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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Rußland

Moskauer Öffentliche Bibliotheken auf neuen Wegen
Martha S. Butkowskaja / Gisela Ewert

Einführung

Vom 24.04. bis 01.05.1993 veranstaltete das Goethe-Institut in Moskau ein Bibliotheksseminar, zu dem als Referenten Prof. Günter Beyersdorff, Direktor des Deutschen Bibliotheksinstituts in Berlin, Hannelore Jouly, Direktorin der Stadtbücherei Stuttgart, und Dr. habil. Gisela Ewert, Hochschullehrerin am Institut für Bibliothekswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, eingeladen worden waren1).

Im Rahmen dieses Seminars wurde auch eine Reihe von Exkursionen in die unterschiedlichsten Bibliotheken Moskaus durchgeführt. Dank dieser konnten sich die deutschen Gäste an Ort und Stelle über den russischen Bibliotheksalltag informieren, die Probleme und Veränderungen unmittelbar und in Gesprächen mit den russischen Bibliothekaren kennenlernen. Die solcherart gewonnenen Eindrücke waren sehr differenziert. Die Bemühungen um eine ideologiefreie Bibliotheksarbeit, die Öffnung hin auf die Benutzer und ihre individuellen Wünsche und Interessen konkurrierten durchaus noch mit Bestrebungen, sowjetische Bibliothekstraditionen zu konservieren und insbesondere die altgewohnten Erziehungstendenzen im Umgang mit den Lesern zu verteidigen.

Allerdings erscheint die Annahme berechtigt, daß - und zwar insbesondere in den Bibliotheksbereichen, die wir zu den Öffentlichen Bibliotheken rechnen - die Entwicklung zu einer liberalen Benutzerorientiertheit nicht mehr aufzuhalten ist.

Existentielle Probleme sind dabei - anders als bei Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland und explizit bei denen in den neuen Bundesländern - nicht die elementare Ursache für Veränderungen, sondern eindeutig geistig-ideologische. Im Bestreben, das bibliothekarische Denken der sozialistischen Vergangenheit abzulegen, werden z. T. überraschende Wege beschnitten.

Die 14 in einem Bibliothekssystem konzentrierten Bibliotheken im Moskauer Stadtteil Kunzewo sind dafür ein exorbitantes Beispiel. Hier wurde begonnen, nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu arbeiten.

Oberster Maßstab für jede Bibliotheksaktivität sind die Benutzerwünsche. Um diese zu realisieren, bietet die Bibliothek neben den traditionell gewohnten Bibliotheksdienstleistungen eine Vielzahl von speziellen Diensten an und diese größtenteils auf kommerzieller Basis. Der solcherart erwirtschaftete Gewinn fließt in den Bibliotheksfonds, um Gehälter und Benutzer-Service zu verbessern.

Über dieses praktische Beispiel für Marktwirtschaft im Bibliothekswesen informiert der nachstehende Beitrag, verfaßt von der Direktorin des Bibliothekssystems Kunzewo, Martha S. Butkowskaja.

Dies sind interessante Entwicklungen und progressive Beispiele, die m. E. Anlaß sein können, um aus deutscher Sicht Interesse für das russische Bibliothekswesen zu wecken und wachzuhalten und das durchaus im Bewußtsein der historisch traditionell guten Beziehungen zwischen deutschen und russischen Bibliothekaren und Bibliotheken.

Aussichten auf Erfolg im Bibliothekssystem des Moskauer Stadtteils Kunzewo

Politische, geistige und wirtschaftliche Veränderungen in Rußland beeinflussen zweifellos die Tätigkeit von Bibliotheken. Begrenzte Haushaltsmittel für Bibliothekszwecke, rasche und mehrmalige Preissteigerungen für Bücher, Waren, Dienstleistungen und die nicht stabile Gesellschaftssituation veranlassen die Bibliothekare, über ihre Arbeit mit den Bibliotheksbenutzern sowie über den Ausbau der Dienstleistungsmöglichkeiten und die Einführung der Leistungen gegen Bezahlung nachzudenken.

1990 begannen die Bibliotheken im zentralen Bibliothekssystem Kunzewo unter den Bedingungen völliger wirtschaftlicher Selbständigkeit zu arbeiten: Sie haben eine eigene Buchhaltung und ein eigenes Bankkonto; sie können selbständig ohne Bevormundung von oben ihre professionelle, wirtschaftliche und finanzielle Tätigkeit wahrnehmen. Das bedingte eine Veränderung in der Arbeit mit den Lesern.

Wir trafen den Entschluß, daß die ZBS-Bibliotheken vor allem Informations- und Erholungszentren sein müssen, in die jeder Einwohner unseres Stadtteils kommen kann, nicht nur, um in der Bibliothek zu arbeiten oder etwas auszuleihen, sondern auch, um hier angenehm seine Freizeit zu verbringen, sich mit Freunden zu unterhalten, sich Videofilme anzusehen, Musik zu hören und mit Schriftstellern und Poeten zu diskutieren.

Außerdem entschieden wir, daß in unserem Stadtteil mit 400.000 Einwohnern 6 - 7 Bibliotheken einen universalen Bibliotheksbestand besitzen sollen, die übrigen Bibliotheken hingegen jeweils Spezialbestände.

Entsprechend entstanden in unserem System solche Bibliotheken wie "Bibliotheks-Klub" für Kinder, die Bibliothek für die Familie, die Bibliothek der historischen und geistigen Wiedergeburt, die ökologische Bianki-Bibliothek, eine Genre-Bibliothek mit den Bestsellern der Kriminalliteratur, und es wird eine Bibliothek für begabte Kinder aufgebaut mit Namen "'Wunderkind".

Was für Bibliotheken sind das nun?

Der Bibliotheks-Klub ist nicht nur für die Versorgung der Kinder mit Büchern gedacht, sondern er bietet den Kindern auch viele Möglichkeiten für ihre Freizeitgestaltung. In der Bibliothek existieren 12 verschiedene Arbeitsgemeinschaften, Interessenklubs und Amateurvereinigungen für Kinder. Dazu gehören Studios der bildenden Künste, Fotozirkel, solche für Flugmodellsport und angewandte Kunst, Zirkel für Nähen und Sticken, für Musik, für die vorschulische Vorbereitung der Kinder usw. Abends, nachdem die Kinderbibliotheken geschlossen haben, tagen in denselben Räumen Arbeitsgemeinschaften für Erwachsene. Zweifellos ist das positiv für die Bibliotheken, da so ihre Räume nicht leerstehen, sondern gegen Bezahlung verschiedenen Interessenten zur Verfügung gestellt werden können.

Die Bibliothek für die Familie besitzt in unserem System den umfangreichsten Bestand zu Familienproblemen, Familienbeziehungen, Umgang mit "schwer erziehbaren" Kindern, Eheschließungen, psychologischen Fragen, Wirtschafts- und Finanzfragen der Familie usw. Familien können hier jede beliebige Information erhalten, darunter auch die über die in der Bibliothek neu erworbenen Bücher. In dieser Bibliothek findet auch ein vielseitiges Konzert- und Literaturprogramm statt, was immer mehr Familien in die Bibliothek führt.

Die Bibliothek der historischen und geistigen Wiedergeburt war die erste Bibliothek dieser Art in Rußland, wo man geistige und religiöse Bücher kennenlernen und ausleihen kann. Früher verfügten nur die Bibliothek des Moskauer Patriarchs und die Kirchenbibliotheken über solche Bücher; Massenbibliotheken besaßen nur atheistische Literatur. Die Bibliothek arbeitet ständig mit Kirchengemeinden zusammen, lädt kirchliche Mitarbeiter und Geistliche zu Gesprächen und Aufklärungsarbeit unter der Stadtteilbevölkerung ein und veranstaltet literarische Abende, die viele Menschen anziehen. Diese Bibliothek hat eine ihrem Charakter gemäße, von Künstlern gestaltete Einrichtung. Dank vielfältiger internationaler Beziehungen kann der Bestand ständig komplettiert werden.

Die ökologische Bianki-Kinderbibliothek ist ein Naturkunde-Zentrum, wo die größte Naturkunde-Büchersammlung entsteht. Die Bestände dieser Bibliothek werden nicht nur durch die Bücherverteilungs-Zentrale, sondern auch direkt durch Verlage, Privatfirmen und andere Quellen komplettiert. In der Bibliothek werden sogar Blumen, darunter auch seltene Arten, sowie viele Kleintiere, Vögel, Fische und Eichhörnchen gezüchtet. Die Bibliothek arbeitet mit den städtischen und Rayons-Naturkundeklubs zusammen. Sie veranstaltet auch Seminare und Kolloquia mit anderen Bibliotheken, die ebenfalls in dieser Richtung arbeiten.

Die Bibliothek "Bestseller aus der Kriminalliteratur" will die Leser an das Kriminalgenre heranführen. Man hielt bis vor kurzem dieses Genre für unseriös, die Leser genierten sich, offen zu sagen, daß sie mit Vergnügen solche Bücher lesen. Wir meinen aber, daß eine solche Lektüre interessant und spannend ist, Rechts- und Jurakenntnisse beinhaltet und nicht zuletzt eine Rolle bei der Jugenderziehung spielt. Jetzt bringen immer mehr Verlage Kriminalliteratur heraus, und wir erwerben sie auf der Grundlage direkter Verträge. In dieser speziellen Bibliothek arbeitet der Klub der Kriminalromanfreunde. Hier können sich die Liebhaber dieses Genres mit Schriftstellern und Journalisten treffen, sich Videofilme ansehen sowie ihre Meinungen austauschen. Die Bibliothek ist gemäß dem Genre eingerichtet. Beim Eintritt in die Bibliothek erwarten die Leser Abenteuer, Geheimnisse und Rätsel.

Mit Ungeduld erwarten die Stadtteilbewohner die Eröffnung der Kinderbibliothek "'Wunderkind" zu Beginn des neuen Schuljahres. Diese Bibliothek wird sich von den anderen Bibliotheken unterscheiden: die traditionelle Ausleihe und Lesesäle werden fehlen. Alle Bücher sind frei zugänglich aufgestellt, die Einrichtung ermöglicht das Lesen am Ort, die Auskunft und auch die Unterhaltung mit Freunden. Diese Bibliothek besitzt nicht nur Kinderliteratur, sondern auch Fremdsprachenliteratur, Literatur für bildende Künste, Belletristik, Geschäftsliteratur für künftige Unternehmer, naturwissenschaftliche und technische Literatur für Erwachsene und für diejenigen, die ein spezielles Interesse an diesem oder jenem Kenntnisbereich haben. In dieser Bibliothek sollen darüber hinaus mehrere Interessengemeinschaften und Bildungsstudios angeboten werden, z. B. Fremdsprachenkurse für Kinder, Schulen für junge Unternehmer, Arbeitsgemeinschaften für künstlerisches Schaffen.

Die Kunzewo-ZBS-Bibliotheken arbeiten bereits das zweite Jahr nach marktwirtschaftlichen Kriterien: Sie erweitern das Angebot von Leistungen gegen Bezahlung, um so den Benutzern ein breites Spektrum von Freizeitangeboten zu unterbreiten. Im Ergebnis dessen gelingt es der Bibliothek, ihre finanziellen und materiell-technischen Bedingungen zu verbessern.

In Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Dienstleistungsbereichen, Beratungsstellen und Künstler-Ateliers werden auf kommerzieller Basis vielfältige Bildungsmöglichkeiten angeboten. Dazu gehören Fremdsprachenkurse, Zirkel zur Vervollkommnung der Schulkenntnisse, künstlerische Interessengemeinschaften, Zirkel des technischen Schaffens, sogenannte Frauenarbeitsgemeinschaften für Nähen, Stricken, Sticken und Klöppeln. Großes Interesse finden auch die Beratungsstellen zur Vorbereitung der 5- bis 6-jährigen Kinder auf den Schulunterricht, in denen ihnen die Anfangskenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens, Malens usw. beigebracht werden.

Auf Grund solcher Aktivitäten vervollkommnet sich auch die Tätigkeit der Bibliothek als Kulturinstitution. Die Bibliotheken werden so besser von den Lesern des Stadtteils als Stätte der Literatur und Freizeitgestaltung akzeptiert.

Die ZBS-Bibliotheken beteiligen sich auch an der Betreuung der Kinder in Betriebs-Sommerferienlagern. Dafür bieten sie Literaturlesungen und Diskussionen sowie Exkursionsprogramme an. Auf der Grundlage von Verträgen mit den jeweiligen Betrieben, die diese Bibliotheksdienstleistungen finanzieren, erfolgt eine Kulturarbeit zu beiderseitigem Vorteil.

Enge Kontakte zu Verlagen sind eine weitere Finanzierungsquelle. Sie gestatten der Bibliothek einen viel billigeren Bucheinkauf und somit die Einsparung von Haushaltsmitteln. Die Eröffnung von Bücherkiosken in den Bibliotheken, in denen die Leser populäre Literatur billiger als sonst üblich kaufen können, bringt der Bibliothek zusätzlichen Gewinn.

Die neuen wirtschaftlichen Bedingungen führen dazu, daß die Bibliotheksmitarbeiter sorgfältiger mit den Bibliotheksbeständen umgehen; veraltete Bücher werden seltener makuliert. Häufiger werden die ausgesonderten Bücher zu reduzierten Preisen zum Verkauf angeboten.

Die neuen Verhältnisse führten zur Entstehung einer Abteilung für Bibliotheksmarketing in der Hauptbibliothek. Diese Abteilung betreibt die Werbung, die Kontaktarbeit zu öffentlichen Institutionen und die Vermittlung von Grundlagen zum Wirtschaftsrecht, zum Finanzwesen und zur Wirtschaftsführung an die Mitarbeiter und insbesondere an die jeweiligen Bibliotheksleiter. Die bisherigen Erfahrungen, die auf dem Gebiet des Bibliotheksmarketing in den Kunzewo-ZBS-Bibliotheken gemacht wurden, haben in der Öffentlichkeit reges Interesse gefunden. Man begegnet diesen Bemühungen mit Respekt; man konsultiert diese Bibliotheken bei entsprechenden Sachverhalten. Bezeichnend ist, daß sich bereits die ersten Sponsoren eingefunden haben, die bereit sind, interessante und perspektiv wertvolle Projekte und Veranstaltungen zu unterstützen.

Die außeretatmäßigen Mittel, die durch derartige kommerzielle Bibliotheksdienstleistungen erworben werden, ergänzen den Gehaltsfonds der Bibliotheken. Unsere Bibliothekare begreifen so, daß es von ihnen abhängt, ob es den Bibliotheken weiter gut gehen wird oder ob sie wie zuvor ein elendes Dasein fristen müssen.

Das Hauptziel ist jedoch, daß die Bibliothek Leser gewinnt.

Nachdem der neue Wirtschaftsmechanismus eingesetzt worden ist, streben die Kunzewo-ZBS-Bibliotheken nach Konkurrenzfähigkeit im Vergleich zu den privaten Leihbüchereien. Das ist durch die finanzielle Umgestaltung im ZBS und dank Einsatz, Willen und Energie aller derjenigen, die an grundsätzlicher Umgestaltung des Bibliothekssystems interessiert sind, zu erreichen.

1) Vgl. Macan, E.: Goethe-Institut Moskau : Informationsseminar über das deutsche Bibliothekswesen. - In: Buch u. Bibliothek 45(1993)8, S. 624