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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Mittel- und Osteuropa

Zum Spektrum der Zusammenarbeit mit Bibliotheken in Mittel- und Osteuropa

Hartmut Walravens

 
Unter dem Kürzel MOE (Kooperation mit Mittel- und Ost-Europa) ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Projekten durchgeführt worden, teils finanziert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF), aber auch vom Auswärtigen Amt.

Zu den Einrichtungen, die sich seit langem sehr effizient der bibliothekarischen Verbindungsarbeit angenommen haben, zählt die Bibliothekarische Auslandsstelle (BA) im Deutschen Bibliotheksinstitut (DBI). Ein besonderer Schwerpunkt ist dabei die Pflege der Beziehungen zu osteuropäischen Bibliotheken und Bibliothekaren. Das ist der BA verschiedentlich verübelt worden, da auch erheblicher Bedarf an Wissenstransfer aus dem angelsächsischen und skandinavischen Raum nach Deutschland bestehe. Dies ist sofort zuzugeben, und die BA hat entsprechende Bemühungen jederzeit und bereitwillig unterstützt.

Ein großer Teil der Übernahme von Neuentwicklungen und Trends besonders von Nordamerika ist indes in Deutschland Teil der täglichen Arbeit, und fast alle bibliothekarischen Veranstaltungen im In- und Ausland bemühen sich um diesen Transfer. Im Falle Ost- und Südosteuropas sind die Möglichkeiten immer noch wesentlich eingeschränkter, der Zwang zu Neuerung ist stärker, die Motivation in den Bibliotheken selbst ausgeprägter. Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Probleme zwingen dazu, jede Möglichkeit der Rationalisierung oder eines adäquaten Dienstleistungsangebotes aufzugreifen, um zu überleben.

Die traditionelle Verbundenheit und die topographische Nähe machen Deutschland und Österreich zu natürlichen Partnern, und das Zusammenwachsen Europas relativiert die existierenden Grenzen zumindest in Hinsicht auf den Informationsfluß bei wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Insofern ist die Kooperation auf dem Informationssektor schon aus objektiven Gründen ein Imperativ. Die multikulturelle Struktur der Bundesrepublik bietet dank der zahlreichen Umsiedler, Flüchtlinge und Immigranten die notwendige Sprachkompetenz für eine effiziente Zusammenarbeit, wie auch - trotz der Trendwende zugunsten des Englischen - Deutsch immer noch als wichtige Sprache in Ost- und Südosteuropa gelten kann.

Diesen Positivposten bei der Beantwortung der Frage: Warum gerade Deutschland (und Österreich) als Kooperationspartner?, stehen freilich andere Faktoren entgegen, die als eher hinderlich anzusehen sind: das deutsche Datenaustauschformat und die deutschen Katalogisierungsregeln. Da ist der Trend erbarmungslos an Deutschland vorbeigegangen, und Sachargumente zählen da wenig, nämlich daß RAK und MAB wesentlich qualitätvoller seien als die konkurrierenden Systeme. Die Realität ist schlicht, daß die angelsächsischen Systeme zwar nicht besser, aber verbreiteter sind, mehr Softwareoptionen bieten, wegen der Konkurrenz billiger sind, enorme Mengen an Datensätzen maschinenlesbar vorliegen und die Gesamtautomatisierung einer Bibliothek in relativ kurzer Zeit ohne aufwendige Eigenentwicklungen zulassen. Zudem ist meist für die Systempflege von der Entwicklerseite im Interesse der mehr oder weniger zahlreichen Kunden gesorgt. Sacherschließungssysteme sind relativ einheitlich, Schlagwörter und Notationen gehören zu den Aufnahmen; wer Daten liefert, darf auch Daten nutzen, heißt es bei den größeren Verbundsystemen, und zugleich werden die eigenen Bestände damit weltweit bekannt und zugänglich.

Wer Seminare im Ausland veranstaltet, wird natürlich gefragt: Warum macht man das in Deutschland nicht ebenso? Man kann diese Frage leicht zynisch ("scherzhaft verhüllend", wie der Duden sagt) oder diskret beantworten. Die erste Variante: "Die Deutschen sind zu reich; sie können es sich leisten, einen größeren Teil ihres Personals (in wissenschaftlichen Bibliotheken) in die Verwaltung zu stecken als andere Länder. Und weil sie anspruchsvoll sind, machen viele Universitätsbibliotheken ihre Sacherschließung nach unterschiedlichen Systemen selbst; natürlich leiden die Dienstleistungen darunter, aber die deutschen Nutzer sind so intelligent, sie brauchen so viel Hilfe gar nicht!" - Die andere Variante sagt entschuldigend: "Das hat alles historische Gründe; Kriege, Isolation, Neustrukturierungen; wir können unsere Kataloge nicht zum x-ten Male abbrechen, und wer würde unsere vielen Daten konvertieren? Wir setzen auf offene Systeme, die miteinander kommunizieren können, Schnittstellen und die moderne Technik, die alles löst!"

Eine ernsthafte Debatte solcher Äußerungen hat schon Abende gefüllt und soll hier gar nicht versucht werden; der Punkt hier ist vielmehr der, daß die Probleme, die deutsche Bibliotheken mit dem Westen haben, nunmehr auch im Osten bestehen. Denn der Osten (und Südosten), der Not gehorchend, mit wenig Aufwand möglichst viel zu erreichen, hat seine Wahl getroffen: angelsächsische Formate und Katalogregeln. Insofern sind Seminare, wie sie die BA in Osteuropa macht - ganz bewußt "sur place" - nicht nur eine Möglichkeit intensiven Austauschs mit Kollegen nahegelegener Länder, sondern mehr und mehr auch Erfahrungs- und Lerngelegenheit für die deutschen Referenten. Die Situation erinnert an das Wort eines deutschen Bibliothekars, der als "Hitleremigrant" nach Israel ging: "Ich war bestrebt, die beiden bedeutendsten Errungenschaften des deutschen Bibliothekswesens in Israel einzuführen, nämlich die PI und die Magazinaufstellung. [Übrigens zu ihrer Zeit bewunderungswürdige Einrichtungen!] Mit beidem bin ich gescheitert." Er hat übrigens dann vorzügliche Öffentliche Bibliotheken nach angelsächsischem Muster in Israel eingerichtet.

Nach diesen Gedanken, die deutlich machen sollten, daß die Sache mit den osteuropäischen Bibliotheken vielleicht doch nicht so einfach ist, wie das auf der Oberfläche scheint, nun zu konkreten Projekten und Leistungen. MOE ist in den letzten Jahren das Dach für eine Vielfalt von Einzelprojekten gewesen, die u. a. vom BMBF gefördert und vom DBI koordiniert und fachlich betreut werden. Darüber kann man sich in verschiedenen Publikationen und auf den Websites des DBI informieren. Nach der politischen Wende, also nach 1989, war die Hilfsbereitschaft westlicher Länder, auch Deutschlands, groß, und im Rahmen eines BMBF-Förderprogramms wurden osteuropäischen Bibliotheken aktuelle deutsche Bücher geschenkweise zur Verfügung gestellt, um das enorme Defizit zu beheben.

Im Oktober 1996 wurde dann vom BMBF das Projekt "Kooperation zwischen deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken und wissenschaftlichen Bibliotheken in Mittel- und Osteuropa sowie den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion" (MOE-Projekt) aufgelegt. Das Programm beinhaltet die Förderung deutscher Zeitschriftenbestände. In Absprache mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels werden für drei Jahre gewünschte Abonnements finanziert, mit der erklärten Absicht, diese später aus eigenen Mitteln der Empfänger fortzuführen. Hinzu kam die Unterstützung von 21 individuellen Kooperationsprojekten zwischen deutschen und osteuropäischen (auch kaukasischen usw.) Bibliotheken, die aus gegenseitigen Partnerschaften entstanden waren.

Außerdem wurde in Verantwortung des Goethe-Institutes, mit Mitteln des Auswärtigen Amtes, ein Projekt zur Einrichtung deutscher Lesesäle in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas durchgeführt. Dabei wurde ein Bestand unterschiedlicher Größe, etwa vergleichbar dem einer Goethe-Instituts-Bibliothek, zur Verfügung gestellt und die jeweilige Empfängerbibliothek verpflichtet, Fachpersonal (also im Normalfall 1 Betreuer) zu stellen.

Diese Förderprojekte verdienen Lob und Anerkennung, weil Kooperation und Begegnung, Kenntnis und Verständnis gewachsen sind und erhebliche Ressourcen den osteuropäischen Bibliotheken zum Nutzen ihrer Leser zugeflossen sind. Einige Einzelheiten führen indes in der Rückschau auch zu Fragen: Die gutgemeinte Hoffnung, nach drei Jahren könnten die osteuropäischen Bibliotheken die deutschen Zeitschriftenabonnements aus eigener Kraft fortsetzen, dürfte etwas zu sanguinisch gewesen sein - hier liegt es bestimmt nicht am guten Willen, aber an Wirtschaftslage, (mangelnden) Etats, Forschungsschwerpunkten. Ähnliches gilt für die Frage, ob die Fortführung und Entwicklung der deutschen Lesesäle als gesichert angesehen werden kann, d.h. daß sie attraktiv bleiben und genutzt werden.

Zu einem relativ späten Zeitpunkt des MOE-Projektes (BMBF) ist ein kleines Teilprojekt in Gestalt einer bilateralen Kooperation zwischen Staatsbibliothek zu Berlin und der Litauischen Nationalbibliothek (dann erweitert um die Lettische Nationalbibliothek) hinzugekommen. Hintergrund war weniger die bekannte, große Osteuropaabteilung der Berliner Bibliothek als vielmehr die Überlegung, ob die Zeitschriftendatenbank (ZDB), damals mit fast 800.000 Titeln, heute sich der Millionengrenze nähernd, eine Infrastrukturhilfe für osteuropäische Bibliothekssysteme sein könnte. Fast alle bedeutenden westlichen Zeitschriften (aus osteuropäischer Sicht damals und in gewisser Weise auch heute: Devisenzeitschriften) sind in der ZDB nachgewiesen, also könnten einheimische Bestände meist durch Ansigeln allgemein zugänglich gemacht werden. Sollten die Länder dann auch für die ZDB neue Titel einbringen wollen (wobei neben den nationalsprachigen Titeln an die z. T. erheblichen Bestände an deutschsprachiger historischer Literatur gedacht war/ist), dann wäre das ja durchaus von Vorteil. Die beiden Bibliotheken in Vilnius und Riga zeigten sich interessiert, und die Arbeit begann und hat sich bis in die Gegenwart positiv fortgesetzt.

Warum gerade das Baltikum als Kooperationspartner? Die Idee, mit der ZDB eine "Hilfe zur Selbsthilfe" zu initiieren und auf eine für beide Seiten nützliche Partnerschaft hinzuarbeiten, bedurfte eines Praxistests. Wer in Osteuropa gearbeitet hat, weiß, daß das Gelingen von Projekten nicht nur vom guten Willen der Partner, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, die landesspezifisch sind bzw. mit dem durchgreifenden, aber ja noch keineswegs abgeschlossenen Wandel des gesamten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Systems zusammenhängen. Da schienen kleine, überschaubare Länder sinnvoller als beispielsweise Rußland oder Polen, die damals wegen der hypertrophierten Diskussion um Trophäenliteratur als Testpartner nicht günstig erschienen.

Das Ergebnis des Tests: durchweg positiv. Dabei wurden überdies Erfahrungen gemacht, die für die weiteren Kooperationspläne fruchtbar werden sollten.

Ernsthafte Hindernisse bei jeder Kooperation sind die deutschen Datenformate und Katalogregeln. Solange keine Rücklieferung der Daten erwünscht ist oder die ZDB lediglich als Fremddatei zu bibliographischen Zwecken (Fernleihe, Dokumentenlieferung) genutzt werden soll, ist die Kooperation unproblematisch. Bei weitergehender Zusammenarbeit ist eine Reihe von gestuften Maßnahmen erforderlich.

Soweit Titel in Kyrilliza betroffen sind, bestehen in osteuropäischen Ländern eigene Kataloge, die nicht transliteriert sind. Ob sich dies in Zukunft aufgrund der neuen politisch-sprachlichen Orientierung ändert, erscheint zweifelhaft. Hier ist zu bedenken, daß große Bibliotheken (wie die LC) dem Trend zur Originalschrift folgen und Transliteration allenfalls als Sortierhilfe benutzen. Eine Einbeziehung kyrillischen Materials würde ein Umdenken bei der ZDB erfordern.

Die ZDB hat bisher mit einem komfortablen, aber durch die Bindung an den Großrechner BS 2000 nicht zukunftsweisenden System gearbeitet, das auch keine echte Nutzung der PC-Technik erlaubte. Die Entwicklung der Ablöse-Software hat sich verzögert, so daß erst seit Mai 1999 eine definitive Weichenstellung erwartet werden kann.

Im Zeitschriftenbereich wird die Lage zusätzlich dadurch kompliziert, daß die gegenwärtige, an sich optimale Konstellation einer angestrebten gleichzeitigen Revision von ISSN-System, ISBD(S) und AACR eine einheitliche internationale Lösung der Frage erlauben würde: Was ist ein Zeitschriftentitel? Im Moment scheint es, als wäre die AACR-Anwendergemeinde Neuerungen nicht hold, weil dadurch nicht unerhebliche Änderungen an der eigenen Praxis (und den DV-Systemen) erforderlich würden. Sollte es nämlich gelingen, zu einer weltweit einheitlichen Definition des Zeitschriftentitels zu gelangen, wäre es einfach, über internationale Standards (ISSN!) Datensätze auszutauschen, wodurch sich Unterschiede im deskriptiven Bereich oder bei der Sacherschließung relativieren würden - mit Hilfe der (eindeutigen) Identifikationsnummer könnte jederzeit (soweit vorhanden) der entsprechende Datensatz in der gewünschten Konfiguration eingespielt werden (z.B. auch in Originalschrift). 1)

Trotz dieser retardierenden Momente hat sich die ZDB entschlossen, mit einer etwas größeren Anzahl osteuropäischer Kollegen ins Gespräch zu kommen und die Möglichkeit der Nutzung der Datenbank (inkl. der Österreichischen Zeitungs- und Zeitschriftendatenbank / ÖZZDB) konkret zu diskutieren. Dank der Liberalität des Österreichischen Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (OSI) fand Ende April ein Symposium in Wien statt, bei dem Einzelheiten diskutiert wurden. Angestrebt sind eine Lösung der Schnittstellenprobleme (vielleicht mit Hilfe eines EU-Forschungsprojektes), eine Verknüpfung oder Schnittstelle mit dem europäischen Casa-Projekt sowie eine Förderung der Erfassung der Zeitschriftendaten in den einzelnen Ländern, was auch nur mit Hilfe von dritter Seite erfolgen kann.

In der Zwischenzeit wird sich hoffentlich im Detail die Software-Zukunft der ZDB klären, so daß das angestrebte Projekt eine feste Ausgangsbasis bekommt.

Es sei mehr en passant angemerkt - das wäre Thema einer eigenen Darstellung -, daß es ernsthafte Absichten gibt, die ZDB für Partner aus dem Archiv- und Informationsbereich sowie aus dem Handel zu öffnen, um mehr Synergieeffekte zu erzielen. Auch an eine Internationalisierung der Benutzerschnittstelle ist gedacht, genauso wie an eine Verknüpfung mit anderen Dienstleistungsangeboten.

Fast ein Nebeneffekt der geplanten ausgedehnteren Kooperation mit osteuropäischen Bibliotheken ist ein Näherrücken von ÖZZDB und ZDB. Als ersten Schritt hat die ÖZZDB die Verantwortung für die österreichische GKD-Redaktion bei der Österreichischen Nationalbibliothek übernommen; und die jetzige Migration der ÖZZDB wird nicht nur den Teilnehmern des Symposiums interessant sein, sondern auch der ZDB einen Vorgeschmack auf ihre nahe Zukunft geben.

Als positive Entwicklung in Deutschland (genauer: im deutschsprachigen Raum) ist zusätzlich das aktive Bemühen zu verzeichnen, ein "Forum Zeitschriften" aus der Taufe zu heben, eine Diskussions- und Arbeitsplattform für alle, die mit Zeitschriften zu tun haben, also hauptsächlich Verleger, Händler und Bibliothekare.2) Damit ergibt sich - nach dem Vorbild von UKSG und NASIG - die Option einer spartenübergreifenden Kooperation zum Nutzen der Allgemeinheit.

Zurück zu MOE - die vorstehende Plauderei dürfte gezeigt haben, daß das sehr zeitgemäße Projekt nicht nur den osteuropäischen Ländern zugute kommt, sondern auch Rückwirkungen in Deutschland hat, die hoffentlich weitere Früchte tragen werden.

 
1) Zu diesem Themenkomplex wird die Sektion für fortlaufende Sammelwerke der IFLA bei der Jahrestagung in Bangkok einen Workshop veranstalten.
2) Vgl. BIBLIOTHEKSDIENST 33 (1999) 4, S. 636 ff.


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