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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 5, 99

 

Mit der gymnasialen Oberstufe in die Universitätsbibliothek?!

Ein Erfahrungsbericht und Plädoyer für die Außenorientierung des wissenschaftlichen Bibliothekars

Klaus D. Oberdieck
 

Abgelehnt - geduldet - willkommen, so könnte man die Haltungen beschreiben, die wissenschaftliche Bibliotheken Schülern gegenüber einnehmen, besonders wenn oder weil sie im Klassen- bzw. Kursverband in Erscheinung treten. So manch eine bibliothekarische Hutschnur ist angesichts der Pennälern gelegentlich eigenen Disziplinlosigkeit geplatzt. Nicht wenige wissenschaftliche Bibliotheken sperren sich auch deshalb im Interesse ihrer wissenschaftlich arbeitenden Klientel gegen die Zulassung von Schülern zur Benutzung. Überdies, ist der bibliothekarischen Arbeit nicht genug, als daß man sich noch weitere Benutzerschichten aufbürden möchte? Andererseits: wer hätte nicht Mitgefühl mit dem Oberstufenschüler, der, im wahrsten Sinne des Wortes alleingelassen mit einem relativ speziellen Thema, z.B. für eine Hausarbeit vor der Informationstheke einer Universitätsbibliothek seine Orientierungslosigkeit eingesteht? Es sind in der Regel die Öffentlichen Bibliotheken, die sich der Schüler annehmen, aber angesichts spezieller Anfragen oft auch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen.1)

Im letzten Quartal des vergangenen Jahres mehrten sich in der Universitätsbibliothek Braunschweig signifikant die Fälle von Schülern der gymnasialen Oberstufe, die sich angesichts z.T. relativ spezieller Themenstellungen für innerhalb von sechs Wochen anzufertigende Hausarbeiten hilfesuchend an die Information der UB wandten. Da die Ratsuchenden in der Regel zum ersten Mal eine wissenschaftliche Bibliothek aufsuchten, war der Betreuungsaufwand im Einzelfall unverhältnismäßig groß: so mußte neben der thematischen Hilfestellung auch eine Einführung in die Bibliotheksbenutzung erfolgen. Aber auch Lehrkräfte der Gymnasien fragten plötzlich gezielt nach speziellen Informationsangeboten für ihre Leistungskurse. Was war der Hintergrund dieser 'Schülerschwemme' bzw. spezifischen Nachfrage?

Mit der "Verordnung über die gymnasiale Oberstufe und das Fachgymnasium (VO-GOF)" vom 26. Mai 1997 und dem Erlaß "Ergänzende Bestimmungen zur Verordnung über die gymnasiale Oberstufe und das Fachgymnasium (EB-VO-GOF)" vom 26. Mai 1997 hatte das Niedersächsische Kultusministerium eine neue Form der selbständigen wissenschaftspropädeutischen Arbeit (Facharbeit) in der Kursstufe der gymnasialen Oberstufe und des Fachgymnasiums eingeführt, die an die Stelle von Klausuren in einem Leistungsfach tritt. Diese Neuerung ist im Zusammenhang mit der Vereinbarung der Kultusministerkonferenz zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe vom 28. Februar 1997 zu sehen.2) In Anlehnung an diese Vereinbarung wird die Zielsetzung der Arbeit in der gymnasialen Oberstufe und im Fachgymnasium mit den Begriffen "vertiefte Allgemeinbildung", "allgemeine Studierfähigkeit" und "Wissenschaftspropädeutik" beschrieben. Eine eigens vom Niedersächsischen Kultusministerium eingesetzte Kommission erarbeitete im Hinblick auf die sog. Facharbeit "Hinweise und Empfehlungen für die Schulen",3) die die Gymnasiallehrer wie auch die Universitätsbibliothek, die übrigens nicht zum Amtsbereich des Kultusministeriums gehört, fast 'kalt erwischten'.

Dabei hatte sich die Technische Universität Braunschweig schon seit Jahren den angehenden Absolventen der Gymnasien Braunschweigs und der Braunschweiger Region durch entsprechende Informationsangebote (Stichworte: Schnupperstudium, fachspezifische Informationsveranstaltungen in der Hochschule oder durch einzelne Hochschullehrer in einzelnen Gymnasien) zugewandt. Auch wenn es vorrangig um praktische Hilfen bei der Studien- und Berufswahl geht - so ganz uneigennützig war und ist dieses Engagement natürlich nicht. Angesichts rückläufiger Studierendenzahlen in manch einem Studiengang wetteifern die Hochschulen um jeden Studenten, um jede Studentin. Als Heimvorteil erweist sich dabei die nachlassende Mobilität der Studenten. Wenn es das Fächerangebot zuläßt, studiert man immer öfter am liebsten an der Universität direkt vor der Haustür.

Es liegt auf der Hand, daß auch die Universitätsbibliotheken mit ihren spezifischen Informationsangeboten ihren Part in diesem universitären Informations-Konzert spielen können, spielen sollen. Die Universitätsbibliothek Braunschweig hatte schon seit langem Schülern unter gewissen Voraussetzungen als sog. Stadtbenutzer die Benutzung ihrer Bestände ermöglicht. Angesichts der oben skizzierten Nachfrage und in vollem Einklang mit der von der Hochschule und ihrer Leitung gewünschten und praktizierten Informationspolitik den Gymnasien gegenüber ergriff die Universitätsbibliothek Braunschweig nun aber die Initiative.

So wurden zu Jahresbeginn die Schüler der Sekundarstufe II der Gymnasien Braunschweigs und der Braunschweiger Region auf die Informationsangebote der Universitätsbibliothek und ihre unentgeltliche Nutzungsmöglichkeit hingewiesen. Darüber hinaus informierte der Direktor der UB die Leiter dieser Gymnasien in einem Schreiben über ein neues Informationsangebot speziell für die Leistungskurse der Jahrgangsstufe 12, in denen eben jene selbständige wissenschaftspropädeutische Arbeit angefertigt wird.

Dieses Angebot sieht für die angesprochenen Schülergruppen a) eine allgemeine Einführung in die Benutzung einer wissenschaftlichen Bibliothek im Rahmen einer Führung durch die UB, b) eine Einführung in die Literatur sowie die Informationsmittel des jeweiligen Faches durch die Fachreferenten der UB (sog. Fachführung) und c) eine kombinierte Blockveranstaltung aus a) und b) vor. Um es vorwegzunehmen: die Resonanz war überwältigend. Während eine Reihe von Kursen nur eine allgemeine Einführung nach a) wählte, entschieden sich die meisten Gymnasiallehrer für die kombinierte Blockveranstaltung nach c). So wurden seit Anfang Februar innerhalb von sieben Wochen aus 14 Gymnasien 43 Leistungskurse mit insgesamt 620 Schülern in die Benutzung der UB eingeführt und durch die Fachreferenten der UB in crash-Kursen mit den Informationsmitteln der jeweiligen Fächer vertraut gemacht.4)

Die Leistungskurse kamen von nah und fern (weiteste Entfernung ca. 50 km). Einige Lehrer hatten den Hinweis auf das Schulungsangebot der UB von Kollegen erhalten, andere waren von den jeweiligen Schulleitungen hierauf aufmerksam gemacht worden. Einige Gymnasien ließen ihre Leistungskurse komplett schulen. Dies stellte die UB gelegentlich vor Raum- und Personalprobleme, so daß die Kurse eines Gymnasiums auf mehrere Tage verteilt geschult werden mußten. Daß die Personalkapazität und hier insbesondere die der wissenschaftlichen Bibliothekare (der Fachreferenten), von denen die Hauptlast der Schulungen getragen wurde, den limitierenden Faktor darstellte, war von vornherein klar. Da für die Schulungen kein zusätzliches Personal zur Verfügung stand und der Routinebetrieb in der Bibliothek weiterlief, war das Vorhaben nur durch eine klare Prioritätensetzung realisierbar. Die Vorgaben der Direktion waren entsprechend eindeutig und wurden zügig umgesetzt.

Die Koordination lag in den Händen des Leiters der Informationsabteilung, der als Fachreferent selbst auch maßgeblich an den 'Fachführungen' beteiligt war. Bei ihm liefen die Anfragen der Gymnasien ein. Er arrangierte die Termine für die Fachführungen mit den jeweiligen Fachreferenten und gab die Termine an eine Mitarbeiterin der Informationsabteilung weiter, um die für die allgemeinen Führungen notwendigen Absprachen in der Bibliothek treffen zu lassen. Den Gymnasiallehrern bzw. Gymnasien wurden dann die Termine durch den Leiter der Informationsabteilung per Fax oder E-Mail verbindlich bestätigt. Dieses Verfahren hat sich durchweg bewährt.

Die allgemeinen Führungen (Dauer jeweils ca. 45 Minuten) wurden von Diplom-Bibliothekarinnen und wissenschaftlichen Bibliothekaren, sofern letztere nicht an den Fachführungen beteiligt waren, nach Möglichkeit vor den Fachführungen durchgeführt. Die Führenden rekrutierten sich aus einer Gruppe von ca. 30 Personen, die möglichst gleichmäßig zu Führungen herangezogen werden. Die Führungen beinhalteten die allgemeine Einführung in die Bibliotheksbenutzung, Aufstellung der Bibliotheksbestände in Lesesälen, Freihand-Magazin und Magazin, Benutzungsmöglichkeiten dieser Bestände, allgemeine OPAC-Einführung, Hinweise auf Nutzungsmöglichkeiten von Datenbanken, Fernleihe usw.

Bei der sich meist nach einer kurzen Pause direkt anschließenden Einführung in die Literatur sowie Informationsmittel des jeweiligen Faches waren die Fachreferenten bemüht, auch auf das jeweilige Kursthema einzugehen. Mit ca. 60 Minuten war die Zeit hierfür sicherlich knapp bemessen. Jedoch schien eine längere Schulung aufgrund der Zeitvorgaben der Gymnasien wie auch aufgrund der Terminierung der Facharbeit auf sechs Wochen und des damit verbundenen Zeitdrucks für die Schüler in diesem Rahmen nicht realisierbar. Die durchweg positiven bis überschwenglichen Rückmeldungen bestätigen diese Einschätzung.

Der Zeitrahmen von 60 Minuten verlangte natürlich von den Fachreferenten eine strikte didaktische Reduktion des Stoffes. Neben Hinweisen auf wichtige fachliche Nachschlagewerke und Enzyklopädien und deren Gebrauch stand die Sachrecherche im OPAC sowie die Sachrecherche in einschlägigen (CD-ROM-)Datenbanken im Vordergrund. Unerwarteter Nebeneffekt: da Fachreferenten (wie meist alle Bibliothekare) weniger im OPAC als vielmehr im zentralen Verbundkatalog recherchieren, wurden durch das Eingehen auf die Benutzersicht spezifische Benutzerprobleme bei der OPAC-(Sach-)Recherche deutlich. Umgehend wurde eine Arbeitsgruppe etabliert, die die erkannten Probleme zügig angehen und damit die Attraktivität und Akzeptanz des OPAC steigern wird.

Nach dieser ersten Runde der Benutzerschulung für Gymnasien, die im Herbst sicherlich eine Fortsetzung finden wird (bereits heute liegen entsprechende Anmeldungen bis zum Januar 2000 vor!), stellt sich die Frage, ob sich der Aufwand gelohnt hat. Die bereits erwähnten und für Bibliotheken ungewohnten und überschwenglichen Rückmeldungen sprechen für sich. Die Universitätsbibliothek hat damit einen wichtigen Beitrag zur öffentlichkeitswirksamen Arbeit der Universität geleistet, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universität Beachtung findet.

Mangelnde Studierfähigkeit der Studierenden wird oft beklagt. Mit ihrem hier skizzierten und weiter zu entwickelnden Service-Angebot hat die Universitätsbibliothek Braunschweig unter maßgeblicher Beteiligung der wissenschaftlichen Bibliothekare, die sich ihrer zentralen Aufgabe der Außen- oder Benutzerorientierung gestellt haben, vermutlich nicht wenigen zukünftigen Studienanfängern der TU Braunschweig den Weg zu den Informationsmitteln der Bibliothek erleichtert, bestehende Hemmschwellen bei der Literatursuche in einem frühen Stadium reduziert oder gar abgebaut. Dies dürfte sich in vielfältiger Weise (nicht nur für die Bibliothek) auszahlen.

 
"Die Bibliothek mit ihren Mitarbeitern muß lernen, zu einer Denkweise vom Nutzer her zu gelangen, man [muß] ... die Sichtperspektive von Innen nach Außen um 180° drehen in eine Sicht von Außen nach Innen - man [muß] quasi im Kopf des Nutzers spazierengehen...", referiert Beate Tröger über ein Kolloquium in Düsseldorf.5) Dezidierte Nutzerorientierung, klare Positionierung in der akademischen und nicht-akademischen Öffentlichkeit und wachsende Sensibilisierung für die hieraus resultierenden innerbibliothekarischen Strukturveränderungen - "Perspektivenwechsel...als zentrale Anforderung an Bibliotheken .. Selbstzweckfunktionen ... [kann] sich ... keine Bibliothek mehr erlauben."6) Daß die wissenschaftlichen Bibliothekare als 'ehemalige' Benutzer von Universitätsbibliotheken besonders aufgefordert und prädestiniert sind, diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen, liegt auf der Hand.

Helmut Oehling hat in letzter Zeit ebenfalls nachdrücklich diese Außenorientierung des wissenschaftlichen Bibliothekars gefordert und vor dem fachwissenschaftlichen Hintergrund Chemie eine Facette gezeichnet.7) Das skizzierte Braunschweiger Beispiel mag als weitere Facette gelten. Die wissenschaftlichen Bibliothekare jedenfalls sind aufgerufen, vor dem Hintergrund ihrer spezifischen wissenschaftlichen Ausbildung mit ihrer individuellen Kreativität und im jeweils vorgegebenen Rahmen der Institution Bibliothek weitere Facetten zu entwickeln und damit zu einer individuellen, vielfältigen Ausprägung des Berufsbildes des wissenschaftlichen Bibliothekars beizutragen. Der wissenschaftliche Dienst der Universitätsbibliothek wird damit in der Hochschullandschaft an Konturen und Bedeutung gewinnen.
 

1) In einer Mitteilung an die INETBIB-Liste wurde am 10.2.99 auf 'Fundus', die "größte deutschsprachige Hausaufgaben-Datenbank im Internet" für Schüler hingewiesen, die "über 2000 Referate von Schülern für Schüler" beinhalte. In Schülerkreisen sind derartige Internetangebote wohlbekannt. Doch sind diese Referate-Datenbanken eine wirkliche Hilfe in Informationsnöten? So ganz seriös schien aber selbst dem Verfasser der Mitteilung der Rückgriff auf diese Referate-Sammlung nicht zu sein: die Schüler bräuchten ja nicht gleich abzuschreiben, sie könnten die Referate ja als zusätzliche Quelle benutzen. Wie fragwürdig diese Informationsangebote sind, zeigt nicht nur ein stichprobenartiger Blick in diese Referate-Sammlungen, sondern auch die Übertragung eines derartigen 'Informations'-Angebotes auf Universitätsbibliotheken. Wer würde z.B. allen Ernstes in Erwägung ziehen, ratsuchende Studenten mit Hinweisen auf Referatesammlungen oder Lösungssammlungen zu Klausuraufgaben zu 'bedienen'?

2) Meinem Kollegen Dr. Helmut Oehling von der UB Stuttgart verdanke ich den Hinweis auf entsprechende Neuerungen in Baden-Württemberg. So gibt es unter Bezug auf die angesprochene KMK-Vereinbarung für Gymnasien in Baden-Württemberg einen Erlaß des zuständigen Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport über eine "Besondere Lernleistung in Form eines Seminarkurses", der bereits zur Nachfrage von entsprechenden Informationsangeboten der UB Stuttgart führte. Helmut Oehling hat in dieser Zeitschrift darüber berichtet. Helmut Oehling: Die aktive Fachinformation als Herausforderung und Chance für den Wissenschaftlichen Bibliothekar. Modell einer Benutzerschulung an der Fakultät Chemie der Universität Stuttgart. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998) H.10, S. 1728-1733, hier S. 1731.

3) Veröffentlicht im Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen (SVBL) 1/98, S. 22-29.

4) Spitzenreiter waren dabei die Fächer Englisch, Biologie und Erdkunde, mit deutlichem Abstand gefolgt von Deutsch, Chemie, Mathematik, Physik, Politik, Geschichte und Französisch.

5) Beate Tröger: Risikostreuung oder Mittelkonzentration? Marketing und Controlling in Wissenschaftlichen Bibliotheken. In: BIBLIOTHEKSDIENST 32 (1998) H. 12, S. 2086-2095, hier S. 2088.

6) Ebd. S. 2094.

7) z.B. Helmut Oehling, a.a.O.


Stand: 07.05.99
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