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BIBLIOTHEKSDIENST Heft 4, 99

Elektronische Zeitschriften in der überregionalen Literaturversorgung

Heinz-Peter Berg, Hildegard Schäffler, Madeleine Schröter

In ihrem Memorandum "Weiterentwicklung der überregionalen Literaturversorgung"1) von 1998 definiert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) neue Anforderungen und Dienstleistungen für das System der überregionalen Literaturversorgung, die sich aus dem schnellen Wandel der Informationstechnik und neuen Kommunikations- und Publikationsformen ergeben. Da diese Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Literatur- und Informationsversorgung hat, werden wissenschaftliche Bibliotheken aufgerufen, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen und insbesondere SSG-Bibliotheken, Zentrale Fachbibliotheken und Spezialbibliotheken dazu angehalten, entsprechende Dienstleistungen in ihren überregionalen Sammelauftrag einzubeziehen.

In dem auf zwei Jahre angelegten Gesamtprojekt "Elektronische Zeitschriften in der überregionalen Literaturversorgung" sollen Konzepte und Modelle entwickelt werden, die elektronische Zeitschriften, das derzeit am stärksten wachsende Segment auf dem Markt elektronischer Medien, in die überregionale Literaturversorgung einbinden.

Folgende Bibliotheken sind mit jeweils einem eigenen Teilprojekt beteiligt:

Im folgenden werden die Teilprojekte kurz skizziert:

Überregionale Bereitstellung elektronischer Zeitschriften im Bereich geisteswissenschaftlicher Sondersammelgebiete (Bayerische Staatsbibliothek München)

Auf der Basis des eingangs zitierten Memorandums der DFg steht die Bayerische Staatsbibliothek als Sondersammelgebietsbibliothek nicht nur in der Pflicht, elektronische Medien in ihr Sammelspektrum zu integrieren, sondern muß auch ein Konzept entwickeln, wie sie den überregionalen Zugriff auf die Titel gewährleisten kann. Diese Erweiterung des SSG-Auftrags erfordert insbesondere die Erarbeitung spezieller Lizenzmodelle und die Einrichtung eines Systems abgestufter Zugriffsregelungen für regionale und überregionale Benutzer. Als Grundlage für einen Modellversuch im Rahmen des Münchner Teilprojekts2) dienen elektronische Zeitschriften in den geisteswissenschaftlichen SSG-Fächern Vor- und Frühgeschichte (SSG 6,11), Klassische Altertumswissenschaft (SSG 6,12), Geschichte (Allgemeines, Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Italien; SSG 8; 8,1; 8,2) und Musikwissenschaft (SSG 9,2).

Der erste Arbeitsschritt, der sich gleichzeitig über die gesamte Projektzeit hin erstreckt, besteht in der Sichtung des Marktangebots in den genannten SSG-Fächern. Bei der Titelauswahl müssen dabei spezifische Merkmale elektronischer Zeitschriften, wie z. B. die Auflösung der konventionellen Zeitschriftenstruktur oder die potentielle Flüchtigkeit des Materials, Berücksichtigung finden. Die bisherigen Ergebnisse der Marktanalyse zeigen, daß der Titelumfang in den ausgewählten Fächern auf absehbare Zeit einige Hundert nicht übersteigen wird. Zudem zeichnen sich geisteswissenschaftliche Zeitschriften durch einen relativ hohen Prozentsatz genuin elektronischer und vielfach auch kostenloser Titel eines heterogenen Anbieterkreises aus.

Der zweite Arbeitsschwerpunkt befaßt sich mit der Erschließung und Bereitstellung der ausgewählten elektronischen Zeitschriften auf Titel- und Aufsatzebene. Die Daten werden derzeit in einer autonomen Datenbank erfaßt, die mit dem zukünftigen lokalen Bibliothekssystem der Bayerischen Staatsbibliothek kompatibel ist. Hintergrund dieser Entscheidung ist die Zielsetzung, elektronische Zeitschriften mittelfristig im lokalen Bibliothekskatalog durch Katalogisierung in der ZDB nachzuweisen und die derzeit noch separat vorgehaltenen Daten in den lokalen Katalog zu überführen. Auf der Testdatenbank setzt ein webfähiger OPAC auf, aus dem heraus sich Internet-Adressen aktivieren lassen. Für die tiefere formale und sachliche Erschließung sollen Möglichkeiten des Fremddatenimports und der automatischen Indexierung getestet werden.

Die Verpflichtung zur überregionalen Literaturversorgung im oben beschriebenen Sinne erfordert lizenzrechtlich neue Lösungsansätze, wobei sich insbesondere das Modell berechneter Einzelzugriffe auf Aufsatzebene für nicht-lokale Benutzer anbietet. Die Bibliothek kauft dabei entweder im Vorgriff auf die potentielle Nutzung des Angebots ein bestimmtes Kontingent von Zugriffsberechtigungen, die sie an externe Benutzer weiterreicht, oder rechnet in regelmäßigen Abständen die tatsächlich erfolgten Zugriffe einzeln mit den Anbietern bzw. einer Agentur ab. Offen ist derzeit das Kostenmodell für die überregionale Einzelnutzung. Hier gilt es auf der Basis der Projektergebnisse zusammen mit der DFG ein Finanzierungsmodell zu entwickeln. Die überregionale Bereitstellung elektronischer Aufsätze setzt schließlich die Entwicklung von Authentifizierungs- und Autorisierungsmechanismen voraus, die externen Nutzern den Einzelzugriff auf digitale Volltexte im Rahmen des oben skizzierten Lizenzmodells erlauben.

Nähere Informationen zum Münchner Teilprojekt finden sich auch auf der Homepage der Bayerischen Staatsbibliothek unter <http://www.bsb.badw-muenchen.de/projekt/ejour.htm>. Darüber hinaus werden erste Ergebnisse in ZfBB 2/1999 und Bibliotheksforum Bayern 1/1999 veröffentlicht.

EZUL (Technische Informationsbibliothek Hannover)

Die Aufgabe der TIB, Anfragen aus dem In- und Ausland nach Dokumenten aus den Bereichen Technik, Ingenieurwissenschaften und deren Grundlagenfächer zu erledigen, soll nicht mehr nur durch Bereitstellung konventioneller Medien, sondern auch und gerade durch elektronische Publikationen erfolgen. Zu diesem Zweck wurde im November 1998 an der TIB mit der Planung und Organisation des Projektes EZUL begonnen. In dessen Rahmen sind modellhafte Lösungen für ein kostenpflichtiges Angebot von Aufsätzen elektronischer Zeitschriften zu entwickeln, die Zugriffsmöglichkeiten für Benutzer aus dem gesamten Bundesgebiet erlauben. Hierzu ist die entsprechende technische, lizenzrechtliche und administrative Infrastruktur zu schaffen; dies erfordert:

Unter der Oberfläche PiCarta wird die Verknüpfung von bibliographischen Nachweisen und Volltexten realisiert; zugleich bietet PiCarta dem Benutzer die Möglichkeit einer Recherche, differenziert nach verschiedenen Materialarten. Er kann zwischen kostenfreien Leseproben, hierzu zählen abstracts und Inhaltsverzeichnisse, und kostenpflichtigen Dokumenten, den Zeitschriftenaufsätzen im Volltext, wählen. Für den Aufbau der Nachweisdatenbank und die Bereitstellung der Volltexte müssen verschiedene Standards definiert werden, z. B. Datenstruktur und Feldinhalte, Datenformat, Verfahren zum Datentransfer, Aktualisierung des Datenbestandes etc.

Der Zugang zum Nachweissystem erfolgt über Standard-Web-Browser und ist ohne login möglich. Erst bei Anforderung kostenpflichtiger Dokumente muß sich der Benutzer anmelden, und zwar im Zugangssystem, wo die Registrierung des Benutzers und die Prüfung von dessen Zugangsberechtigung erfolgt. Im Abrechnungssystem wird die Verrechnung kostenpflichtiger Dokumente realisiert, wobei die TIB sowohl die Abrechnung mit den Benutzern als auch mit den Verlagen übernimmt. Für die benutzerseitige Abrechnung werden deposit accounts bereitgestellt; als weitere Zahlungsarten kommen die Bezahlung per Kreditkarte oder Bankeinzug in Betracht.

Der Aufbau aller für das Projekt notwendigen Komponenten erfolgt unter Einbindung bereits bestehender bzw. in Entwicklung befindlicher Systeme; so wird für die Abrechnung die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibliothek konzipierte DoD-Station eingesetzt, die freilich um die für den EZUL-Service notwendigen Funktionalitäten erweitert werden muß.

Neben der technischen Plattform ist die lizenzrechtliche zu schaffen: Ausgangsbasis bilden die von der TIB subskribierten Zeitschriftentitel. Die TIB steht derzeit mit vier Verlagen in Verhandlungen und ist bestrebt, weitere Verlage in das Projekt einzubinden. Aufgabe der Projektpartner ist die Lieferung bibliographischer Aufsatzdaten, die Bereitstellung der Volltextdokumente und der statistischen Daten über angeforderte Dokumente. Bei der Lizenzadministration sind Art und Umfang zulässiger Nutzungshandlungen sowie die Höhe der Lizenzgebühr festzulegen. Im Umgang mit Aufsätzen elektronischer Zeitschriften werden die Bildschirmansicht, der Ausdruck und, im Rahmen urheberrechtlicher Bestimmungen, die mit der Speicherung der Dokumente notwendig verbundenen Handlungen zulässig sein. Da bereits bestehende Lizenzverträge nur eine campusweite Bereitstellung elektronischer Zeitschriften erlauben, müssen die für ein über das autorisierte Gelände hinausgehendes Nutzungsangebot erforderlichen Rechte bei den Verlagen eingeholt werden.

Schließlich ist ein Kostenmodell für den geplanten Service zu entwickeln: Basierend auf dem pay per view-Ansatz fallen für den Benutzer Kosten an, die sich nach der Anzahl der Dokumentanforderungen bemessen: Jeder Dokumentabruf ist kostenpflichtig, wobei die von den Dokumentanbietern festgelegten Preise, ergänzt um einen Servicezuschlag, von der TIB an den Benutzer weitergegeben werden.

Attraktiv wird das geplante Angebot für Informationssuchende gleich aus mehreren Gründen, denn es ermöglicht einen subskriptionsunabhängigen und räumlich unbegrenzten Zugang zu elektronischen Zeitschriften, ohne daß sich der Informationssuchende mit den Einzelheiten anbieterspezifischer Lizenz- und Nutzungsbedingungen auseinandersetzen muß. Er erhält vielmehr einen Volltextservice aus einer Hand. Durch dieses bedarfsgerechte und zugleich differenzierte Angebot, das den freien Zugang vom Arbeitsplatzrechner des Benutzers zu verteilt liegenden Informationen eröffnet, kann der Bedarf nach schneller Information befriedigt werden. Der geplante EZUL-Service ist ein Baustein der TIB, sich auch im Bereich elektronischer Medien als verläßliches Kompetenzzentrum überregionaler Literaturversorgung zu etablieren.

Weitere Informationen zum Hannoverschen Teilprojekt finden Sie unter: <http://www.tib.uni-hannover.de/allginfo/ezul.htm>

ACCELERATE (Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf)

Im Gegensatz zu den beiden Partnerbibliotheken ist die ULB Düsseldorf nicht für die Spitzenversorgung zuständig, sondern stellt die Grundversorgung ihrer universitären Nutzer mit Zeitschriftenliteratur sicher. Für Wünsche nach hochspezieller Forschungsliteratur bedient sie sich aber der Angebote der überregionalen Literaturversorgung. Deshalb bietet es sich an, hier den Kontext der Grund- und Spitzenversorgung unter dem Gesichtspunkt der Nutzung durch die Endanwender zu untersuchen.

Ob ein Titel der Spitzen- oder Grundversorgung zuzurechnen ist, richtet sich in erster Linie danach, wie stark er von der Wissenschaftsseite nachgefragt wird. ACCELERATE (=ACCess to ELEctronic liteRATurE) untersucht daher, wie das Angebot an elektronischen Zeitschriften an einer Universitätsbibliothek von Wissenschaftlern und Studierenden akzeptiert und genutzt wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zeitschriften, für die die ULB Düsseldorf bereits Lizenzen besitzt (lokal oder konsortial). Überregional angebotene Titel der beiden Partnerprojekte kommen im Laufe des Projektes hinzu.

Die Untersuchung soll zeigen, inwieweit Kriterien wie Qualität, Anbieter, Preis, Wissenschaftsgebiet, Vorhandensein des Print-Abos u. a. die Nutzung elektronischer Zeitschriften beeinflussen und wie Grund- und Spitzenversorgung im Hinblick auf elektronische Zeitschriften zu definieren sind.

Neben verschiedenen DV-technischen Methoden zur Ermittlung der elektronischen Nutzung kommen auch konventionelle Befragungen zum Einsatz, um Aufschluß über Bedürfnisse, Erwartungen und Kritik der Endanwender zu erhalten.

Voraussetzung für ein derartiges Projekt ist ein breites Angebot, das darüber hinaus innerhalb der Universität auch bekannt sein muß. Mit knapp 2.800 elektronischen Zeitschriften verfügt die ULB Düsseldorf mittlerweile über einen Bestand, der repräsentative Aussagen zu den verschiedenen Kriterien zuläßt. Mit einer Reihe von Werbemaßnahmen wird versucht, den Bekanntheitsgrad weiter zu steigern und damit die Aussagekraft der Untersuchungen noch zu erhöhen.

In einem ersten Schritt wurden alle lokal gehaltenen, elektronischen Zeitschriften nach der Systematik der ULB Düsseldorf erschlossen, und das Gesamtangebot erhielt eine eigene Seite im Rahmen der Düsseldorfer Virtuellen Bibliothek. Auf Titelebene ist eine Recherche über den WWW-OPAC möglich, auf Artikelebene muß auf die Dienste der einzelnen Anbieter zurückgegriffen werden. Es ist geplant, im Laufe des Projektes auch die Integration auf Artikelebene zu erreichen und den direkten Zugriff von einer Literaturrecherche auf den Volltext zu ermöglichen.

Zur eigentlichen Untersuchung der Nutzung wurde eine Methode zur LogFile-Analyse entwickelt, die es ermöglicht, die Nutzung der wichtigsten Anbieter mit der maximal möglichen Genauigkeit zu messen. Erste Ergebnisse auf Titelebene zeigen ähnliche Strukturen, wie sie seit längerem schon von Untersuchungen aus dem Print-Bereich bekannt sind, d. h. wenige Titel im hohen Nutzungsbereich, aber weit über die Hälfte mit sehr wenig Nutzungen. Die entwickelte Methode ist allen Untersuchungsmethoden aus dem Print-Bereich weit überlegen und ermöglicht zum ersten Mal auch Aussagen zum Nutzerverhalten unterhalb der Titelebene.

Angesichts der sich weiter öffnenden Schere zwischen Zeitschriftenpreisen und Bibliotheksetats sollen die Projektergebnisse schließlich auch zu neuen, flexiblen Modellen der Zeitschriftenversorgung führen, die Print-Abonnements, elektronische Zeitschriften, pay-per-view-Modelle und konventionelle Dokumentlieferung nebeneinander stellen.

Nähere Informationen zum Düsseldorfer Teilprojekt finden Sie im folgenden Beitrag sowie auf den Internet-Seiten der ULB Düsseldorf unter: <http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/ulb/acc_home.html>

1) Deutsche Forschungsgemeinschaft: "Weiterentwicklung der überregionalen Literaturversorgung: Memorandum." In: ZfBB 45:2 (1998), 135-164.

2) Das Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren (1.4.1998-31.3.2000) und ist in der Erwerbungsabteilung angesiedelt.


Stand: 08.04.99
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