktive Vermarktung der Bibliotheksdienstleistungen in bares Geld das letzte Mittel der russischen Bibliotheken, um zu überleben. Es kann aber auch der Versuch sein, politisches Gewicht wieder zu erlangen, um wenigstens noch einige öffentliche Mittel und Unterstützung zu erhalten.

Man findet weiter in jenem Arbeitsbericht für deutsche Bibliotheken auch die Forderung nach einer gesamtstaatlichen Bibliothekspolitik. Diese liegt wohl auch den vielfach ausgearbeiteten Bibliotheksentwicklungsplänen der einzelnen Länder in der Bundesrepublik zugrunde. Wir lesen weiter in jenem Arbeitsbericht: "Das Fehlen einer gesamtstaatlichen Bibliothekspolitik erschwert die überregionalen Aktivitäten, die ihrer Natur nach übergreifende Vereinbarungen voraussetzen: vor allem die überregionale und internationale Vernetzung der Informationssysteme, zu denen auch die Bibliotheken gehören.

Nur so wird die überregionale und internationale Informations- und Literaturversorgung allmählich beschleunigt werden können. Hierzu müssen sich die Regionalsysteme stärker nach außen öffnen und mit Hilfe standardisierter Schnittstellen kommunikationsfähig werden."2)

Hier besteht nun ein großer Unterschied zu den russischen Bibliotheken, zumindest in der Situation der Jahre vor 1989, indem ein detailliertes Bibliotheksgesetz eine allgemein verbreitete "Grundversorgung" und Zentralisierung der Dienstleistungen garantierte, wenn auch die Ziele dieser Bibliothekspolitik sich von denen, die in Deutschland verfolgt wurden, grundsätzlich unterschieden. "According to basic performance characteristics such as average number of books, libraries and librarians per 1.000 of population Russian library system occupies one of the leading positions in the world." 3) Aber diese allgemeine Grundversorgung in Rußland war bescheiden. "The quality of reader services, the level of information provision of science industry, education and culture fail to keep in line with the achievments of contemporary practice. The choice of development across a broad front, rather than in depth led to a number of problems. The effectiveness of use of library holdings has decreased. Their content fails to meet changing readers demands insufficient finance led to considerable back log in material and technical resources, low income for librarians, lower prestige of library institutions and reductions in their role in the social and intellectual development of society".4)

Die unzureichende finanzielle Ausstattung russischer Bibliotheken lange vor der Perestroika war auch bedingt durch die Art der Finanzierung. Trotz einer detaillierten Gesetzgebung wurden keine finanziellen Eckwerte gegeben, sondern die Kultur wurde aus dem "was übrig blieb" finanziert. So lagen weder die Höhe des Etats noch der prozentuale Anteil an der Volkswirtschaft fest, den die Bibliotheken am Gesamteinkommen beanspruchen konnten.5) Daher erhielten die Bibliotheken beim rapide sinkenden Volkseinkommen immer weniger, obwohl das nicht von dem russischen Gesetzgeber vorgesehen war.

Politisch hatten die Bibliotheken Rußlands ein größeres Gewicht als in Deutschland, obwohl man nicht vergessen darf, daß sie integrierter Bestandteil des Systems waren. Sie hatten einen starken Rückhalt in der Bevölkerung. Die Russen lieben ihre Dichter, Bücher und Bibliotheken; das ist auch heute noch ganz deutlich zu spüren.

Bevor wir aber versuchen, die gegenwärtige Situation der Bibliotheken zu beleuchten, sollen einige historische Bemerkungen zum Verständnis der Bibliotheken Rußlands beitragen.

Ähnlich wie in Deutschland waren die ersten Bibliothekare des 19. Jahrhunderts in Rußland eine Mischung aus Antiquaren, Kustoden und Forschern. Sehr oft wurde eine Anstellung als Bibliothekar angestrebt, wenn die Hoffnung auf einen Lehrstuhl aus verschiedenen Gründen begraben werden mußte. Das russische Bibliothekssystem war von Anfang an durch eine sehr starke staatliche Oberaufsicht bestimmt. ...."to a greater degree than their peers in the West Russian professionals could practice their occupation only with the active support of the state. They depended on the state to provide their training, to finance the institutions that employed them and at the most basic level, to legitimate their work by granting its legal sanction".6) Die Abhängigkeit von persönlichen Beziehungen zu Vertretern der Administration, die von einem zentralistischen Staat autokratisch gelenkt wurde und in weiten Teilen bis zum 1. Weltkrieg noch von der Ämterpatronage der großen Adelsfamilien bestimmt wurde, war für den Öffentlichen Dienst charakteristisch, also auch für die Bibliotheken.7) Nur an den Nationalbibliotheken bildete sich langsam ein dem Berufsethos vergleichbares Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, was eventuell auch durch die geringe Anzahl der Bibliothekare bedingt war. Jedenfalls wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Grundsätze bibliothekarischer Berufsarbeit und des bibliothekarischen Ethos an den großen nationalen Bibliotheken definiert. Die Anfänge des Berufsstandes sind auch in Rußland in großem Maße durch die Arbeit bekannter Persönlichkeiten (A. N. Olenin) bestimmt, die die Basis für ein zukünftiges Berufsethos legten. Dies ähnelt der Situation in Großbritannien und den USA, obwohl das Bibliothekswesen sich hier unter ganz anderen Bedingungen und nach ganz anderen Strukturen entwickelte. So kann man sagen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts die Bibliothekare in Rußland begannen, ein fachliches Selbstverständnis zu entwickeln, mit dem Willen, der Öffentlichkeit zu dienen, einen allgemeinen Zugang zu den Sammlungen zu schaffen und für "intellectual freedom" einzutreten. Man war bestrebt, ein den Bedürfnissen der Leser entsprechendes Bibliothekssystem zu schaffen. Der Mangel an Mitteln verhinderte die Ausbildung eines Systems, das besonders auch die ländliche Bevölkerung in diesem riesigen Lande mit bibliothekarischen Dienstleistungen versorgte.8) Im Jahre 1907 schrieb N. A. Rubakin, ein in Rußland bekannter Bibliothekar Anfang des 20. Jahrhunderts: "Eine Bibliothek, die der gesamten Bevölkerung gehört, muß selbstverständlich so organisiert sein, daß wirklich die gesamte Bevölkerung ihr Besitzer ist."9) Das klingt vertraut und ist doch vielen Mißverständnissen ausgesetzt - wie die Vergangenheit und Gegenwart zeigt. Ging und geht es doch nicht um den Besitz einer Bibliothek, sondern um den Zugang zu den in ihr enthaltenen Materialien oder wie man heute sagt Informationen. Wir sind auch heute bescheidener, wir haben nicht die gesamte Bevölkerung, sondern die Benutzer, denen sie dienen will, im Auge oder wie Boris Volodin, Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg sagte: "Wir hatten Massenbibliotheken, und sie dienten keinem."

Neueste Entwicklungen in Deutschland, ähnlich in manchen der Staaten in Mittel- und Osteuropa, verlangen heute große Aufmerksamkeit von den Bibliothekaren. Die Umwandlung in eine Stiftung oder GmbH, wie sie auch in Berlin geplant ist10), ist eine Umwandlung der Besitzverhältnisse. Ohne eine gründliche Umwandlung der Struktur und Organisation, die einen besseren Zugang der Nutzer zu den von ihnen gewünschten Medien garantiert, ist dies sinnlos. Dies zeigen diverse Erfahrungen, z. B. als vor über 20 Jahren die "Stiftung Öffentliche Bücherhallen" als Öffentliche Einrichtung der Hansestadt Hamburg übernommen wurde, änderte sich fast nichts. Da die Finanzierung der Öffentlichen Büchereien weiterhin von der Öffentlichen Hand kam, die auch die Richtlinien der Verwaltung bestimmte, wenn auch in viel geringerem Maße als in anderen Städten Deutschlands, blieb die Struktur der Bibliotheken nahezu unverändert. Das hat sich auch in vielen Staaten Ost- und Mitteleuropas gezeigt, als man meinte, eine solche Umänderung der Besitzverhältnisse würde die Probleme einer Bibliothek lösen. 1989 erschien in der sowjetischen Zeitschrift "Bibliotekar" ein Artikel von Fenelov: "Leitung, wie kann sie aussehen?"11) Sergej A. Basov unterzieht in einer Rede im gleichen Jahr die Situation einer gründlichen Analyse. So sein Urteil zur unzureichenden Finanzierung der Bibliotheken, die auch von Fenelov generell beklagt wird. " Immer wieder wird der geringe Anteil des Nationaleinkommens, den der Staat für das Bibliothekswesen ausgibt, beklagt. Es wird jedoch in keiner Weise der "Verarbeitungsmechanismus" dieses Anteils analysiert. Wie effektiv verwandelt dieser Mechanismus eigentlich unsere Volksrubel in bibliothekarische Dienstleistungen? Welche Mängel haften dem Leitungssystem im fünften Jahr der Perestrojka (1989) immer noch an?"12) Hier stellt Basov eine ähnliche Frage, wie sie unseren Eingangssätzen nach "marktwirtschaftlichen Elementen" zugrunde liegt. Er macht aber seine Unterscheidung am Eigentumsbegriff aus, indem er dem Recht auf Eigentum einer Bibliothek (aller Bürger das Recht entgegensetzt, "das Eigentum auch im Interesse der Gesellschaft zu verwalten, was natürlich nur auf professioneller Grundlage effektiv verwirklicht werden kann."13) Und wenn der oben erwähnte Rubakin schreibt: "Eine Bibliothek, die der gesamten Bevölkerung gehört, muß selbstverständlich so organisiert sein, daß wirklich die gesamte Bevölkerung ihr Besitzer ist",14) so war das nach der Oktoberrevolution eben nicht der Fall, als Partei und Staat die Leitung des Bibliothekswesens in ihre Hände genommen hatten. "Es war nicht deren Bestreben, das Bibliothekswesen zum Eigentum der Bevölkerung zu machen. Die Bibliotheksarbeit wurde den Anforderungen politischer Aufgaben unterworfen. Die Gesellschaft wurde der Möglichkeit beraubt, einen sozialen Bedarf an Bibliotheken, die ihren vielschichtigen Bedürfnissen entsprochen hätten, über ihre eigenen Vertretungen zu artikulieren. Die öffentlichen Bibliotheken verwandelten sich in Massenbibliotheken und die Nationalbibliotheken in Republiks- und Staatsbibliotheken."15)

Die vordergründig demokratische Struktur der sowjetischen Bibliotheken und ihr starkes Gewicht, das ihnen von Seiten des Staates gegeben wurde, wurde von ausländischen Bibliothekaren positiv erwähnt. Die Stellung, die die Bibliotheken als wichtigste Infrastruktureinrichtung für Bildung und Wissenschaft in der früheren Sowjetunion hatten, war für ausländische Besucher ein Ziel, das sie in ihren Ländern nicht immer realisieren konnten, in dieser Art auch nicht realisieren wollten. Politische Hintergründe für diese Stellung und die einzelnen Aspekte der Serviceleistung für die Bevölkerung konnten von diesen Besuchern nicht erfahren werden, da sich ausländische Besucher immer in einem stark abgegrenzten Rahmen bewegten und fachliche Kontakte gerade zu Besuchern der Bundesrepublik oft nur in einem streng offiziellen Maß möglich waren.16) Dies hat sich glücklicherweise nun grundlegend geändert. Solche Besuche hatten einen großen Seltenheitswert, da viel weniger Kontakte zwischen Bibliothekaren als zwischen Vertretern des Buchmarktes bestanden, besonders nach der Herausgabe der Schlußakte von Helsinki, die einen stärkeren Zugang zu der Nationalliteratur anderer Länder durch Übersetzungen und Verkauf vorsah und damit die Kontakte der Buchhändler und Verleger begünstigte. Trotzdem kam es erstmals nach Jahren strengster Abschottung zwischen 1982 - 1984 zu den ersten Kontakten mit Bibliothekaren in der ehemaligen UdSSR, die zu einem Austausch von Delegationen führte. Bis zur Aufnahme dieser bilateralen Kontakte war die IFLA oft der einzige Rahmen von möglichen Kontakten zu Bibliothekaren der ehemaligen UdSSR.17) Bibliothekare aus der alten Bundesrepublik Deutschland konnten sich daher kein detailliertes Bild über die innere Struktur des Bibliothekswesens in Rußland machen. Um so erstaunlicher sind die Überlegungen innerhalb des Berufsstandes in Rußland zur Weiterentwicklung der Bibliotheken, die schon 1991 in einer Resolution des Runden Tisches zum Thema "Bibliotheken 20. Jahrhundert - 21. Jahrhundert" geäußert wurden. In diesen Resolutionen wurden alle Probleme angeschnitten und Forderungen gestellt, die auf ein überleben der Bibliotheken zielen, so z. B. die Absicherung der Grundstücke, Gebäude und Einrichtungen, durch deren Vermietung heute oft die Bibliotheksarbeit finanziert wird.18) Die Aktivitäten, die die russischen Bibliothekare bei dem ersten Anzeichen einer für sie lebensbedrohenden Krise entfalteten, waren beispielhaft.

Man muß sich vorstellen, daß sich damals schon abzeichnete, daß die öffentliche Hand nicht nur sparen mußte, sondern oft die Finanzierung einiger Bibliotheken ganz einstellte, so daß diese ganz auf sich gestellt waren. Dies geschah in einem Umfeld, um das sich die Bibliotheken generell wenig gekümmert hatten, da ihnen ja ihre Rolle und Aufgabe "garantiert" waren. Dieses war auch der Fall in der ehemaligen DDR. Ausbleibende Finanzen und mangelndes Interesse der Bevölkerung können eine tödliche Mischung sein, wenn es nicht diese traditionelle Liebe der Russen zu Büchern und damit Bibliotheken gäbe. Die Situation forderte die Bibliothekare in mehrfacher Hinsicht. Sie mußten ihr eigenes Geld verdienen und mußten eine neue Rolle in der Bevölkerung finden. Die starken Strukturveränderungen in Rußland müßten auch für die deutschen Bibliothekare interessant sein und sollten einen Erfahrungsaustausch fördern, der für die Bewältigung der Probleme und eine zukünftige Zusammenarbeit notwendig ist, wie es Joachim Felix Leonhardt schon in seinem Resümee einer Informationsreise zur Literaturversorgung wissenschaftlicher Bibliotheken 1990 forderte.19)

Die gegenwärtige Situation heute. Beispiele und Beobachtungen

Bibliothekare und Bibliotheken reagierten mit verschiedenartigen Aktivitäten auf diese radikale Umbruchsituation

und Alle drei Phänomena bestimmen heute das russische Bibliothekswesen, ergänzen und bekämpfen sich auch. Wir wollen trotzdem eine Analyse der gegenwärtigen Situation versuchen, die heute nur oberflächlich möglich ist.

Bibliotheksverbände

Die Neugründung von Bibliotheksverbänden war wie in der ehemaligen DDR schwierig, weil Bibliothekare aller überregionalen Einrichtungen und Institutionen besonders der Verbandsarbeit gegenüber mißtrauisch waren. Gerade die Perversion "freiwilliger" Zusammenschlüsse in der Zeit vor dem Zusammenbruch des Systems stellt eines der größten Hindernisse bei der Professionalisierung durch Berufsverbände dar und dies nicht nur in Rußland. So ist es nicht verwunderlich, daß Berufsbild und berufliche Ethik nicht nur lebhaft diskutierte Themen bei einem deutschen Seminar in Puschino bei Moskau waren 21), sondern die Bibliothekare in vielen ehemaligen kommunistischen Ländern von Litauen bis Slowenien bewegen.22)

Es fiel den neuen Bibliotheksverbänden in Rußland auch schwer, aktive und engagierte Verbandsvertreter zu gewinnen und die Aktivitäten gegen die Leitung der Bibliotheken abzugrenzen. Überschneidungen der Aufgaben sowie Streitigkeiten um Kompetenzen sind in einer solchen Situation durchaus normal und gehören zu einer neuen Standortbestimmung. Die Gründung von Bibliotheksverbänden ist ein gutes Zeichen für ein lebendiges berufliches Leben und ihre starke regionale Zersplitterung in einem so großen Land wie Rußland positiv zu werten. Sie sind ein Zeichen für berufliches Engagement auf einer freiwilligen Basis. Die verschiedenen Kräfte bei der Neuordnung des Bibliothekswesens werden noch einige Zeit benötigen, ehe sie sich aufeinander eingespielt haben. Es ist z. B. für die neuen Bibliotheksverbände ungewöhnlich, daß die Finanzierung ihrer Aktivitäten nur von den Mitgliedern getragen werden muß und daß Zuschüsse des Staates gesondert eingeworben werden müssen und damit eine freiwillige Leistung der Administration sind. Andererseits sind engagierte und interessierte Verbandsmitglieder mit dem starken Willen zur Neuordnung und Neubestimmung des Berufes die beste Ressource, die die russischen Bibliotheken und die für sie Verantwortlichen zur Zeit haben. Für die Bibliothekare, deren Arbeit aber von Parteitagsbeschlüssen und starren Regeln bestimmt war, ist es schwer, dieses freie Spiel der Kräfte zu lernen. Aus diesem Grunde ist die Mitgliedschaft in stark regional bestimmten Bibliotheksverbänden, die unmittelbar mit ihren Mitgliedern arbeiten können, in der heutigen Situation Rußlands als positiv zu werten.

Die Bibliothek als Kultur- und lnformationszentrum
Die Bibliothek als Wirtschaftsunternehmen

In dem "Program for the Modernization of the Russian State Library. Moscow Russian Federation. UNESCO April 1994"23) wird unter einem Resümee des heutigen Zustandes der ehemaligen Leninbibliothek, heute Russische Staatsbibliothek, das folgende Urteil abgegeben: "The present policies and administration of RSL are heavy and fragile resulting in complex and rigid internal structures and a personnel exposed to perplexity and discouragement! These are trends in this allusive situation towards resistance to change and creation of more or less autonomous structures which could dismantle the library"23). Neben vielen anderen Schwierigkeiten, die die Existenz und die Arbeit dieser Bibliotheken bedrohen, mangelnde Pflege der Bestände, keine Möbel, gravierende Raumnot, scheint uns dies der schlimmste Mangel zu sein. Mit solchem Personal kann die Bibliothek ihr Ziel nicht erreichen, ... to play its educational, research and cultural vocation and assume the dual function of being an instrument of progress contributing to the emergency of democracy and economy in the country and serve as a gateway for Russia to the rest of the world"24).

Die Entwicklung der Bibliotheken im übrigen Rußland gerade in der Umgebung von Moskau belegt dies. Öffentliche Wissenschaftliche Bibliotheken in der Region haben diese hier formulierte Aufgabe - für ihre Kommune, ihre Stadt oder ihren Kreis - übernommen. Sie tun es sehr oft mit knappem Etat und müssen daher "wirtschaftlich" arbeiten und denken. Das bedeutet, daß sie auf der einen Seite Dienste anbieten müssen, die die Benutzer wirklich brauchen und auch kaufen. Auf der anderen Seite müssen sie sich den neuen politischen Führern als unersetzliche Infrastruktureinrichtung darstellen, deren Förderung für die Entwicklung der Region unerläßlich ist. So kommt es, daß die Situation dieser Bibliotheken völlig unterschiedlich ist.25) Es gibt blühende und sogar "wohlhabende" Bibliotheken. Sie bieten Informationen auf Gebieten an, an denen das Interesse heute in Rußland besonders groß ist, wie Landeskunde, Geschichte der Region, Religion und Lebensbewältigung, Wirtschaft und Informationen über das Ausland. Die Bibliothek ist hier Informations- und Dokumentationszentrum. Sie übersetzt Schnittpläne (für Kleider) und verkauft sie, sie übersetzt Kochrezepte und verkauft sie, wie auch Anleitungen für den Heimwerker. Sie ist nach dem Zusammenbruch des Buchmarktes auch oft als Verlag und Buchhandlung tätig.

Sie hat ein Café oder Restaurant gepachtet, was z. B. von Touristen in Moskau und St. Petersburg dankbar angenommen wird. Die Bibliotheken versuchen auf dem Informationssektor, in der Kultur und dem Tourismus Nischen für sich zu entdecken und diese zu vermarkten. Sie vermieten Räume an fremde Einrichtungen und stellen Übersetzer zur Verfügung. Die Regionalbibliotheken machen zur Zeit die Erfahrung, daß es nicht in erster Linie darauf ankommt, nationale, regionale oder kommunale Finanzierungsquellen zu erschließen, sondern Möglichkeiten der "Außeretatfinanzierung" zu finden.

Eine solche finanzielle Situation hat natürlich großen Einfluß auf das Selbstverständnis der Bibliotheken und auf die Organisation. Eine Bibliothek, die versucht, mit dieser Herausforderung zu leben, unterscheidet sich grundlegend von einer Bibliothek der früheren Zeit. Sie muß nicht nur marktorientierte Strukturen in den Betrieb integrieren, sondern sie muß marktgerecht handeln. Das kann natürlich zu großen Konflikten mit den Zielen einer fachgerechten Bibliotheksarbeit führen. Auf jeden Fall führt eine solche Entwicklung zu starken Unterschieden innerhalb der Bibliotheken.

Welcher Bibliothekstyp entwickelt sich in Rußland?

Oberflächlich betrachtet ähnelt die Öffentliche Wissenschaftliche Regionalbibliothek in Rußland der Landesbibliothek in Deutschland. Beide haben sie zentrale Aufgaben für die Region übernommen, meist als "Deposita" und als Lieferant zentraler Dienstleistungen. Wir können hier nicht im einzelnen die Unterschiede untersuchen, wir können nur einige Grundzüge aufzeigen, die neben dem Faktor Wirtschaftlichkeit das Leben der wissenschaftlichen öffentlichen Regionalbibliothek bestimmen. Diesen Typ Bibliothek gibt es nicht nur in Rußland, sondern auch in der Tschechischen Republik und in Bulgarien. Aber gerade dieser Bibliothekstyp hat sich nach dem Zusammenbruch des Systems in den einzelnen Ländern sehr verschieden entwickelt. In der Tschechischen Republik stecken diese Bibliotheken in einer tiefen Krise, ihre zentralen Dienstleistungen und ihre Finanzierung ist völlig fraglich, so daß es durchaus zum Verschwinden dieses Bibliothekstyps kommen kann. Nicht nur bibliothekarische Überlegungen erklären den Erfolg einiger Bibliotheken in Rußland. Es scheint so zu sein, daß die Größe und Weite Rußlands, die in vielen Punkten seine Kultur, seine Gesellschaft und auch Ökonomie bestimmen, die Herausbildung und besonders das Weiterleben dieses Typs bedingt hat. In Städten wie Twer ist die Bibliothek der kulturelle Mittelpunkt, solange sie mehrere Bedingungen erfüllt. Die Bibliothek muß sich öffnen. Sie muß der Mittelpunkt eines persönlichen Netzes aller pädagogischen und kulturellen Einrichtungen und ihrer Menschen in der Region sein. Die Bibliotheksleiterin der wissenschaftlichen Regionalbibliothek in Twer hat an einem Sonntag für eine deutsche Besuchergruppe ein Programm aufgestellt, das nicht nur ein Round Table mit Bibliothekaren aus dem Bibliotheksverband von Twer, sondern auch mit Fachvertretern aus der Umgebung und Gesprächen mit Vertretern der Universität umfaßte. Die Bibliothek muß Kultur- und Informationsmittelpunkt sein - mit dementsprechenden Öffnungszeiten. Die Bibliothek in Twer hat am Sonntag geöffnet, sie ist nicht nur Informationszentrum, sondern auch "Kontaktbörse", denn ein großer Teil der Arbeit der Bibliothekare an einem Sonntagnachmittag sind Gespräche mit den Lesern.

Wir wollen diesen kurzen Überblick mit dem Hinweis auf eine Bibliothek beenden, die sich jeder "Klassifizierung" entzieht. Es ist die Bibliothek für Ausländische Literatur. Sie ist die erfolgreichste Bibliothek Rußlands. Dies mag auch daran liegen, daß sie die drei wichtigsten kulturellen Auslandsmissionen unter ihrem Dach beherbergt, den British Council, das Centre Culturel Frankreichs und ein "American Information Centre". Das ist wohl in der bibliothekarischen Welt einmalig. Ihre Organisation stellt sich dem Benutzer nicht als ein Bibliotheksblock dar, sondern spezielle Einrichtungen, nach dem Prinzip des "shop in the shop'" gehen gezielt auf seine Wünsche ein. Es gibt neben diesen ausländischen Abteilungen eine kleine Abteilung für Religion. Es gibt neuerdings neben der außerordentlich erfolgreichen Fremdsprachenabteilung, die sich nur mit der im Centre Pompidou vergleichen läßt, jetzt auch eine kleine Einrichtung für Kinder mit den entsprechenden Sprachlehrern. Die Bibliothek hat gemäß ihres Arbeitszieles außerordentlich weitreichende ausländische Kontakte und stellt diese den anderen Bibliotheken in der Region zur Verfügung. Für deutsche Bibliothekare, die eine Unterscheidung ihrer Literatur in in- und ausländische beim Bestandsaufbau nicht machen, war die Bibliothek fremd, obwohl die starke Verbindung mit dem Lernen von Fremdsprachen und der Öffnung zu fremder Kultur und Sprache ihr auch vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems eine Öffnung und Lebendigkeit gegeben haben, die man in anderen russischen Bibliotheken in dieser Ausprägung nicht fand. Die Bibliothek entwickelt sich zu einer nationalen Einrichtung Rußlands. Dies geschieht nicht durch irgendwelche Beschlüsse und Verordnungen, sondern auf Grund ihrer Serviceleistungen für andere Bibliotheken und der Literaturversorgung im Lande.26) Die Bibliothek verlegt ausländische Literatur und vertreibt diese in preiswerten Ausgaben. Die Bibliothek wird vom Kulturministerium gefördert und erhält ausländische Mittel. Daher ist sie finanziell in einer vergleichsweise guten Lage. Aber das ist nicht der einzige Grund ihres Erfolges, sondern eine Organisationsstruktur, die eine freie Entfaltung jener marktwirtschaftlichen Elemente erlaubt, die die Bund-Länder-Kommission in Deutschland fordert, wie wir das in unserem Anfangszitat gezeigt haben. Die Bibliothek arbeitet "nutzerorientiert" und verkörpert einen Typ, der den Bedürfnissen russischer Benutzer weit entgegenkommt. Die Transformation ausländischer Erfahrungen wurde hier besonders glücklich eingesetzt, um die Forderung zu verwirklichen, mit der wir unseren vergleichenden Überblick begonnen haben. Wohin sich moderne Bibliotheksideen entwickeln können, wenn sie einer starren Verwaltung unterliegen, zeigten viele russische Bibliotheken. Die radikale Integration marktwirtschaftlicher Elemente in der russischen Bibliotheksarbeit und die Erfahrungen russischer Bibliothekare in diesem neuen Umfeld, sollten einen Dialog zwischen beiden Ländern initiieren, der für die Entwicklung russischer und deutscher Bibliotheken von grundlegender Bedeutung sein kann.

1) s. Michael Hirsch/Antonius Jammers: Bund-Länder-Arbeitsgruppe Bibliothekswesen. Abschlußbericht 1990-1992 Empfehlungen und Materialien. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1993: 137 ff. dbi materialien 126
vgl. dazu: Kuzmin, Evgenii: Russian Libraries face the future. Wilson Library Bulletin Jan. 1993: 52 ff.

2) vgl. dazu Abschlußbericht

3) Ministry of Culture of the Russian Federation/M.I. Rudomino All Russia State Library for Foreign Literature Research Department for Librarianship abroad: Russian Librarianship during the time of perestroika 1987-1991, Moskau 1993: 3

4) s. a. a. O. Ministry of Culture: 3

5) Panova, Raisa Zinovievna: New Library Legislation in Russian Federation: Contributory factor to the democratization of library service.
In Proceedings des internationalen Seminars: Bibliotheksplanung und -förderung unter demokratischen und marktwirtschaftlichen Grundbedingungen vom 11. - 15. Juli 1994. Veröffentlicht Herbst 1994 von der Akademie der Wissenschaften in Prag und der Bibliothekarischen Auslandsstelle Berlin.

6) s. Stuart, Mary: The evolution of librarianship in Russia: the librarians of the imperial public library 1806-1869, The Library Quarterly, Vol. 64, Jan. 1964:6

7) Der Aufsatz von M. Stuart gibt eine genaue Beschreibung der Bibliotheksentwicklung bis zum 1. Weltkrieg

8) s. a. a. O.: 24 "Although it is true that a luck of resources severely retarded spread of public libraries in the nineteenth century, Russia and the expertise and corporate identity of the library elite offered little to those vast segments of the population that were not served by any library, the obstacles to progress lay outside the library profession."

9) Rubakin, N. A. Osnovnye zadaci bibliotecnogo dela S.PO 1907.5

10) s. Protokoll der Mitgliederversammlung des VBB, Berlin vom 17.8.1994 in der Berliner Stadtbibliothek

11) s. Fenelov, E. Upravlenic. Kakin ono mozet byt. Bibliotekar 1989: Nr. 11

12) Basov, Sergej A.: Die Leitung des Bibliothekswesens. Von der Machtmonopolisierung zur Dezentralisierung der Macht. Rede gehalten vor dem Stadtparlament von St. Petersburg 1989, übersetzt vom DBI 1990:3, unveröffentlicht.

13) s. a. a. O.:3

14) s. Rubakin a. a. O.:6

15) s. Basov a. a. O.:4

16) vgl. dazu Tehnzen, Jobst: Bibliotheken in Moskau und Leningrad. In: Osteuropa Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 1986:Nr. 3 und 4.

17) s. Lippert, Barbara: Die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik gegenüber der UdSSR 1969-1982. Magisterarbeit zur Erlangung des Grades eines Magister Artiums, vorgelegt der Philosophischen Friedrich Wilhelms Universität zu Bonn 1989:160ff.

18) vgl. dazu Resolution des "runden Tisches" zum Thema Bibliotheken: 20. - 21. Jahrhundert, der vom sowjetischen Kulturfond und der Moskauer Bibliotheksvereinigung am 20. Mai 1991 organisiert wurde. (In Russisch beim Bibliotheksverband Moskau/deutsche Übersetzung bei der Bibliothekarischen Auslandsstelle, Berlin)

19) vgl. dazu Leonhardt, Joachim Felix: Zur Situation der Literaturversorgung wissenschaftlicher Bibliotheken in der UdSSR. Eindrücke aus Leningrad, Novosibirsk und Irkutsk 1990.

20) vgl. dazu Statut der Leningrader Bibliotheksvereinigung 1990.

21) vgl. dazu das Programm des Surplace-Seminars: Informationsmanagement für leitende Bibliothekare und Informationsfachleute aus Moskau und Umgebung, vom 6.-12. Juni 994 in Puschino bei Moskau.

22) s. Programm der Library Association of Slovenia, Bled, Oct. 10-11 th, 1994.

23) s. Program for the modernization of the Russian State Library. Moscow Russian Federation. Paris. Unesco 1994. Bericht einer UNESCO-Kommission zur Erneuerung der russischen Staatsbibliothek in Moskau. Vorwort.

24) s.a.a.O.:12

25) vgl. dazu "Reader" (Deutsch-russische Beiträge des Seminars Informationsmanagement s. 21). Hrsg. von der Bibliothek für Ausländische Literatur und der Bibliothekarischen Auslandsstelle Berlin, Jan. 1995

26) vgl. dazu Ekaterina Genieva: Die Bibliothek als internationales Kulturzentrum/The library as an international centre for culture. in: Informationspolitik als Kulturpolitik: Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1993:41ff.


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