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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 11, 99

ScanMail - Volltexte scannen und elektronisch liefern

Oder : Wann hat der Enduser seinen Volltext auf dem Schreibtisch?

Peter Stadler, Rainer Wellmann, Ernst Mernke, Martin Thomas

 

Die Bereitstellung und Lieferung vollständiger Texte von Aufsätzen oder Buchbeiträgen (Volltexten) gehört zu den Kernaufgaben jeder Spezialbibliothek der Industrie, weil der Bedarf dafür in allen Unternehmensbereichen beträchtlich ist. Nicht nur Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung brauchen Volltexte, sondern gleichermaßen auch in Management, Verwaltung, Produktion und Vertrieb.

Seit der flächendeckenden Einführung der Kopiergeräte in den siebziger Jahren werden die benötigten Volltexte in Form von Kopien von den Nutzern selbst oder von Bibliothekspersonal unter Verwendung der eigenen Zeitschriften- oder Buchbestände hergestellt. Nicht vorhandene Volltexte werden von auswärtigen Bibliotheken bestellt und in der Regel in Form von Kopien geliefert. Dieser Zustand stellte bis in die neunziger Jahre eine adäquate Problemlösung dar, zumal die verwendeten Kopiergeräte Schritt für Schritt vereinfacht und verbessert wurden und für den Routinebetrieb durchaus geeignet sind.

Mitte der neunziger Jahre zeichneten sich neue Entwicklungen in der Reproduktionstechnik und der Datenübermittlung ab. Diese Entwicklungen läuteten eine neue Ära der Literaturversorgung mit Volltexten ein. 1) Für innovationsabhängige Unternehmen ist die Versorgung mit Volltexten äußerst wichtig und jede Qualitätsverbesserung muss genutzt werden. Auf diese Weise kann Innovation mit dem Rohstoff Information gefördert werden. Scannen und Electronic Mail lauten die beiden Begriffe, die die neuen Technologien umschreiben.

Diese Entwicklungen hat sich auch die Zentralbibliothek der Roche Diagnostics GmbH, Mannheim, zunutze gemacht, eine eigene Lösung entwickelt und eingeführt, die im Folgenden dargestellt werden soll.

Infrastruktur

Die infrastrukturellen Voraussetzungen für den Einsatz moderner Technologien sind in einem modernen Unternehmen wie Roche Diagnostics gegeben. Netze, Server, elektronische Mail-Systeme, PCs und Acrobat Reader Software von Adobe sind fast flächendeckend an allen Werksstandorten verfügbar.

Hardware: Auswahl Xerox vs. Minolta

Da die Bibliothek mit Xerox-Kopiergeräten ausgestattet ist, bot es sich an, diesen Hersteller in die Vorauswahl der möglichen Lieferanten des Scanners einzubeziehen. Das in Frage kommende Xerox-Produkt "Book Eye" konnte zum Zeitpunkt des Projektes nur anhand von Prospekten beurteilt werden. In einem Kundengespräch erwies es sich als schwierig, den beabsichtigten Zweck des Scannens verständlich zu machen, da Xerox von Bildbearbeitung ausging. Scannen zum Zweck der Volltextversorgung wurde zunächst nicht als primäres Einsatzfeld gesehen.

Durch den Aufsatz von Tangen und Radestock 1) und vielfältige Kontakte mit Kollegen in subito-Bibliotheken wurde Minolta mit dem Bookscanner PS 3000 ins Spiel gebracht und als vielversprechende Alternative zu Xerox Book Eye eingeschätzt. Ein Minolta-Händler war bereit, das System probeweise aufzustellen. Nachdem die Funktionsfähigkeit geprüft und der Nutzen offensichtlich war, wurde das Minolta-System gekauft.

Software

Die mitgelieferte Scanner-Software (Minolta Image and Information Communication System MI2 CS 3000, Version 1.1 09/97 für Windows) erwies sich als nicht einfach installierbar. Mehrere Anläufe durch Informatik-Experten waren nötig, bevor die erste gescannte Seite eines Aufsatzes auf dem Bildschirm erschien. Die PC-Anschlusskarte funktionierte nur bei einem bestimmten eingestellten Interrupt, entgegen den Angaben im Handbuch. Die Interrupt-Benutzung anderer im PC eingesetzter Karten musste daher unter Zuhilfenahme von BIOS-Einstellungen ebenfalls geändert werden. Die Software lässt sich zur Zeit unter Windows 95/98 installieren, aber nicht unter Windows NT.

Arbeitsablauf

Bestellungen auf Volltexte (Kopiewünsche) werden in jeder Form akzeptiert. Es spielt keine Rolle, ob die Nutzer per E-Mail, per Fax, per Telefon oder schriftlich bestellen. Wichtig ist nur, dass die bibliographischen Daten stimmen. Der erste Schritt der Bearbeitung ist das Heraussuchen der Bände und Hefte, in denen die bestellten Volltexte enthalten sind. Danach werden die zum Scannen bereitgestellten Materialien Aufsatz für Aufsatz gescannt. Beim Scannen wird pro Seite eine TIFF-Datei generiert. Mit Hilfe der Funktionen "Scannen im Batch" und "Direktausgabe an den Drucker" ist es einfach möglich, unter Verwendung der Software Acrobat Distiller als virtuellem Drucker eine einzige PDF-Datei zu erstellen, die alle Seiten eines Aufsatzes enthält. Der Endnutzer benötigt daher kein eigenes Programm zum Ansehen der TIFF-Dateien und erhält nur eine Datei, die nicht entpackt werden muss, sondern mit dem standardmäßig installierten Acrobat Reader direkt geöffnet und ausgedruckt werden kann.

Diese PDF-Datei steht nach dem Scannen für den E-Mail-Versand (LotusMail, MS Outlook oder anderes System) an den Besteller bereit. Sie wird an eine kurze Nachricht über die bearbeitete Volltextanforderung angehängt und abgeschickt. Zusätzlich wird noch eine Word-Datei angehängt, in der das neue Verfahren ScanMail erklärt und auf die Einhaltung der Copyright-Regeln hingewiesen wird.

Electronic-Journals

Neben der Literaturversorgung mit ScanMail bietet neuerdings der Zugriff auf elektronische Zeitschriften eine weitere komfortable Möglichkeit, den gewünschten Volltext am eigenen Arbeitsplatz zu bekommen. ScanMail und E-Journals ergänzen sich optimal. Der Nutzer selbst oder die Sachbearbeiter der Bibliothek können entscheiden, welchen Weg sie wählen.

Zeitaufwand

Die Beantwortung der Frage, wie viel Zeit für das althergebrachte Kopieren eines Aufsatzes (Printkopie) im Vergleich zu ScanMail beansprucht wird, ist bei der Einführung des neuen Systems essentiell. Daher wurden die entstehenden Arbeitsabläufe untersucht und nachfolgend dargestellt. Es wird von einem Aufsatz mit 10 Seiten ausgegangen.

Tabelle 1

Analyse des Zeitaufwands

Printkopie Hauspost-Lieferung (Minuten)

Printkopie Fax-Lieferung (Minuten)

ScanMail

(Minuten)

E-Journal

(Minuten)

Eintreffen und Sichten der Volltextanforderung / Kopie

1

1

1

1

Heraussuchen des Heftes
oder Bandes zum Kopieren

3

3

3

-

Scannen eines Aufsatzes von 10 Seiten

-

-

3

-

Bearbeiten und Konvertieren des gescannten Aufsatzes

-

-

1

-

Korrektur schlecht gescannter Seiten*

-

-

1

-

Kopieren eines Aufsatzes von 10 Seiten

2

2

-

-

Korrektur schlecht kopierter Seiten*

1

1

-

-

E-Journal für Volltext verfügbar?

-

-

-

1

Einstieg in Intranet / Internet, um E-Journal aufzurufen

-

-

-

3

Download des gewünschten Aufsatzes als PDF-File

-

-

-

3

Vorbereitung des Versandes per Hauspost

1

-

-

-

Vorbereitung / Kontrolle des Faxens

 

1

 

 

Wegräumen des Bandes oder Heftes

2

2

2

-

Zwischensumme
Bibliotheks-aufwand

10

10

11

8

 

 

 

 

 

Transportzeit des kopierten Aufsatzes per Hauspost

1.440
(= 24 Stunden)

-

-

-

Transport des kopierten Aufsatzes per Fax

-

3

-

-

Transportzeit des gescannten Aufsatzes über das Netz

-

-

1

-

Transportzeit des herunter-geladenen Aufsatzes (Netz)

-

-

-

1

Ergebnis
Zeitaufwand

1.450 Min.

13 Min.

12 Min.

9 Min.

Qualität des Ausdrucks

Mäßig

Schwach

Gut

Sehr gut

Ergonomie

Schwierige Arbeitsbedingungen

Schwierige Arbeitsbedingungen

Gute
Arbeitsbedingungen

Gute
Arbeitsbedingungen

(Es handelt sich um Mittelwerte aufgrund von Messungen bei der praktischen Arbeit)

* kommt nur gelegentlich vor, daher nur 1 Minute veranschlagt

Kommentar zur Tabelle

Der Enduser kann also rechnerisch in weniger als einer Viertelstunde nach Eintreffen seiner Bestellung seinen ScanMail-Volltext auf dem Schreibtisch haben. Besser ist nur der E-Journal-Zugriff, wenn nicht www ("world wide waiting") angesagt ist. Selbst die Fax-Lieferung ist etwas langsamer als ScanMail. Weit abgeschlagen landet die Printkopie mit Hauspostlieferung auf dem 4. Platz. Damit ist klar, dass ScanMail die aktuelle Methode der Wahl ist, wenn Schnelligkeit, Qualität und Ergonomie gleichzeitig den Ausschlag geben und ein E-Journal nicht zur Verfügung steht. ScanMail ist zwar in der Herstellung eine Minute aufwendiger als Printkopie mit Hauspost bzw. Printkopie mit Fax, aber dafür erhält der Enduser wesentlich bessere Qualität bei etwa gleich schneller Lieferung. Printkopie mit Fax-Versand ist angebracht, wenn es hauptsächlich auf Geschwindigkeit ankommt und Qualität nur eine sekundäre Rolle spielt.

Dass Volltexte aus E-Journals auch vom Endnutzer selbst heruntergeladen werden können, steht außer Frage. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Bibliothek als Dienstleister schnell wieder im Spiel ist, wenn der Internet-Einstieg langwierig und aus der Sicht der Nutzer unkomfortabel wird.

Ergonomische Aspekte

Das routinemäßige Kopieren aus gebundenen Zeitschriftenbänden oder dicken Heften ist schwere körperliche Arbeit. Diese ist im Stehen zu leisten, wobei die Kopiergeräte je nach Körpergröße der Kopierkraft durchaus nicht immer die richtige Arbeitshöhe haben. Das macht die Arbeit für kleine Menschen noch anstrengender. Die körperliche Belastung beim Dauereinsatz im konventionellen Kopierdienst führt erfahrungsgemäß häufig zu Rückenbeschwerden und Ausfallzeiten. Deshalb war es auch aus ergonomischer Sicht ein Segen, dass Scanner auf den Markt kamen, die es erlauben, das zu scannende Dokument auf den Rücken zu legen und von oben zu belichten. Die Arbeit kann daher sitzend vor dem Scanner geleistet werden. Die Seiten sind "nur" umzublättern, der Band muss nicht umgestürzt und dann wieder "auf den Bauch" gelegt werden. Das ist ein großer Vorteil gegenüber dem konventionellen Kopieren, fördert die Beliebtheit des Scanners beträchtlich und schont sowohl den Rücken der Mitarbeiter als auch den Rücken der Zeitschriftenbände.

Kapazitätsbedarf

ScanMail befindet sich noch in einer Einführungsphase. Der Bibliothekszeitaufwand bei ScanMail stellt sich folgendermaßen dar: bei durchschnittlich 11 Minuten pro gescanntem Aufsatz von 10 Seiten und einer Nettoarbeitszeit von 7,5 Stunden pro Tag kann eine Arbeitskraft 41 Aufsätze pro Tag herstellen und auf den Schreibtisch des Anforderers liefern. Legt man 20 Arbeitstage zugrunde, so ergibt sich, dass 820 gescannte Aufsätze pro Monat bearbeitet werden können.

Akzeptanz / Erfahrungen

Die Reaktionen auf die Volltext-Lieferungen als PDF-Dateien sind positiv bis euphorisch. Viele Empfänger waren überrascht von dem neuen Service, von der Qualität des Ausdrucks und von der Schnelligkeit der Lieferung.

Urheberrecht

Dem Urheberrecht wird auch mit ScanMail in vollem Umfang Genüge getan, da die gescannten Daten nicht gespeichert, sondern unmittelbar nach dem Versand wieder gelöscht werden.

Fazit

Mit ScanMail steht ein Service zur Verfügung, mit dem der Bedarf an Volltexten eines innovationsabhängigen Unternehmens schnell, mit hoher Qualität und bei guten ergonomischen Arbeitsbedingungen gedeckt werden kann.

 

1) A. Eckes, E. Pietzsch: Electronic Document Delivery an der UB Heidelberg: elektronische Bestellung und Lieferung von Zeitschriftenaufsätzen. Bibliotheksdienst 29 (1995), S. 1797-1802. D. Boeckh, H. Schoppmann: Erweiterung des Heidelberger Electronic Document Delivery (HEED) geglückt. BIBLIOTHEKSDIENST 33 (1999), S. 447-454.

2) D.M. Tangen, G. Radestock: Elektronische Lieferung von Zeitschriftenaufsätzen – Lea: Ein neuer Service der UB Karlsruhe. BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998), S. 49-56.


Stand: 4.11.99
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