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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Großbritannien

Users First
Rita Hesse / Kornelia Nagel

Zwei Praxissemester im Land der "Ladies and Gentlemen"

Zwei Hamburger Studentinnen sammelten in den Sommersemestern 1990 und 1991 Erfahrungen in der Templeman Library der University of Kent at Canterbury.

Trotz einer gewissen zeitlichen Distanz sind die positiven Eindrücke - von einem herzlichen Willkommen, ständiger Hilfsbereitschaft und freundlicher Unterstützung in nicht nur bibliothekarischen Fragen, bis hin zu einer Abschlußparty - nicht verblaßt.

Auf einer Anhöhe am Stadtrand einer der schönsten Kathedralenstädte Englands gelegen, bietet die University of Kent ihren etwa 5.000 Studenten und 600 Mitarbeitern einen einmaligen Blick auf Canterbury und die Landschaft, die der "Garten von England" genannt wird.

Die Universität bildet einen Gegensatz zum mittelalterlichen Stadtkern. Sie wurde Anfang der 60er Jahre erbaut und ist eine der neueren Universitäten Englands. Betritt man den Campus, wird nicht nur das Auge der Bibliothekarin auf das mächtige, im Mittelpunkt liegende Gebäude gelenkt: die Bibliothek.

Die Templeman Library hat fast 100 Mitarbeiter und einen Bestand von über 700.000 ME, der Mikrofilme, Videos, Kassetten, Rara und Nachlässe, Parlamentsveröffentlichungen u.ä. und eine große Diasammlung umfaßt. Außerdem wurde die Bibliothek zu einem EDC (European Documentation Centre) ernannt.

Fast der ganze Bestand steht in Freihandaufstellung auf vier Stockwerke verteilt. Besonders begehrte Bücher sind in Mehrfachexemplaren für eine 24-Stunden-Ausleihe in der "Reserve Collection" zusammengefaßt. Dies ermöglicht den Studenten, spätestens am nächsten Tag das gewünschte Buch in den Händen zu halten, allerdings kann es auch nur für einen Tag ausgeliehen werden.

Das Ziel, den gesamten Bestand mit Hilfe der Bibliothekssoftware der Cambridge University Library über den Opac CATS (CATalogue Search) anzubieten, ist fast erreicht. Für die Benutzer stehen über 35 Terminals zur Verfügung. Durch den Anschluß an das Universitätsnetz ist der Opac allen Terminals auf dem Campus zugänglich. Das System ist auch an JANET (Joint Academic NETwork) angeschlossen und damit im ganzen Land erreichbar.

Die Ausleihverbuchung (LOANS) ist nicht mit dem Opac CATS gekoppelt, da der Bibliotheksrechner nicht die notwendige Kapazität für beides hatte. Das bedeutet aber z.B. für einen Studenten, daß er, nachdem er ein Buch im Opac gefunden hat, erst aus CATS ausloggen muß, um dann in LOANS einzuloggen und herauszufinden, ob das Buch ausgeliehen ist oder wieviel Exemplare vorhanden sind.

Die Bibliothek ist aber bereits bemüht, ein integriertes Bibliothekssystem zu finden und zu kaufen. Die Frage ist nur, ob es eines gibt, das den selbstgestellten Ansprüchen genügt und ob die notwendigen Gelder für die Anschaffung vorhanden sind.

Die Bibliothekssoftware sollte außerdem noch Programme zur Zeitschrifteneinarbeitung sowie für die Erwerbung haben, die bis jetzt noch nicht automatisiert sind.

Zur Freude der Praktikantinnen steht noch mehr Software zur Verfügung und erhöht damit die Möglichkeiten, Neues dazuzulernen. Die zunehmende Zahl an CD-ROMs steht auch den Studenten zur Verfügung. Es gibt z.B. JUSTIS und PSYCLIT sowie BOOKBANK (British books in print) und OED (Oxford English Dictionary). In einigen der laufenden Vorlesungen werden besonders Studienanfänger, aber auch Diplomanden von ihren Professoren dazu angehalten, die CD-ROMs zu benutzen, indem sie sie dem Kurs vorstellen und schriftlich bewerten müssen.

Bei Online-Recherchen ist es nur erlaubt, dem "subject librarian" über die Schulter zu gucken. Die Universität bezahlt einen Grundbetrag (£ 15) bei kostenpflichtigen Recherchen z. B. in DIALOG. Das macht das Angebot für viele Studenten attraktiver.

Eine Erleichterung beim Katalogisieren stellt die Übernahme von Fremddaten aus der British Library oder anderen Bibliotheken dar, die aus den Datenbanken BLAISE (British Library Automated Information SErvice) und dem kostenlosen CURL (Consortium of University Research Libraries), herausgezogen werden. Es muß zu diesen Datensätzen nur noch der Lokalsatz ergänzt werden. Ist ein Buch in diesen Datenbasen nicht auffindbar, wird selbst eine Titelaufnahme nach dem UK MARC (United Kingdom MAchine Readabte, Cataloguing) Manual verfaßt.

Besonders beeindruckend ist das Lancaster-Fernleihverwaltungssystem, das eine sehr benutzerfreundliche Oberfläche hat und den "Papierkrieg" unnötig macht. Die Fernleihbestellungen werden eingegeben und via ARTTel (Automated Request Transmission by Telephone) zur Zentrale der britischen Fernleihe, dem BLDSC (British Library Document Supply Centre) geschickt. Dort können in der Regel 95% der Anfragen erfüllt werden, die restlichen 5% werden vom BLDSC an andere Bibliotheken verwiesen, die das Gewünschte im Bestand haben könnten. Liegt das Buch nach durchschnittlich vierzehn Tagen auf dem Tisch, gibt der Rechner die Ausleihfrist, unter Berücksichtigung der Zeit für den Postweg, an. Die Möglichkeiten sind unerschöpflich, es werden beispielsweise auch automatisch jeden Morgen Mitteilungen für diejenigen ausgedruckt, die die Ausleihfrist überschritten haben, oder Informationen, daß man auf der Warteliste inzwischen an der ersten Stelle steht usw.

Ob es darum geht, zu erfahren, was die lieben Kollegen in der Erwerbungsabteilung eigentlich den ganzen Tag tun, oder wie man diesen kleinen silbernen Scheiben, genannt CD-ROM, den Katalog der British Library, das World Fact Book oder Shakespeare-Zitate entlocken kann, ob die Fernleihe plötzlich online abgewickelt wird und die Bestellungen in Dateien gespeichert werden, oder ob man immer schon genau wissen wollte, welche Zeitungen aus aller Weit die eigene Bibliothek eigentlich laufend hält, dies alles ist ein Fall für die "Staff Training and Development Group". Sie hat sich das Ziel gesetzt, die Mitarbeiter auf dem Laufenden zu halten, über alles, was sich in der Bibliothek so tut. Dabei spielt vor allem die Einführung neuer Technologien eine Rolle, mit der man die Mitarbeiter vertraut machen möchte. Sie sollen wirklich Nutzen daraus ziehen können und sie auch im Umgang mit Benutzern sicher zu handhaben wissen.

Die Sitzungen, die meistens eine halbe Stunde dauern und während der Arbeitszeit stattfinden, werden zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt, so daß jede eine Gelegenheit bekommt, daran teilzunehmen und teilnehmen sollen alle.

Die "Staff Training and Development Group" widmet sich aber auch der verbesserten Kommunikation zwischen Bibliothekar und Benutzer. Auf kurzen sogenannten "trigger videos" werden Situationen aus dem bibliothekarischen Alltag vorgeführt: eingeschliffene Verhaltensweisen auf seiten der Bibliothekare, aber auch schwierige Benutzer. Anschließend wird in Gesprächen geklärt, was wie verbessert werden könnte. Jährlich wird auch ein "Reader Survey", eine Benutzerbefragung, durchgeführt, um Kritikpunkte der Benutzer gegenüber der Bibliothek herauszufinden.

Über eines können die Benutzer sich jedoch kaum beklagen, über mangelndes Bemühen von seiten der Mitarbeiter der Templeman Library. Schon die Öffnungszeiten können sich sehen lassen. Während der Vorlesungszeit, die sich ja hier auf Trimester verteilt, ist während der Woche von 9 - 22 Uhr geöffnet, samstags bis 19 Uhr, und sogar an Sonntagnachmittagen steht die Bibliothek den lernbegierigen oder prüfungsgeplagten Studenten und anderen wissenschaftlich arbeitenden Menschen bis 21 Uhr offen.

Auch während der vorlesungsfreien Zeit halten die Öffnungszeiten immerhin noch das Niveau der meisten deutschen Bibliotheken. Wie machen die das, fragen sich die in dieser Beziehung nicht gerade verwöhnten Praktikantinnen aus Deutschland.

Nun, es gibt spezielles Abend- und Wochenendpersonal, bestehend aus Hausfrauen, Schülern und anderen Zeitgenossen, die sich gern ein paar "pounds" dazu verdienen möchten. So bleiben die Freihandbestände und die Lesesäle auch nach Büroschluß, um 17 Uhr, zugänglich, und es können bis zur Schließung der Bibliothek Bücher ausgeliehen werden. Bibliothekarisch betreut werden diese Abend- und Wochenstunden ebenfalls, so daß auch noch mal eine Auskunft eingeholt werden kann.

Benutzerbezogenheit offenbart sich aber nicht nur in entgegenkommenden Öffnungszeiten. Es wird auch eng mit den Wissenschaftlern und Studenten im Bereich der Dienstleistungen der Bibliothek zusammengearbeitet. So werden Benutzerschulungen (reader instructions) durchgeführt, Bücher und Vorlesungen auf Kassetten für Teilzeit-Studenten zusammengestellt und eine Bereitstellung von Kurslektüre nach sogenannten "reading lists" garantiert. Schließlich gibt es noch das schon beschriebene "staff training", welches ja nicht nur den Mitarbeitern, sondern letztlich auch den Benutzer zugute kommt.

Als einleuchtendes Beispiel kann vielleicht die Arbeit der "Fach"-Bibliothekarin (subject librarian) für Rechtswissenschaft, Politologie und Internationale Beziehungen dienen. Sie erstellt zahlreiche Auswahlbibliographien zu ihren Fächern in Form von Faltblättern. Diese Form hat auch das regelmäßig hergestellte "Law Library Bulletin", die Informationsquelle über Neuerwerbungen der Bibliothek auf diesem Gebiet. Als eine ihrer Hauptaufgaben sieht die "Fach"-Bibliothekarin die Benutzerschulung an, weil die Literaturstruktur des angelsächsischen Rechts sehr kompliziert ist. Sie erstellte deshalb die Broschüre "Law Research", eine generelle Anleitung für die Suche nach rechtswissenschaftlicher Literatur. Die Studenten werden nach einer Einführung auch ermutigt, Online-Recherchen in der Volltextdatenbank LEXIS durchzuführen, in der sie in diesem Fall selbständig recherchieren dürfen. Obwohl eine vielbeschäftigte Frau, hat diese Bibliothekarin stets ein offenes Ohr für Wünsche, Fragen und Probleme.

Dies ist überhaupt ein schöner Zug in der Templeman Library. Man läßt die Benutzer nie warten. Und weiß man selbst keinen Rat, so werden weitere Kollegen hinzugezogen, bis der Benutzer doch noch zufriedengestellt werden kann, getreu dem Motto: der Kunde ist König. Oft wird in englischen Bibliotheken auch anstatt vom "user" vom "patron" gesprochen, was übersetzt "Kunde", "Gast" heißt.