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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Lettland

Die Situation der Öffentlichen Bibliotheken in Lettland
Andris Vilks

Ich will versuchen, die grundlegenden Fragen und Probleme im Öffentlichen Bibliothekssystem Lettlands darzustellen.

Ich glaube nicht, daß es erforderlich ist, die geschichtlichen Aspekte hier noch einmal zu erwähnen, da hinlänglich bekannt sein dürfte, daß durch den Einfluß des totalitären Regimes für viele Jahre in meinem Lande die Förderung der kommunistischen Ideologie als der Hauptzweck der Bibliotheken angesehen wurde. Es waren nur die Traditionen des unabhängigen Lettlands der zwanziger und dreißiger Jahre, die einigen unserer Bibliotheken halfen, ihre Rolle als kulturelle Zentren aufrechtzuerhalten. Unter dem Vorwand, den Sowjetbürger zu schaffen, versuchten die Bibliothekare, die Lettische Kultur zu bewahren.

Vom Jahre 1988 an schlossen sich die Bibliotheken enthusiastisch dem Vorgang der Wiedergeburt Lettlands an, besonders die Öffentlichen Bibliotheken in den Provinzen. Die "Singende" Revolution der Jahre 1988-1989 war vorüber (sie wurde so genannt, weil die Revolution darin bestand, verbotene Lieder öffentlich zu singen), die Januar-Barrikaden waren abgeräumt, die Nationale Front gelangte zur Macht und die Unabhängigkeit Lettlands wurde - wie im Falle von Estland und Litauen - von der ganzen Welt anerkannt.

Dann kam die Periode der Erneuerung des Staatsgebildes. Bei diesem Vorgang stehen wir vor den gleichen Problemen wie alle anderen mittel- und osteuropäischen Länder. Eines davon ist die Schaffung von kommunalen Verwaltungen in Regionen, Städten und auf dem Lande.

Diese neue Situation bleibt nicht ohne Einfluß auf die Aktivitäten der Bibliotheken.

Um diese Situation zu ändern, ist die Lösung vieler Probleme erforderlich - das Gute sollte erhalten bleiben und gleichzeitig sollten neue Wege eingeschlagen werden.

Die gesamten Probleme können folgendermaßen aufgeschlüsselt werden:

Um diese Ziele zu veranschaulichen, werde ich Ihnen einige Beispiele nennen. Das lettische Parlament erließ ein "Gesetz für kommunale Verwaltung", womit die Öffentlichen Bibliotheken völlig in den Hoheitsbereich der kommunalen Behörden übergegangen sind.

Wir sehen uns Problemen gegenüber, die durch die drohende Schließung von Bibliotheken, durch Unfähigkeit bei dem Einsatz des Personals, und sogar durch Absonderlichkeiten wie die Unterbrechung der Telefonverbindungen in ländlichen Bibliotheken verursacht werden.

Es besteht ein dringender Bedarf für ein Gesetz für das Öffentliche Bibliothekswesen.

Eine besondere Situation besteht auch im Hinblick auf die Bibliotheksbestände. Bis zum Jahre 1940 bestand ein gutentwickeltes Bibliotheksnetz in Lettland. Es wurde völlig zerstört, da nur die wissenschaftlichen Bibliotheken die Möglichkeit hatten, die Publikationen aus der davorliegenden Periode (vor der sowjetischen Besetzung) aufzubewahren. Nach Aussagen der Wissenschaftler sollen in den Jahren zwischen 1940 und 1953 ca. 1 Million Bücher in Estland verschwunden sein. Anstelle der historischen Bestände, die eng verbunden waren mit der regionalen Kultur, wurden in allen Bibliotheken identische Bestände von Büchern und anderen sowjetischen Veröffentlichungen angeschafft, die die Lesegewohnheit zu einer Formsache machten.

Nachdem 1989 die Zensur aufgehoben wurde, wurde mit der Erneuerung der Bestände begonnen. Die Bibliotheken erwerben viele Publikationen aus den zwanziger und dreißiger Jahre bei Auktionen und für teueres Geld.

Nach 1940 publizierten die lettischen Emigranten (im Exil) im Westen ca. 6.000 Bücher, Zeitungen, Zeitschriften usw.

Bis 1983 gab es nur eine einzige Bibliothek in Lettland, die berechtigt war, zwei Exemplare jeder der obengenannten Publikationen aufzubewahren und dann nur in einer Spezialsammlung. Der Zugang zu dieser Sammlung war nur möglich mit der Genehmigung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sozialistischen Republik Lettlands. Seit 1989 treffen die mit Büchern beladenen Container in Lettland ein. Tausende von lettischen Veröffentlichungen wurden im Exil gedruckt.

Seit 1990 werden diese Publikationen über ganz Lettland verteilt, was zu einem rapide ansteigenden Interesse an Bibliotheken führte und auch das Prestige der Bibliotheken verbesserte.

Der nächste Schritt allerdings ist die Einstellung des Erwerbs von ausländischer Literatur aufgrund von Devisenmangel.

Auf der anderen Seite sind die Bibliotheken überladen mit bolschewistischen Publikationen, von denen ein Teil jetzt entfernt wird. Natürlich tun wir dieses nicht im Stil einer "Kulturrevolution". Der Hauptzweck ist, die Materialien über die Geschichte der UdSSR, der kommunistischen Partei, über wissenschaftlichen Kommunismus usw. an einen für sie geeigneten Platz zu schaffen, wie dies in allen demokratischen Ländern praktiziert wird.

Um die Bedürfnisse vor Ort zu befriedigen, ist es nicht weniger wichtig, die Möglichkeiten der Informationsvermittlung zu entwickeln, die mit technischen Problemen verbunden sind - der Entwicklung von Kommunikations- und EDV-Systemen. Diese Entwicklung ist bereits möglich in Gebieten, in denen Mittel in harter Währung zur Verfügung stehen.

Die Lettische Nationalbibliothek hatte während der ganzen Nachkriegsjahre die Oberaufsicht über die Öffentlichen Bibliotheken - die gleichen Kollaborateure (Methodikspezialisten), einmal die Assistenten, ein anderes Mal die Inspektoren. Jetzt haben wir diese zusätzliche Methodikfunktion gründlich beseitigt.

Die Nationalbibliothek wirkt mit an dem Entwurf eines "Gesetzes für Öffentliche Bibliotheken" und sie bereitet Normen und andere Standarddokumente vor, macht sich mit der weltweiten Erfahrung vertraut und informiert die Öffentlichen Bibliothek darüber - bei Vorträgen und Fortbildungskursen.

Im Jahre 1990 erhielten die Öffentlichen Bibliotheken von der Nationalbibliothek Lettlands fast alle Bücher, die in der Emigration publiziert wurden.

Im Jahre 1991 veröffentlichte die lettische Regierung ein Programm zur "Förderung der Datenverarbeitung in Lettland". Es geschah auf Initiative der Lettischen Nationalbibliothek, und unter den acht Sub-Programmen befindet sich auch ein Programm zur "Förderung der Datenverarbeitung in Bibliotheken". Auch die Belange der Öffentlichen Bibliotheken sind in diesem Programm enthalten - Schritt für Schritt.

Zusammen mit dem Ministerium für Kultur und dem Lettischen Bibliotheksverband unterstützt die Lettische Nationalbibliothek die Öffentlichen Bibliotheken, indem sie auf die kommunalen Behörden einwirkt.

Im Jahre 1989, nach 49 Jahren, nahm der Lettische Bibliotheksverband seine Arbeit wieder auf. Die Bibliothekare aus den Provinzen sind die aktivsten in diesem Verband.

Dank diesem Verband und dank der Rückkehr zur IFLA haben nun viele Bibliothekare die Gelegenheit, kurzfristig aus den Erfahrungen der Öffentlichen Bibliotheken vieler Länder zu lernen.

Der Verband ist weniger erfolgreich beim Schutz der Interessen der Bibliothekare in den örtlichen Kommunen. Es gibt jedoch einige sehr aktive regionale Organisationen, die enge Verbindungen zu den städtischen Behörden aufnehmen.

Wir haben noch einen sehr schwierigen Weg vor uns, aber es besteht kein Zweifel daran, daß die Öffentlichen Bibliotheken sich in Zukunft zu Kultur-, Informations- und Bildungszentren in ihren örtlichen Kommunen entwickeln können.