Publikationen Hierarchiestufe höher
Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Rußland

Kostenpflichtige Dienstleistungen der russischen Bibliotheken
Elena Michailowna Jastrebova

Es gehört schon fast zum guten Ton, Artikel über aktuelle Probleme unserer Bibliotheken mit Klagen und Kritik anzufangen, und dies hat im Grunde genommen eine gewisse Berechtigung: die bibliothekarische Wirklichkeit bietet wenig Grund zur Freude. Aber auch in diesen schwierigen Zeiten gibt es im Bibliothekswesen wie in der ganzen russischen Gesellschaft nicht nur negative Entwicklungen. In erster Linie gehören dazu neue wirtschaftliche Prinzipien in der Führung und Tätigkeit der russischen Bibliotheken: Freiheit und Selbständigkeit bei Einnahme und Verteilung der finanziellen Mittel.

Seit dem Ende der 80er Jahre obliegt es den Bibliotheken zu entscheiden, wie groß der jeweilige Haushaltsposten ausfallen soll, wieviel Mitarbeiter mit welcher Qualifikation für die Erfüllung der Aufgaben notwendig sind. Das aus irgendwelchen Gründen nicht verbrauchte Geld wird in das Budget des nächsten Jahres als Zusatz übertragen. Außerdem ist es den Bibliotheken gestattet, selbst Geld einzunehmen, was minimal besteuert und entsprechend der Meinung des Rates des Arbeitskollektivs ausgegeben wird.

So sind unsere Bibliotheken teilweise wirtschaftlich arbeitende Institutionen geworden. Die Möglichkeit, mehrere auch unkonventionelle Finanzierungsquellen zu nutzen, kommt Bibliotheken zugute. Immer mehr Bibliotheken kassieren die Mahngebühren, die vorher bei uns kaum erhoben wurden, vermieten ihre freien Räumlichkeiten oder Fahrzeuge an Einrichtungen und Firmen, gehen joint ventures mit den IuD - und anderen Institutionen ein. Darüber hinaus stehen dem Nutzer kostenpflichtige (bezahlbare) Serviceleistungen zur Verfügung.

Die ersten Bestrebungen der Bibliotheken in diese Richtung traten noch vor der Perestrojka auf und verstärkten sich gemeinsam mit ihr. Die 1984 angenommene Verordnung über das Bibliothekswesen der UdSSR schrieb vor: Bibliotheken können neben der Grundversorgung kostenpflichtige Dienstleistungen anbieten. Sie gewährte die juridische Grundlage für die Durchführung des entsprechenden Experiments in einigen dafür ausgewählten Öffentlichen Bibliotheken verschiedener Regionen der Sowjetunion (Weißrußland, Lettland, Rußland u.a.). Die Ergebnisse des Experiments waren positiv, was den Ministerrat und das Kulturministerium der Sowjetunion veranlaßte, eine Reihe von Beschlüssen zu fassen, die den Sinn, die Formen, den Mechanismus der Berechnung erläuterten, und methodische Hinweise bei der Gestaltung dieser Dienstleistungen gaben. Vieles davon ist realisiert worden. Das Ziel dieser Neuerung lautet: Verbesserung der Arbeit der Bibliotheken für den Benutzer, Erhöhung ihrer Attraktivität und ihres Prestiges bei der Bevölkerung, aber auch relative Entspannung ihrer materiellen Lage.

Die gewöhnlichen bibliothekarischen Angebote (in einer Veröffentlichung des Kulturministeriums aus dem Jahre 1989 angegeben) bleiben nach wie vor kostenlos. Nur zusätzliche Dienstleistungen der Bibliotheken, verbunden mit der Befriedigung spezieller Bedürfnisse der Nutzer und größeren Anstrengungen des Personals, sollen bezahlt werden. Das Verzeichnis der möglichen kostenpflichtigen Dienstleistungen (ebenfalls vom Kulturministerium 1987 ausgearbeitet) enthält 27 Gruppen. Neben "rein" bibliothekarisch-bibliographischen (Anfertigung von bibliographischen Verzeichnissen, Beratung bei einzelnen, komplizierten Nachfragen, Zusammenstellung der Kataloge für Bücher, Periodika, Handschriften und Kunstsammlungen aus privatem Besitz, Lieferung der bestellten Bücher oder anderer Medien nach Hause usw.) sind hier "parabibliothekarische" Dienstleistungen zu finden, welche zur Entfaltung der Persönlichkeit des Nutzers beitragen (Musikinstrumente-, Sportgegenstände-, AV-Technikverleih, Planung von touristischen Besichtigungstouren).

Kostenpflichtige Dienstleistungen gibt es sowohl in Öffentlichen als auch in wissenschaftlichen Bibliotheken. Anzahl, Arten, Niveau, Preis mitunter der gleichen Dienstleistungen unterscheiden sich von Bibliothek zu Bibliothek und dürfen jedes Jahr (manchmal sogar gleich bei Erhöhung der Eigenkosten) verändert werden. Ein Beispiel: Anfang 1992 kostete die Frist-Verlängerung bei LV-Ausgaben in der Bibliothek für Naturwissenschaften der Russischen Föderation pro Einheit und Tag 50 Kopeken, in der staatlichen öffentlichen Bibliothek für technische Wissenschaften - unabhängig von der Dauer der weiteren Benutzung 1 Rubel 50 Kopeken. Vermutlich wird der Nutzer sich in Zukunft dort bedienen lassen, wo es für ihn am günstigsten ist und die Vor- und Nachteile der jeweiligen Bibliothek erwägen.

Je nach Umfang des Auftrags, Belastung des Personals, eigener oder fremder maschineller Ausrüstung wird der neue Service innerhalb oder außerhalb der Hauptbeschäftigungszeit ausgeführt. Als besonders gewinnbringend für Bibliotheken erweisen sich das Kopieren der Bibliotheksmaterialien, Videofilmverleih und Fremdsprachenzirkel. Gut bewährt hat sich auch das Nachtabonnement (Lesesaalmedienausleihen für eine Nacht).

Beim Einführen und Praktizieren der kostenpflichtigen Dienstleistungen gibt es Probleme und strittige Fragen - erstaunlicherweise sind sie der Diskussion der deutschen Bibliothekare auf der VBB-DBV-Tagung 1992 in Essen sehr ähnlich. Manchmal ist es ziemlich kompliziert, Grundversorgung vom "Luxus" zu trennen, trotz des oben erwähnten Verzeichnisses und der formulierten Kriterien: Überdurchschnittliches Niveau der Anfrage, das besonderen Personaleinsatz erfordert, Einmaligkeit der Anfrage. Das "verleitet" einige Bibliotheken, normale Benutzungsformen anders zu benennen und für kostenpflichtig zu erklären. Sogar mit Stolz auf ihre unternehmerischen Fähigkeiten erzählen manche Bibliotheksdirektoren, wie sie zu ihrem Geld kommen: prioritäre Ausleihe von Neuzugängen, Krimis, Bestsellern ausschließlich an dafür zahlende Nutzer. Diese Einstellung der Bibliothekare bringt mit sich die Gefahr, daß eines Tages die Nutzung der Öffentlichen Bibliothek grundsätzlich kostenpflichtig wird.

Auf der anderen Seite sind nicht alle Bibliotheken, die dies wünschen, in der Lage, kostenpflichtige Dienstleistungen anzubieten, da ihnen jegliche Voraussetzungen dafür fehlen (Kopierer, Kino- und Fotolabors, Räume, geschweige denn Hard- und Software). Das verursacht große Unterschiede bei den einzelnen Bibliotheken und kann zur Folge haben, daß die erfahrenen Bibliothekare schlecht ausgestattete Bibliotheken verlassen und sich dorthin begeben, wo die Arbeit lohnender ist.

Nicht alle Bibliothekare innerhalb einer Bibliothek, einer Abteilung beteiligen sich am Gewinn, was Spannungen und Konflikte verursachen kann, wenn eine vernünftige Lösung nicht gefunden wird.

Trotz dieser negativen Momente muß man konstatieren, daß im großen und ganzen kostenpflichtige Dienstleistungen, wenn sie nicht nur ausgesprochen kommerzielle Zwecke verfolgen, reelle anspruchsvolle Bedürfnisse der Nutzer decken, Elan, Schöpfertum und finanzielles Bewußtsein der Bibliothekare wecken und wesentlich das Angebot der Bibliothek bereichern.