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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 9, 99

Mobilisierung von Leistungs- und Innovationspotentialen durch sozialkompetente Leitungstätigkeit

Mobilisierung von Leistungs- und Innovationspotentialen durch sozialkompetente Leitungstätigkeit

Ergebnisse aus wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins

Gerd Paul*

 

Eine der Chancen zur Verbesserung der institutionellen und professionellen Perspektiven im Bibliothekswesen besteht darin, die Arbeitsorganisation Bibliothek bewusst als soziales System zu verstehen, zu untersuchen und in Ausbildung und Praxis entsprechend aufzugreifen. So lautet eine der Schlussfolgerungen aus der empirischen Untersuchung „Leitung und Kooperation in wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins“. (Der Volltext der Untersuchung liegt als PDF-File unter der URL: <http://dochost.rz.hu-berlin.de/dissertationen/phil/paul-gerhard/>).

Demnach müssen technologische und institutionelle Modernisierung wesentlich als soziale Prozesse gefasst werden, wenn sich die Legitimation und Erfolgswahrscheinlichkeit notwendiger Bemühungen um den Wandel verbessern soll. Gefragt sind hier in erster Linie die Leiter der Einrichtungen.

 

Lernziel „Soziale Kompetenz“

Die Studie erbrachte deutliche Hinweise, welche Handlungsformen und Haltungen der Akteure, vor allem des Leitungspersonals, das organisatorische Handeln auf welche Weise beeinflussen. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand die Frage: Wie lassen sich die Leistungs- und Innovationspotenziale der Beteiligten mobilisieren? Sie ließ sich nach der Datenauswertung kurzgefasst so beantworten: Die Leiter fördern das Engagement und die Innovationsbereitschaft der Mitarbeiter am ehesten, wenn

·   sich ihr Verhalten durch Transparenz, hohe Kommunikationsdichte und Angebote zur Entscheidungsteilhabe (Partizipation) auszeichnet,

·   sie fähig und bereit sind, ausgiebig zu kooperieren und sich auf das zum Erreichen des Organisationszwecks unabdingbare Maß zurückzunehmen (weitgehende Egalisierung),

·   sie die ihnen qua Funktion zugeteilte formale Positionsmacht bewusst repräsentieren (Stichwort: Regeleinhaltungsinstanz),

·   sie selbst sich ausgesprochen leistungs- und innovationsorientiert verhalten und auch entsprechende Ziele für die Mitarbeiterschaft vorgeben,

·   sie sensibel auf Konflikte eingehen können.

Anders ausgedrückt: Effiziente Führung als Ergebnis hochkomplexer Interaktion und Kommunikation erfordert neben fachlichen und organisatorischen bzw. Managementkompetenzen vielfältige soziale Kompetenzen (= Fähigkeiten und Qualifikationen). Letztere bilden zusammen mit ersteren (als „Kompetenz-Mix“) überhaupt erst die Voraussetzungen für professionelle Handlungskompetenz. Profundes Fachwissen und Managementfähigkeiten allein reichen nicht aus, um das komplexe soziale Geschehen in sich modernisierenden Arbeits- und Dienstleistungsorganisationen angemessen zu steuern.

 

Der gesellschaftliche Wandel und sein Einfluss auf die Arbeitsorganisation Bibliothek

Der Gewinn empirischer Erkenntnisse über das Sozialsystem „wissenschaftliche Bibliothek“ ist um so notwendiger, als die Anforderungen an und der enorme Innovationsdruck auf das Bibliothekswesen von außen - Stichworte: beschleunigter technologischer Wandel (Digitalisierung und Vernetzung), wachsende Kundenansprüche an die Dienstleistungsqualität, geichzeitig Verminderung der Zuwendungen und Reduzierung der Ressourcen - ständig zunehmen; doch damit nicht genug: Sie treffen auf einen tiefgreifenden Wertewandel auch in der Mitarbeiterschaft. Die gültigen Arbeitsorientierungen verschieben sich seit einiger Zeit schon - weg von „akquisitiven“ (z.B. Einkommen), hin zu „nicht-akquisitiven“ Arbeitsorientierungen. Die zunehmend „extrafunktionalen“ Qualifikationsanforderungen in der beruflichen Tätigkeit und der gesellschaftliche Wertewandel lassen sich in der Formel zusammenfassen: Reduzierung standardisierbarer und quantifizierbarer Routinearbeiten mit geringen Chancen auf Selbstverwirklichung zugunsten von Tätigkeiten, die Flexibilität und Eigenständigkeit, Lernbereitschaft und Kommunikationsfreude, Improvisationsfähigkeit und Kreativität erfordern.

Dieser Befund wiederum erhöht die Anforderungen an die Leiter: Sie müssen über Interaktionsqualitäten verfügen, die den gewandelten Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter, deren Kompetenzen und wachsendem Spezialwissen, den reduzierten Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten sowie den gewandelten Arbeitseinstellungen Rechnung tragen. Intensive, vor allem auch informelle Kommunikation, konsens- und aushandlungsorientierter Umgang sowie moderative Fähigkeiten gewinnen an Bedeutung.

 

Anlage der Untersuchung

Die theoretisch-systematische Herleitung des Analyse-Instrumentariums bezog Forschungsergebnisse aus mehreren Fachgebieten, darunter Organisationssoziologie und Managementlehre, ein: Als grundlegende Bestimmungsgrößen des innerbetrieblichen sozialen Geschehens erwiesen sich schließlich: Kommunikation, Partizipation, Autonomie, Konflikt sowie Motivation und Kooperation. Die Einschätzung des Betriebsklimas bildete erkenntnistheoretisch wie empirisch den besten Indikator für die „sozio-emotionale“ Qualität: Mit ihm gelang es am ehesten, die Interaktionsqualitäten des Leitungspersonals in einen Zusammenhang mit dem sozialen Geschehen und mit dem Erreichen des Organisationszwecks zu stellen.

Die Untersuchung umfasste auch eine Stichprobe zur Beschreibung und Typisierung des bibliothekarischen Leitungspersonals, die dessen fachliche Qualifikation, geschlechtsspezifische Aufteilung und Einsatzfelder berücksichtigt. Ermittelt wurden - zum Teil auf der Grundlage plausibler Schätzungen - erstmals genauere Angaben zur Gesamtheit der Personalstellen im deutschen Bibliothekswesen und innerhalb dieser zum Anteil an Leitungspositionen (ab BAT IIa/A13). Auch der Frauenanteil an Leitungspositionen im Bibliothekswesen (mittlerweile ein Drittel, mit steigender Tendenz), die Qualifikation des Leitungspersonals (Anteil fachspezifischer Qualifikation höher denn je) sowie dessen Einsatzfelder (in großen Bibliotheken überwiegen Abteilungsleitungen, in mittelgroßen Bibliotheksleitungen) wurden näher beleuchtet. Die „typische“ Leitungsfunktion im Bibliothekswesen umfasst, statistisch betrachtet, eine Leitungsspanne von 13 Personen (statistische durchschnittliche Leitungsspanne in den hier befragten Einrichtungen: rund 12 Planstellen, rund 14 Mitarbeiter).

In der empirischen Untersuchung im engeren Sinne kam eine Methodenmischung zum Einsatz, die mehrere Qualitätskriterien sicherstellen sollte: Das gemischt qualitativ-quantitative Erhebungsinstrument (persönliches Interview mit den Leitern, Befragung der Mitarbeiterschaft mittels eines standardisierten und strukturierten Fragebogens) diente der breiten Absicherung der Ergebnisse und deren fundierter Interpretation. Das Prinzip von Wahrnehmung und Gegenwahrnehmung in Form der Selbsteinschätzung der Leitungspersonen und deren Fremdeinschätzung durch die Mitarbeiterschaft zielte auf größtmögliche Wirklichkeitsnähe und Konkretion.

Vier Kriterien mussten die Einrichtungen erfüllen, um in die Untersuchung aufgenommen zu werden:

·   Zuordnung zum Bibliothekstypus „wissenschaftliche Bibliothek“;

·   Personalausstattung (bezogen auf die Anzahl der Planstellen) von mindestens fünf und nicht mehr als dreißig Planstellen;

·   Standort im Bundesland Berlin; ohne Bedeutung war dagegen die Frage des Zuwendungsgebers oder der (makro-)institutionellen Anbindung;

·   Minimum an institutioneller Eigenständigkeit und Verantwortlichkeit der jeweiligen Leiter für die bibliotheksinterne Struktur, für Ressourcensteuerung und Personaleinsatz.

Insgesamt ergab sich eine Anzahl von 42 Bibliotheken als Grundgesamtheit, die die genannten Auswahlkriterien erfüllten. Davon waren 15 Institutsbibliotheken der FU Berlin, von denen zehn an der Untersuchung teilnahmen; von den übrigen 27 Bibliotheken waren 23 bereit, an der Untersuchung mitzuwirken. Insgesamt sieben Leiter wollten oder konnten an der Untersuchung nicht teilnehmen, bei zwei weiteren kam der erforderliche Kontakt nicht zustande. Dies bedeutet, dass 33 Leiter wissenschaftlicher Bibliotheken in Berlin bereit waren, sich für ein persönliches Interview zur Verfügung zu stellen und parallel dazu eine schriftliche Befragung ihrer Mitarbeiter zuzulassen. Das Ziel der Untersuchung war es, eine Vollerhebung in dieser Sparte des wissenschaftlichen Bibliothekswesens in Berlin durchzuführen. Mit 78,5% Zusagen der angesprochenen Leiter der festgelegten Zielbibliotheken wurde eine hohe Kooperationsquote erreicht.

Nach Abschluss der Feldphase wurden drei weitere Bibliotheken aus der statistischen Untersuchung herausgenommen; die Rücklaufquote der Fragebögen aus der Mitarbeiterschaft lag dort deutlich unter 20%. In einem Fall verhinderten innerinstitutionelle Probleme nach Abschluss des Interviews die Verteilung der Fragebögen, so dass sich die eigentliche Untersuchung auf 29 wissenschaftliche Bibliotheken konzentrierte. Hingegen wurden die Aussagen aller Leiter in entsprechenden Zusammenhängen berücksichtigt; dies bedeutet, in die quantitative Untersuchung gingen 29 Bibliotheken sowie deren Leitungspersonen und Mitarbeiterschaft ein, in die qualitative Betrachtung wurden alle 33 kontaktierten Bibliotheken und deren Leitungspersonen einbezogen.

Die 29 untersuchten Bibliotheken sind an Einrichtungen des Bundes und des Landes angesiedelt und decken die gesamte Breite akademischer Disziplinen ab.

Institutionelle Zuordnung/Zuwendungsgeber:

·                     Bund: 6

·                     Land: 21

·                     Bund/Land: 2

Zielgruppe/Klientel:

·                     Forschung: 7

·                     Wissenschaft/Ausbildung: 15

·                     Breitere Öffentlichkeit/Politik/Rechtsprechung: 7

Fachrichtung:

·                     Philologie, Philosophie, Kunstwissenschaften, Geschichte: 5

·                     Naturwissenschaften, Medizin: 8

·                     Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften: 9

·                     Technik: 3

·                     Jura: 4

Mit der regionalen Beschränkung auf Berlin und dem genau festgelegten Gegenstandsbereich wurde nahezu eine repräsentative Vollerhebung für diesen Typus von Bibliotheken im Raum Berlin möglich. Die Stichprobe der Berliner Untersuchung umfasste ungefähr 10% der Grundgesamtmenge aller wissenschaftlichen Bibliotheken dieser Art und Größenordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Auswertung berücksichtigte mit 29 Bibliotheken ungefähr 6% aller Einrichtungen dieser Art bundesweit.

 

Empirische Ergebnisse der Befragung

Arbeitsorganisierung, Arbeitszuschnitte, Informationstechnik - Stand und Perspektiven

Zu den Ergebnissen der empirischen Erhebung zählt, dass die einbezogenen wissenschaftlichen Bibliotheken Berlins ein diffuses Bild zwischen technologischer Modernität und Rückständigkeit abgeben. Nur eine Minderheit der Einrichtungen verfügte zur Zeit der Befragung über eine informationstechnische Geräte- und Kompetenzausstattung, die dem Standard wissenschaftlicher Bibliotheken in vergleichbaren europäischen Staaten, insbesondere West- und Nordeuropas, entspricht.

Die technologisch rückständigen ebenso wie die wenigen technologisch zeitgemäß ausgestatteten Einrichtungen lassen eine Arbeitsorganisation erkennen, die durch hochgradig segmentierte Werkstückbearbeitung geprägt und deren Struktur an traditionellen industriell-arbeitsteiligen Fertigungsformen orientiert ist. 56% aller Befragten gaben an, nur einer oder zwei Haupttätigkeiten nachzugehen. Die Arbeitsorganisation der Berliner wissenschaftlichen Bibliothek und die Bindung der Ressourcen ihrer mehrheitlich hoch und sehr hoch qualifizierten Akteure erwies sich zudem als überwiegend innendienstorientiert. Die komplexen Erfordernisse kundennaher Informationsversorgung werden nur von einem kleinen Kreis der befragten Akteure erkannt, akzeptiert und umgesetzt.

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Befund nicht unwichtig: Wird die Organisationsumwelt zur Überprüfung der Ergebnisse in die Berechnungen einbezogen, so ergeben sich wenig Hinweise auf andere bestimmende Größen: Besonders Bibliotheken, die an Forschungseinrichtungen angebunden sind, weisen in der Regel einen hohen Technisierungsgrad und ein vergleichsweise geringeres Maß an einseitigen Arbeitsplatzzuschnitten auf. Auffallend ist das große Ausmaß traditioneller Arbeitsabläufe und Strukturen im Hochschulbereich.

Dennoch halten die Ergebnisse auch in diesem Bereich positive Perspektiven bereit, Chancen, die es aufzugreifen und zu nutzen gilt:

·   Beinahe zeitgleich mit den erhöhten Erfordernissen nach technologischem und organisatorischem Wandel als Antwort auf Veränderungen in der „außerbibliothekarischen“ Umwelt (bei Kunden, Zuwendungsgebern, der breiteren Öffentlichkeit) vollzieht sich in den befragten Berliner Bibliotheken ein soziodemographischer Wandel. Aus der ermittelten Altersstruktur des Leitungspersonals und der Mitarbeiterschaft entsteht in den kommenden Jahren ein erheblicher personeller Wechsel. Jeden Generationswechsel begleiten indes gestalterische, unter Umständen eigensinnige, vielleicht auch experimentelle Impulse.

·   Der „Kulturbruch“ zwischen der Durchführung einer technischen Neuerung und dem gesellschaftlichen Umfeld ist geringer denn je. Während noch vor zehn Jahren die Installierung eines Datenendgeräts für Online-Kataloginformationen Kundenwiderstand zu mobilisieren in der Lage war, erfüllt ein PC-Internet-Angebot heute selbstverständliche Erwartungshaltungen der Nutzerschaft.

·   Innovative, veränderungsbereite Haltungen und Einstellungen sind unter den Mitarbeitern Berliner wissenschaftlicher Bibliotheken weit verbreitet. In Verbindung mit hoher intrinsischer (eigengesteuerter) Motivation in der Mitarbeiterschaft ist dies ein Aspekt, der von Entscheidungsträgern und Leitungsverantwortlichen in seiner Tragweite nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

·   Der Neuzuschnitt von Arbeitsfeldern und Zuständigkeiten wird in den meisten Fällen gravierende Anpassungsprobleme und Konflikte auf seiten der betroffenen Belegschaften und Einzelpersonen nach sich ziehen. Die Initiierung solcher organisatorischer Innovationsprozesse stößt aber auf Mitarbeiter, die mental und intellektuell zunehmend auf Wandel und Neuerungen setzen. Deren Bereitschaft „mitzuziehen“ ist daher nicht zu unterschätzen, sondern kann seitens der Leiter aufgegriffen und in innovative Prozesse einbezogen werden.

·   Wenn ein Großteil des befragten Berliner Leitungspersonals die Haltung der Mitarbeiterschaft als überwiegend „innovationsängstlich“ charakterisiert, so ist dies eher projektiv zu werten. Die Leitungspersonen sind es, die sich herausgefordert, leicht auch überfordert sehen; dies aufgrund von strukturellen und formalen Handlungsbeschränkungen einerseits, von Unbehagen über die Konfliktträchtigkeit und die Unwägbarkeiten organisationssozialer Wandlungen und Steuerungserfordernisse andererseits - die Skepsis ist also durchaus angebracht.

 

Interaktion und Betriebsklima: Die Bedeutung von Leistungs- und Innovationsorientierung

Die Betriebsklima-Einschätzung der befragten Akteure und die Unterteilung der Untersuchungsgesamtheit in drei deutlich differierende Betriebsklimagruppen von jeweils acht bis zwölf Bibliotheken erwies sich als wirkungsvolles Unterscheidungskriterium. Mit ihm ließen sich die Interaktionsqualitäten des Leitungspersonals (in den Handlungsfeldern Kommunikation, Partizipation, Autonomie, Konflikt, Motivation und Kooperation) vergleichend darstellen und in Beziehung zur Mobilisierung der Mitarbeiterschaft setzen.

Hier ein kurzes Resümee der wichtigsten Ergebnisse:

·   Die Leiter in den Einrichtungen mit gutem Betriebsklima lassen sich einmal dadurch charakterisieren, dass sie bereit und fähig sind, die in der Arbeitsorganisation handelnden Mitglieder zu integrieren. Um diese Integrationsleistung zu erreichen, setzen sie auf ein breites Spektrum von Kommunikation zwischen Leitung und Belegschaft, auf Transparenz bei den die Bibliothek betreffenden Vorgängen und auf weitreichende Partizipation (Mitsprache) der Mitarbeiter bei allen Entscheidungen, die die Arbeitsorganisation und den Organisationszweck berühren. Leitungsverhalten und -handeln in diesem Sinne bedarf ausgeprägter Sozialkompetenz.

·   Die Leiter in den Einrichtungen mit gutem Betriebsklima sind bereit und fähig, sich fachlich zu „egalisieren“ und gleichzeitig dezidiert die Rolle einer formalen Regeleinhaltungsinstanz zu übernehmen. Bei der fachlichen Egalisierung geht es um die Rücknahme der Leitungsposition auf das zum Erreichen des Organisationszwecks unabdingbare Maß; keinesfalls ist damit gemeint, fachlich mit den Mitarbeitern zu konkurrieren. Zur (erwarteten) Rolle eines Leiters gehört es, konsequent auf die Einhaltung der formalen Standards zu achten (Aufsichtsfunktion). Bei diesen Kennzeichen der Leiter in Bibliotheken mit gutem Betriebsklima handelt es sich um die Habitualisierung zweier Fähigkeiten: Zum einen auf der fachlichen Ebene non-hierarchisch zu handeln, zum anderen die formale Positionsmacht als Leitungsperson gleichzeitig aufrechtzuerhalten - und zwar besonders in Bezug auf den Aspekt „Regeleinhaltung“. Für alle Organisationsmitglieder geltende Rahmenbedingungen wie Pünktlichkeit, Einhalten der Pausenzeiten usw. dürfen nicht zur allgemeinen Disposition stehen oder willkürlich ausgelegt werden. Die Kontrolle und Durchsetzung der Regeleinhaltung zählt zu den herausragendsten Aufgaben der Leitungsposition. Ihre Wahrnehmung schafft zugleich Orientierung und Verfahrenssicherheit für alle Beteiligten. Sie stellt auch einen wichtigen Garanten für innerbetriebliche Gerechtigkeit dar. Entsprechend werden diese Eigenschaften der Leitungspersonen in den Einrichtungen mit gutem Betriebsklima auch von der Mitarbeiterschaft geschätzt. Bei diesen Eigenschaften mischen sich Leitungskompetenz als Ausübung der formalen Funktion, Sozialkompetenz und Fachkompetenz.

·   Die Leiter in den Bibliotheken mit gutem Betriebsklima zeichnen sich auch dadurch aus, Konflikte früher zu erkennen und die hinter diesen stehenden Interessen und Motive differenzierter wahrzunehmen (Konfliktsensibilität) und im Sinne einer konstruktiven Konfliktmoderation und -lösung aufzugreifen. Auch hier ist sozialkompetentes Verhalten erforderlich, zugleich Diskurs- und Aushandlungsbereitschaft. Einen hohen Stellenwert besitzt hierbei die Richtschnur der Lösungsorientierung, die im Dienstleistungsbetrieb „wissenschaftliche Bibliothek“ immer auch Sicherstellung der Effizienz gemessen an den legitimen Ansprüchen und Erwartungen der Nutzer bedeutet.

·   Schließlich der Faktor „Spaß/Begeisterungsfähigkeit“: Spaß an und in der Arbeit gestatten und Begeisterungsfähigkeit erzeugen - diese Bereitschaft und Fähigkeit der Leiter in den Bibliotheken mit gutem Betriebsklima zeugt von der Souveränität der leitenden Akteure. Sie fühlen sich durch Spaß seitens der Mitarbeiter eben nicht in Frage gestellt - weder in ihrer Rolle noch hinsichtlich der Ernsthaftigkeit der Arbeitsinhalte und des Organisationszwecks. Spaß zuzulassen bedeutet immer auch, einen Spielraum für Individualität einzuräumen, und dies setzt eigene innere Stärke voraus. Wer Begeisterungsfähigkeit auszulösen vermag, verfügt im übrigen über die nötige Überzeugungskraft, über Ideenreichtum und geistige „Beweglichkeit“.

 

Betriebsklima-unabhängige Aspekte

Allgemein und unabhängig vom Betriebsklima gilt für die überwiegende Mehrheit (rund 90%) aller Befragten: Sie verfügen über ausgesprochen liberale Arbeitsbedingungen, hohe Gestaltungsautonomie innerhalb ihres jeweiligen Arbeitsbereichs und geringe Aufstiegs- oder materielle Gratifikationsmöglichkeiten als Leistungsanreize. Entsprechend hoch ist die intrinsische Motivation der Akteure zu bewerten. Ausgegangen werden kann auch von einer diskursiven Arbeits- und Erwartungshaltung.

Für die Leiter gilt - ebenfalls weitgehend deckungsgleich und unabhängig vom Betriebsklima -, dass ihren Handlungsspielräumen strukturell (Stichworte: starre Arbeitsorganisation, öffentlicher Dienst) und budgetär (Stichwort: geringe Investitionsmittel) enge Grenzen gesetzt sind. Professionelle Qualifizierung ihrer sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten zur Wahrnehmung und Ausfüllung der Leitungsfunktion findet generell praktisch nicht statt. Diese Art der funktionalen Qualifikation erfolgt in der Regel durch „Learning by doing“ oder gar nicht.

 

Zugespitzt: Zwei getrennte Arbeitswelten

Die Auswertung aller Antworten hinsichtlich Übereinstimmungen (Konkordanzen) und Abweichungen (Diskrepanzen) zwischen Leitungspersonen und Mitarbeiterschaft Berliner wissenschaftlicher Bibliotheken ergab das folgende Bild:

·   51% aller Antworten in den Bibliotheken mit gutem Betriebsklima sind konkordant, bei 49% kommt es zu Diskrepanzen. Unter letzteren sind auch jene Abweichungen, bei denen die Mitarbeiter „ihre“ Leitungspersonen positiver einschätzten als diese sich selbst. Die faktische soziale Qualität der Interaktionen dürfte daher noch höher sein, als es die schon günstigen Prozentzahlen vermuten lassen.

·   Bei den Bibliotheken mit durchschnittlichem Betriebsklima lauten die Werte: 28% der Antworten sind konkordant, 72% diskordant, bei den Bibliotheken mit schlechtem Betriebsklima: 29% konkordant, 71% diskordant.

Auf dieser Ebene der höchstaggregierten Daten zeigt sich recht plastisch, was sich in der detaillierten Datenanalyse in immer einzelnen Facetten tendenziell schon andeutete: eine deutliche Trennlinie zwischen zwei (Arbeits-) „Welten“ - der in den Bibliotheken mit gutem Betriebsklima und jener in den Einrichtungen mit durchschnittlichem oder schlechtem Betriebsklima. Diese zwei Welten betreffen den innerorganisatorischen Umgang, die dort üblichen Diskurs- und Verständigungsintensitäten. Die Konkordanzen und Diskrepanzen sind - so die Folgerung des Autors - Ausdruck gelungener bzw. mißlungener Kommunikation und Kooperation in den jeweiligen Einrichtungen.

 



* Der Verfasser dieses Beitrags führt am 25./26. November 1999 in Kooperation mit dem DBI im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ein Kolloquium zu dem Thema „Soziale Kompetenzen als Leitungs- und Managementqualifikation“ durch. Siehe hierzu die Ankündigung in der vorliegenden Ausgabe unter „Programme“.


Stand: 06.09.99
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