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Hans Peter Thun
Eine Einführung in das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland
DEUTSCHES BIBLIOTHEKSINSTITUT
1998


2.2 Wissenschaftliche Bibliotheken

Nationalbibliothek

Deutschland besaß, seiner Geschichte entsprechend, noch nie eine Nationalbibliothek im allumfassenden Sinne der British Library oder der Library of Congress, eine omnipotente bibliothekarische Einrichtung als zentraler Wissensspeicher der Nation, mit allen denkbaren nationalbibliographischen und bibliothekarischen Funktionen ausgestattet. Heute würde eine solche Einrichtung auch dem föderalen Gedanken nicht mehr entsprechen. Neben der als Nationalbibliothek begründeten Deutschen Bücherei gab es zwei mächtige staatliche Bibliotheken: Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin, später Deutsche Staatsbibliothek genannt, und die Bayerische Staatsbibliothek in München. Wenn man heute von einer deutschen Nationalbibliothek spricht, dann muß man eigentlich diese drei Bibliotheken und ihre Interims- und Nachfolgeeinrichtungen gemeinsam betrachten.

Deutsche Bücherei

Seit 1912 oblag der Sammelauftrag für die nationale Literatur ab 1913 der Deutschen Bücherei in Leipzig nebst den nationalbibliographischen Aufgaben für die Deutsche Nationalbibliographie. Die Deutsche Bücherei sammelte auch fremdsprachige Übersetzungen deutscher Literatur ab Erscheinungsjahr 1941, seit 1943 erschienene Musikalien, ferner Kunstblätter, Patente, Schallplatten und Schriften internationaler Organisationen. Als Sondersammlungen führte sie u.a. das Deutsche Buch- und Schriftmuseum und das Deutsche Papiermuseum. Sie ist auch Sammeleinrichtung der deutschen Exilliteratur von 1933-45. Sie war bis 1969 die Pflichtexemplarbibliothek für beide deutsche Staaten.

Deutsche Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek, eine bereits 1946 als Folge der deutschen Teilung in Frankfurt am Main installierte Einrichtung des Bundes, wurde fortan (offiziell mit Pflichtexemplarrecht ab 1969) die parallele Archivbibliothek im westlichen Teil Deutschlands für das Schriftgut von und über Deutschland ab 1945. Auch sie sammelte das in Deutschland erschienene und das im Ausland publizierte deutschsprachige Schrifttum, Übersetzungen deutscher Literatur und Literatur über Deutschland, sowie Exilliteratur. Daneben betrieb sie seit 1970 für die Musikalien eine Filiale in Berlin-West unter der Bezeichnung Deutsches Musikarchiv. Sie ist seit 1974 deutsche ISBN-Zentrale. Die ebenfalls von ihr herausgegebene Nationalbibliographie hieß Deutsche Bibliographie.

Deutsches Musikarchiv

Das Deutsche Musikarchiv Berlin ist die zentrale Quellensammlung der Musik und das musikbibliographische Informationszentrum in Deutschland. Es wurde im Jahre 1970 gegründet und der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main als Abteilung angegliedert. Das Deutsche Musikarchiv setzt die Tätigkeit der 1961 gegründeten "Deutschen Musik-Phonothek" fort. Im Rahmen der Aufgaben Der Deutschen Bibliothek sammelt es Musikalien und Musiktonträger und ist für ihre bibliographische Verzeichnung zuständig. Die Sammlung umfaßt Tonträger ab 1970 und Musikalien ab 1973. Basis der Sammlung sind zwei Pflichtexemplare, die die deutschen Musikverleger und Tonträgerhersteller von ihren Neuerscheinungen abliefern. Der Datenbestand ist die Grundlage für die musikbibliographischen Dienstleistungen. Ein Exemplar wird nach der Bearbeitung an die Musikaliensammlung der Deutschen Bücherei Leipzig weitergegeben. Für Recherchezwecke und als Katalogisierungsinstrument stehen Dateien zu Personennamen, Körperschaften und Einheitssachtiteln zur Verfügung. Ergänzend baut das Deutsche Musikarchiv Berlin eine Datenbank der reversgebundenen musikalischen Leihmateriale auf, den sogenannten "Bonner Katalog", der Anfang 1997 in 3. Auflage gedruckt und als Teil der DNB-Musik erscheint.

Der Notenbestand des Deutschen Musikarchivs Berlin beträgt derzeit rund 330.000 Titel. Darin ist eine Dauerleihgabe von 120.000 Titeln der deutschen Urheberrechtsgesellschaft GEMA enthalten, die den Bestand für den Zeitraum 1945 bis zur Einführung des Pflichtexemplarrechts 1973 ergänzt. Durch die Übernahme des Musikinformationszentrums des Komponistenverbandes der ehemaligen DDR im Jahre 1991 steht weiteres Material zur Verfügung.

Die Tonträgersammlung umfaßt derzeit rund 565.000 Dokumente, davon 120.000 historische Tonträger und über 160.000 CDs. Da die Ablieferung von Musikvideos auf freiwilliger Basis geschieht, sind bisher ca. 2.000 Exemplare vorhanden.

Es gab also bis zur Wiedervereinigung zwei nationale Archivbibliotheken und zwei Nationalbibliographien in Deutschland. Beide Einrichtungen hatten für ihre Territorien eine große zentrale Bedeutung für Bibliothekswesen und Buchhandel. Die Deutsche Bücherei erwarb sich darüber hinaus in den letzten Jahren einen Ruf auf dem Gebiete der Bestandserhaltung. Von der Frankfurter Einrichtung kann gesagt werden, daß sie durch die Automatisierung ihres Betriebes und der Nationalbibliographie und darauf aufbauende Entwicklung bedeutender zentraler Dienstleistungen eine maßgebliche und zukunftweisende Rolle im Bibliothekswesen der damaligen Bundesrepublik gespielt hat.

Die Deutsche Bibliothek

Deutsche Bibliothek, nein, "Die Deutsche Bibliothek" heißt heute die oben erwähnte Deutsche Bücherei, deren Träger der Bund ist. Zwar bedeutet das wunderliche "Die" den einzigen verbalen Unterschied zur Deutschen Bibliothek, aber der Respekt vor der Geschichte und die Logik gebieten es wohl, daß wir hier die heutige Einrichtung als Fortführung der Deutschen Bücherei sehen und nicht ihrer fast gleichlautenden Ersatzeinrichtung "Deutsche Bibliothek".

Diese formal neue Einrichtung stellt den Zusammenschluß der drei Standorte Leipzig, Frankfurt und Berlin dar, wobei alle drei Häuser beibehalten wurden mit Hauptsitz nicht, wie es ausländische Kollegen vermutet hätten, in Leipzig, sondern Frankfurt am Main, wo ein 1992 begonnener und 1997 vollendeter Neubau diesem Sitz auch entsprechendes Gewicht geben wird. Die von der DDB herausgegebene deutsche Nationalbibliographie heiß jetzt wieder Deutsche Nationalbibliographie.

Die neue Die Deutsche Bibliothek besitzt 12,5 Millionen Medien. Sie ist an allen Standorten Präsenzbibliothek mit öffentlichem Zugang. Obwohl in den Leihverkehr der Bibliotheken eingebunden, tritt sie jedoch nur in Funktion, wenn alle anderen nationalen Ressourcen ausgeschöpft sind. Weiterhin wird je ein Pflichtexemplar in Frankfurt und Leipzig hinterlegt, bei kooperativer Einarbeitung und Erschließung. Frankfurt ist dabei zuständig für die westlichen Bundesländer außer Nordrhein-Westfalen, für das Leipzig zuzüglich der östlichen Länder diese Aufgaben wahrnimmt.

In den Häusern der Deutschen Bibliothek entsteht in gemeinsamer Arbeit die Nationalbibliographie nach den deutschen Normen für die Erschließung. Sie wird gedruckt und in elektronischer Form in vielfältigen Diensten angeboten. Die nationale Bibliographie steht ab Erscheinungsjahr 1972 elektronisch zur Verfügung in den Formaten MAB-DB und UNIMARC. Über den Datenbankhost STN sind diese Daten auch in der Datenbank BIBLIODATA online bereitgestellt. Diese größte Literaturdatenbank in Deutschland enthält bibliographische Daten von Büchern, Hochschulschriften, Karten, Kongreßberichten, Zeitschriften usw. Der Deutschen Bibliothek. Sie wird wöchentlich aktualisiert. Ferner gibt es CD-ROM- und Diskettendienste mit den nationalbibliographischen Daten. Produktion und Vertrieb der Titelkarten, Magnetbänder, Disketten und CD-ROMs erfolgen in Frankfurt. Die Deutsche Bibliothek offeriert, wie die Library of Congress, einen Cataloguing-in-Publication-Dienst und führt Katalog-Normdateien für die Ansetzung von Personennamen, Körperschaften und Schlagwörtern, liefert Daten an wissenschaftliche wie öffentliche Bibliotheken und Verbünde.

Das Leipziger Haus führt seine Tätigkeit als Zentrum der Bucherhaltung fort und beherbergt das Deutsche Buch- und Schriftmuseum.


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