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Bibliothekswesen international in den Zeitschriften des DBI
Frankreich

Bilanz des ländlichen Bibliothekswesens in Frankreich
Gernot U. Gabel

Als 1986 die zentralen Leihbibliotheken in den Départements (Bibliothèques Centrales de Prêt) nach vier Jahrzehnten der Abhängigkeit von der Pariser Zentralregierung in die Obhut der Gebietskörperschaften entlassen wurden, geschah dies im Rahmen der von der sozialistischen Regierung mit Nachdruck betriebenen Politik der Dezentralisation. Man war sich im Pariser Kultusministerium bewußt, daß die weitere Entwicklung dieses für die Literaturversorgung der Landbevölkerung konzipierten Bibliotheksmodells fortan sowohl vom politischen Willen der in der Region Verantwortung tragenden Politiker und Verwaltungsbeamten als auch von der wirtschaftlichen Potenz des Départements abhängig wäre und Ungleichgewichtigkeiten innerhalb des Systems deutlicher als bisher zutage treten würden. Das Ministerium hat der jüngsten Entwicklung dadurch Rechnung getragen, daß es die Einrichtungen mit Gesetz vom 13. Juli 1992 zu "Bibliothèques Départementales de Prêt" (BDP) umbenannte. Nun liegt zum ersten Mal eine umfassende statistische Übersicht (Guide des BDP 1993) über die Entwicklung der letzten sieben Jahre vor, so daß sich eine erste mit Zahlen untermauerte Bilanz des Systems der BCP ziehen läßt.

Die BCP entstanden bekanntlich gleich nach Kriegsende auf Beschluß der Regierung (Ordonanz vom 2. November 1945) mit der Absicht, die Vielzahl der kleinen Gemeinden, die sich abseits größerer Ballungsgebiete befinden und in Ermangelung ausreichender Finanzen ihren Bürgern keine bibliothekarischen Dienstleistungen anbieten können, mit Literatur zu versorgen. In den Anfangsjahren war dieser Service auf Kommunen mit weniger als 15.000 Einwohner beschränkt, 1985 wurde dieser Schwellenwert auf 10.000 reduziert mit der Begründung, viele der etwas größeren Gemeinden hätten sich eigene kommunale Büchereien zugelegt. Von den rund 36.400 Gemeinden Frankreichs fallen ca. 35.700 in den Verantwortungsbereich der BCP, so daß ihnen die Literaturversorgung von fast 50 Prozent der französischen Bevölkerung (29,3 Millionen Einwohner) obliegt.

Eine BCP ist bekanntlich keine Stadtbücherei im herkömmlichen Sinn, sondern die stationäre Zentrale einer Fahrbücherei, die in der Regel in der bedeutendsten Stadt eines Départements angesiedelt ist. Die in jüngster Zeit erstellten Gebäude verfügen im Durchschnitt über eine Nutzfläche von 1.400 Quadratmeter, die für ein Büchermagazin, einige Büros, einen Mehrzwecksaal und eine Garage genutzt werden. Ein Lesesaal ist grundsätzlich nicht vorgesehen, und somit ist eine BCP auf den Besuch von Benutzern nicht eingerichtet. Man will vielmehr den direkten Kontakt nur mit Förderern der Lesekultur aufnehmen, die zu Konferenzen, Ausstellungen, Praktika und Fortbildungsveranstaltungen in die Zentrale geladen werden. Der Fuhrpark einer BCP besteht aus einem oder mehreren Bücherbussen sowie einem Kombiwagen oder einem Kleinlaster, die für den schnellen Transport von Medien und Ausstellungsmaterialien zum Einsatz kommen. Verschiedentlich hat sich eine BCP noch eine oder mehrere (bis zu drei) Nebenstellen (annexe) eingerichtet, um damit die Medienversorgung der Gemeinden zu intensivieren und zugleich die wöchentlich anfallenden Fahrstrecken in den teils großflächigen Départements zu verkürzen.

Jede BCP stützt sich in ihrer Arbeit auf eine große Zahl von Depots, die über das Département verteilt in Schulen, Rathäusern, Krankenhäusern und Industriefirmen eingerichtet sind. Die Bücherbusse fahren die Depots ein- oder zweimal im Monat an und liefern dort die von lokalen Benutzern gewünschte Literatur ab. Während der nur kurzen Öffnungszeiten der Depots leihen die zumeist ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter (ca. 50.000, davon 90 Prozent Frauen) die Bücher an die Leser weiter. In den letzten Jahren ist man zusätzlich dazu übergegangen, dem Benutzer den Medienbestand direkt zugänglich zu machen, indem der Bücherbus zu festgesetzten Zeiten bestimmte Haltepunkte anfährt und jeder Interessent sich am Regal selbst bedienen kann.

Der Bücherbus ist das wichtigste Verkehrs- und Arbeitsmittel einer BCP. Sein Nutzraum faßt in der Regel 2.500 bis 3.000 Bände, dazu eine Auswahl an Zeitschriften, Schallplatten, Kassetten und Videos, die Ausleihstation sowie einige Vitrinen für die Präsentation von Neuerscheinungen oder kleinen Ausstellungen. Auf Grund der regen Nachfrage nach AV-Medien haben einige BCP ihre Busse bereits zu Medienbussen (vidéobus/médiabus/musibus) umbauen lassen. Die Schwierigkeit des täglichen Betriebs liegt bekanntlich darin, auf engem Raum einer nichthomogenen Benutzerschaft etwas zu bieten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die ländliche Bevölkerung Frankreichs sozial deutlich verändert; nur noch ein Drittel ist in der Landwirtschaft beschäftigt, zwei Drittel sind in anderen Berufen tätig. Knapp die Hälfte aller Entleiher in den BCP sind Kinder, die in der Mehrzahl über die Schulen erreicht werden, wo sich übrigens die meisten Depots befinden (ca. 60 Prozent). Das Ministerium hat den Leitern der BCP bereits vor Jahren nahegelegt, die Abhängigkeit des Systems von den Schulen zu verringern, da dies zur Benachteiligung der erwachsenen Benutzer geführt habe. Man möchte sich aber auch nicht des Vorteils berauben, die Leseförderung der Kinder und Jugendlichen über die Schulen zu intensivieren, denn in Frankreich gibt die Abwendung gerade der Jugendlichen vom Buch zu den audiovisuellen Medien den Verantwortlichen gleichfalls Anlaß zur Besorgnis.

1992 gab es in Frankreich 92 BCP. Nur Paris und die um die Hauptstadt gelegenen Orte verfügen über keine derartige Einrichtung. Während einige BCP (besonders im Norden) in den letzten Jahren expandierten, indem sie kräftig Personal einstellten (bis zu 56 Mitarbeiter), Bücherbusse anschafften (bis zu 14) und im größeren Umfang Bücher und AV-Medien erwarben (maximal 61.000 Bände pro Jahr), taten sich die zumeist im Süden gelegenen und von Landflucht und Arbeitslosigkeit gezeichneten Bezirke schwer, ihre Verpflichtungen überhaupt zu erfüllen. Dennoch kann dem Netz der BCP insgesamt ein beachtlicher Fortschritt attestiert werden. Betrug der Literatur- und Medienbestand 1983 gerade 12 Millionen Einheiten, war er bis Ende 1992 auf rund 18 Millionen Einheiten angestiegen. Die Buchneuanschaffungen überstiegen 1992 die Zahl von 1,2 Millionen Bänden, im Durchschnitt 14.000 Bände pro BCP. Für die Erwerbung der Bücher und AV-Medien wurden 1992 mehr als 100 Millionen Francs ausgegeben. Etwa 370 Bücher-Medienbusse und weiter 220 Kleinlastfahrzeuge beliefern die ca. 27.000 Buchdepots in den ländlichen Kleingemeinden unseres Nachbarlandes.