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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Großbritannien

Bibliotheken in der Lerngesellschaft -
Der Dearing Report "Higher education in the learning society" und seine Bedeutung für Bibliotheken
Katarina Steinwachs

In erster Linie war es eine finanzielle Krise, die 1996 die damalige britische Regierung mit Zustimmung der Opposition dazu bewog, eine Kommission ins Leben zu rufen, die von einer Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Zustandes des britischen Bildungswesens ausgehend Empfehlungen für dessen zukünftige Entwicklung geben sollte. Als unbefriedigend wurde angesehen, daß durch die Zunahme der Studierenden in den letzten zwanzig Jahren die Gelder pro Student um 40 % zurückgegangen sind, daß es eine ungerechte Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitstudenten gibt (erstere zahlen keine Studiengebühren, letztere doch) und daß im Vergleich zu anderen Ländern - besonders den Vereinigten Staaten und einigen asiatischen Ländern - die Eingangsrate von Schulabgängern ins Hochschulwesen zu niedrig sei.

Eine sechzehnköpfige Kommission, deren Mitglieder aus dem Bildungswesen und der Wirtschaft kamen, nahm im Mai 1996 unter Leitung von Sir Ron Dearing ihre Arbeit auf. Sie sollte ihre Empfehlungen im Sommer 1997 unter Berücksichtigung folgender Zielvorgaben vorlegen:

Nach fünfzehnmonatiger Tätigkeit in Arbeitsgruppen und bei Arbeitstreffen in anderen Ländern (u. a. Australien, Frankreich, Deutschland, Japan und die USA) legte die Kommission am 23. Juli 1997 ihren Bericht "Higher education in the learning society" (kurz: Dearing-Report) vor, auf den die Regierung noch am selben Tag reagierte. Sie kündigte einen "New Deal" für die Hochschulbildung an, der neue Finanzierungsformen für die Universitäten, freien Zugang zu Hochschulbildung für finanzschwache Studenten, keine größere Belastung als bisher für die Eltern und ein faires System für die Rückzahlung von gewährten Zuschüssen umfassen soll. Bezüglich der Hochschulfinanzierung hat die Regierung sofort beschlossen, zum Studienjahr 1998/99 Studiengebühren in Höhe von 1.000 britischen Pfund pro Studienjahr für alle Studenten einzuführen, die allerdings in Abhängigkeit vom Elterneinkommen niedriger sein können.

Außerdem plant die Regierung eine ausführliche Erwiderung auf den Dearing- Report in Form eines Weißbuches zum lebenslangen Lernen.

Dearings Vision von einer Lerngesellschaft

Das Schlüsselkonzept des Dearing-Reports ist die Lerngesellschaft, in der Menschen jedes Lebensalters die Notwendigkeit erkannt haben, sich sowohl angesichts ihrer beruflichen Herausforderungen, als auch aus ganz persönlichem Interesse heraus während ihres gesamten Lebens fort- und weiterzubilden. Aus Sicht einer europäischen industriellen (oder post-industriellen) Gesellschaft betont Dearing die entscheidende Bedeutung, die der Entwicklung der Lerngesellschaft zukommt, da die Menschen eines Landes der einzige Wettbewerbsvorteil in unserer zunehmenden globalen Wirtschaftswelt sind, der sich, anders als Produktionsprozesse und Serviceleistungen, nicht beliebig transferieren läßt.

Von dem Hochschulwesen muß in unserer Zeit erwartet werden, flexibel auf die Bedürfnisse von Studenten und Kunden (z. B. der Arbeitgeber und Forschungsauftraggeber) zu reagieren, sich der Gesellschaft verpflichtet zu fühlen, allgemein anerkannte Qualifikationen und Bildungsabschlüsse zu vergeben, Partnerschaften mit dem öffentlichen und privaten Sektor einzugehen, selbst hochkarätiges Personal einstellen, motivieren und weiterentwickeln zu können, sowie das Potential der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien voll auszunutzen.

Die im internen und externen Umfeld der Hochschulen erkannten Herausforderungen umfassen in erster Linie die gestiegenen Studentenzahlen (in GB 1,1 Millionen Vollzeitstudenten, 0,5 Millionen Teilzeitstudenten), die nicht immer genügende methodische Qualifikation der Hochschullehrer, unzureichende Ressourcen (darunter Bibliotheken), die globalen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaftsstruktur, den Rückgang der öffentlichen Finanzen sowie die schnelle Entwicklung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien und die Notwendigkeit, sie effektiv ins Bildungswesen zu integrieren.

Der Report bescheinigt dem britischen Hochschulwesen allerdings insgesamt einen guten Zustand, der auch durch Flexibilität und Offenheit für Diskussionen und Veränderungen gekennzeichnet ist.

Dearing und Informationsmanagement

Der Report gibt insgesamt 93 Empfehlungen für eine Vielzahl von Bereichen, z. B. zu Studentenzahlen, Lehre, Studiengängen, Studienabschlüssen und Standards, Forschungsförderung, Kommunikations- und Informationstechnologie, Personal im Hochschulwesen, Verwaltung und Leitung von Hochschulen sowie Finanzierung des Hochschulwesens.

Für den Bibliotheksbereich sind besonders die Empfehlungen zur Verbesserung von Lehre und Lernen, der Nutzung von Kommunikations- und Informationstechnologien sowie zur Universitätsverwaltung relevant.

Dearing sieht das Potential der Kommunikations- und Informationstechnologien vor allem in einer Verbesserung der Qualität von Lehre und Forschung, der Qualitätsverbesserung des Hochschulmanagements und, möglicherweise, einer langfristiger Kostenreduzierung. Er empfiehlt, daß alle Hochschuleinrichtungen bis 1999/2000 eine umfassende Kommunikations- und Informationsstrategie entwickelt haben sollen, die auf den bereits heute von JISC angeregten Strategien aufbauen (siehe weiter unten). Die Initiative dazu muß von der Hochschulleitung ausgehen und durch die eigentlichen Ziele der Hochschule bestimmt sein, nicht in erster Linie von der Technologie und den IT Spezialisten. Diese Informationsstrategie muß die Informationsressourcen (Bibliotheken, hochschulinterne Information), die Kommunikation von Studenten, Hochschullehrern und der Verwaltung, die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien sowie die Entwicklung effektiver Management-Informationssysteme umfassen. Dazu ist es erforderlich, daß das Führungspersonal der Hochschulen neben Leitungserfahrung und -fähigkeiten ein tiefgehendes Verständnis für das Potential der neuen Technologien hat. Da nur wenige der gegenwärtigen Führungskräfte eine Kombination dieser beiden Fähigkeiten aufweisen, empfiehlt Dearing, diese entweder von außen an die Hochschulen zu bringen, oder mit speziellen Maßnahmen intern zu entwickeln.

Bezüglich der Informationsstruktur empfiehlt der Report den weiteren Ausbau der elektronischen Netzwerke, die von Hochschuleinrichtungen als Informationsquelle, zur Vermarktung ihrer Institution, zur Unterstützung des Lehrens, Lernens und der Forschung sowie für interne Managementprozesse zu nutzen sind. Das Electronic Libraries Programm (siehe weiter unten) soll weiter ausgebaut werden. Es wird besonders auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei der Verhandlung von Lizenzverträgen zum Beispiel für den Zugang zu Datenbanken zusammenzuarbeiten sowie die Kooperation mit dem Verlagssektor neu zu regeln. Dies gilt auch besonders bezüglich des Urheberrechts, wobei Dearing besonders auf die Thematik des Urheberrechts an dem geistigem Eigentum eingeht, welches von Hochschulangehörigen im Rahmen ihrer arbeitsrechtlichen Verpflichtungen geschaffen wurde (z. B. Artikel in Fachzeitschriften) und für welches in vielen Fällen das Urheberrecht beim Arbeitgeber, d. h. der Universität liegen sollte.

Eine weitere Empfehlung betrifft die Ausstattung der Studenten mit vernetzten Computern. Es wird empfohlen, daß bis zum Jahr 2001 das Verhältnis von öffentlich zugänglichen Computern zu Studenten 1:10 betragen, und daß bis zum Jahr 2005 jeder Student seinen eigenen Laptop haben soll.

Für die Verbesserung des internen Managements der Hochschulen sieht Dearing großes Potential bei der effektiven Nutzung von Kommunikations- und Informationstechnologien im Bereich der Verwaltung der Ressourcen und der besseren Selbstverwaltung. Dies bezieht sich vor allem auf die Organisation von Forschungstätigkeiten, auf externe Beratungsdienste (Consultancy), auf die Optimierung der Verwaltung und Nutzung universitätseigener Liegenschaften, auf die Erhebung und Auswertung von Statistiken, die Online-Immatrikulation, und die Schaffung eines "single learner record", d. h. einer einzigen elektronischen "Akte" für Studenten, in die alle universitätsrelevanten Daten eingegeben und gespeichert werden.

Bereits 1993 sind Bibliotheken durch den sog. "Follett-Report" in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, und Sir Brian Folletts Empfehlungen haben einerseits zu einem beachtlichen Bibliotheksbauprogramm, andererseits zur Schaffung des Electronic Libraries Programms geführt, das Projekte in den Bereichen elektronische Dokumentenlieferung, elektronische Zeitschriften, Digitalisierung, Publizieren on-demand, Fortbildungsmaßnahmen sowie den Zugang zum Joint Academic Network (JANET und SuperJANET) fördert. Koordiniert wird das Programm, wie auch das Management von JANET und SuperJANET, von einer nachgeordneten Abteilung der sog. Funding Councils, dem Joint Information Systems Committee (JISC). JISC ist ebenfalls beratend tätig bei der Entwicklung von Informationsstrategien, die alle Universitäten in der Zukunft entwickeln sollen. Die so bereits erzielten Ergebnisse werden vom Dearing-Report positiv bewertet und es soll auf ihnen aufgebaut werden.

Die britischen Bibliotheken sehen bei sich selbst das Potential, einen wichtigen Beitrag zu den vorgeschlagenen institutionsweiten Informationsstrategien zu leisten, die auf den vom Follett-Report empfohlenen aufbauen können. Auch werden die Bibliotheken die Hauptakteure bei der Bereitstellung der vernetzten Computer für die Studenten sein und eine wichtige Rolle bei der Evaluierung der Methoden zur Verbesserung der Veröffentlichung und Bereitstellung elektronischer Dokumente spielen. Bibliotheken müssen für die Anerkennung ihrer wichtigen Rolle bei der universitären Forschung kämpfen, und es wird gefordert, daß die Existenz guter Bibliotheksdienstleistungen ein wichtiges Kriterium bei der Qualitätsbewertung von Hochschulen sein muß. Die schon existierenden umfangreichen Programme zur Nutzerschulung durch die Bibliotheken bieten die Grundlage für ihre mögliche und wünschenswerte Integration in die einzelnen Studiengänge.

Eines der Ergebnisse des bereits erwähnten Follett-Reports war die Zusammenführung von Rechenzentrum und Universitätsbibliothek an vielen Einrichtungen, oft unter Leitung der Bibliothek. In anderen Fällen sind sogar noch weitere Komponenten zu dieser Abteilung hinzugekommen, wie z. B. Entwicklungszentren zur Herstellung und für den Einsatz von (multimedialen) Lehrmaterialien. Diese Entwicklung hat dazu geführt hat, daß einzelne Institutionen sogar auf den Namen Bibliothek zugunsten des Namens Learning Centre verzichtet oder Bezeichnungen wie Library and Learning Centre gewählt haben. Diese Entwicklungen werden durch Dearing bestärkt. Er hat zur Verbesserung der Qualität der universitären Lehre die Schaffung eines Instituts zum Lernen und Lehren im Hochschulwesen (Institute for Learning and Teaching in Higher Education) mit einem Schwerpunkt auf dem Einsatz von neuen Technologien für die Lehre empfohlen, in dessen Entwicklung sich die Bibliotheken mit ihrer Erfahrung bei der Unterstützung des Lernprozesses durch Nutzerschulungen, besonders bei der effektiven Nutzung von Informationstechnologie, einbringen können.

Außerdem sehen ehrgeizige Bibliotheksmitarbeiter eine Chance für die eigene berufliche Entwicklung in Dearings Forderung, daß die Universitätsleitung Führungsfähigkeit und Verständnis für das Potential neuer Technologien besitzen muß.

Zusammenfassung und abschließende Überlegungen

Die Bedeutung, die der Dearing-Report dem effektiven Einsatz der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien zuweist, bietet den Bibliotheken die Chance, ihr Wissen und ihre Erfahrungen beim Umgang mit neuen Technologien und in der Entwicklung von Informationsstrategien einzubringen. Die in den letzten Jahren verstärkte Orientierung auf die aktive Unterstützung von Lernenden und die Integration von oder Zusammenarbeit mit Abteilungen zur Herstellung von Lehrmaterialien in die Arbeit der Bibliotheken ist eine weitere Stärke im Hinblick auf Dearings Empfehlungen. Wesentlich wird jetzt sein, wie es den Bibliotheken gelingen wird, die Entscheidungsträger von ihrer Kompetenz bei der Realisierung der Empfehlungen zu überzeugen und wie diese sich dann konkret auf die Arbeit und Rolle der wissenschaftlichen Bibliotheken auswirken werden.

Der Report über den Besuch einer Arbeitsgruppe der Dearing-Kommission in Deutschland weist trotz genereller Schwierigkeiten, beide Bildungssysteme zu vergleichen, auf eine Anzahl von Forderungen hin, die besonders auch von seiten der Industrie an eine Reformierung des Hochschulwesens in Deutschland gestellt werden und hierin mit den britischen Herausforderungen vergleichbar sind. Dazu gehören:

Auch in Deutschland finden Diskussionen zu Veränderungen der Informationsinfrastruktur im Hochschulwesen und den damit verbundenen Herausforderungen für die Informations- und Kommunikationseinrichtungen statt (vgl. Cordes). Vergleichbar sind darüber hinaus Projektansätze zur Weiterentwicklung der Bibliotheken, die in Deutschland durch Programme des BMBF und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Verteilte digitale Forschungsbibliothek), in Großbritannien durch das JISC (Electronic Libraries Programme) und die British Library gefördert werden. Ein umfangreicher deutsch-britischer Erfahrungsaustausch auf diesem Gebiet hat sich in den letzten Jahren, unterstützt auch durch den British Council, in Form von gemeinsamen Tagungen, Studienreisen und Arbeitsaufenthalten entwickelt. Angesichts der vergleichbaren Herausforderungen wird es jetzt für die deutschen Bibliotheken interessant sein, den weiteren Entwicklungen und Initiativen als Ergebnis des Dearing-Reports in Großbritannien zu folgen und sie in diesen Erfahrungsaustausch einzubeziehen.

Der Dearing-Report bildet den nationalen Kontext für eine vom 29. Juni bis 1. Juli 1998 an der Universität in Bath stattfindenden Konferenz "Information landscapes for a learning society - networking and the future of libraries", auf welcher Themen wie die Entwicklung der digitalen Bibliothek, die Speicherung von Wissen, der informierte Bürger sowie der Informationsaustausch über Netze die Schwerpunkte sein werden.

Weitere Informationen

Cordes, Eilhard: Infrastruktur im Wandel - Herausforderungen für die Hochschulen und ihre Informations- und Kommunikationseinrichtungen. In: Bibliotheksdienst 31 (1997), S. 2151 - 2157.

Government responds to Dearing Committee report on higher education, Pressemitteilung des Department for education and employment,
Internet: http://www.coi.gov.uk/coi/depts/GDE/coi1027d.ok.

Higher Education in the learning society, Report des National committee of inquiry into higher education,
Internet: http://www.leeds.ac.uk/educol/ncihe.

Shepherd, Roddie: All you need to know about the Dearing Report. In: Library Association Record, Vol. 99 (9), 1997,
Internet: http://www.la-hq.org.uk/dearing.htm.

Joint Information Systems Committee, Internet: http://www.jisc.ac.uk.

Weitere Informationen zur Konferenz "Information landscapes for a learning society" unter: Internet: http://www.ukoln.ac.uk.